Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
Erschienen am 27.06.2024:
Heterogenität, Personalmangel, soziale Disparitäten
Ergebnisse des Nationalen Bildungsberichts 2024

Am 17. Juni 2024 wurde der zehnte Nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2024“ veröffentlicht. Der Bildungsbericht wird alle zwei Jahre auf Basis von amtlichen Statistiken sowie sozialwissenschaftlichen Daten und Studien durch eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftler*innen unter Federführung des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation erstellt. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit dem Sprecher der für den Bildungsbericht verantwortlichen Gruppe von Wissenschaftler*innen, Professor Dr. Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, über wesentliche Befunde des Berichts und die Herausforderungen, vor denen das deutsche Bildungssystem steht.
Online-Redaktion: Sie haben vor Kurzem gemeinsam mit Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und KMK-Präsidentin Christine Streichert-Clivot den Bericht „Bildung in Deutschland 2024“ vorgestellt. Was sind seine zentralen Ergebnisse?
Maaz: Der Nationale Bildungsbericht zielt als einziges Monitoringinstrument nicht auf einen bestimmten Bildungsbereich, sondern auf den gesamten Bildungsverlauf ab. Wir haben versucht, einzelne Ergebnisse in übergreifenden Entwicklungslinien zusammenzufassen, die sich durch alle Bildungsbereiche ziehen. Eine bereichsübergreifende Entwicklung ist, dass die Ausgaben für Bildung in den letzten Jahren gestiegen sind. Das ist durchaus positiv, aber nur zum Teil durch bewusstes Entscheiden entstanden, denn gemessen am Bruttoinlandsprodukt gab es in den letzten Jahren nur eine Steigerung von 0,2 Prozentpunkten. Das heißt, die Steigerung auf 264 Milliarden Euro, die wir jetzt haben, lässt sich im Wesentlichen durch die gute wirtschaftliche Lage vor Corona und durch die Inflation erklären. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung nach Corona, kann man davon ausgehen, dass die Ausgaben wieder sinken werden.
Eine zweite Linie ist, dass sich die Heterogenität im Bildungssystem vergrößert. Kinder und Jugendliche bringen beim Eintritt in die Bildungseinrichtungen unterschiedliche Ausgangsvoraussetzungen mit, da sie zum einen schon in ihren ersten Lebensjahren in den Familien unterschiedlich gefördert werden, es zum anderen im Jahr 2022 eine sehr hohe Zuwanderung gab. Auch der Anteil der Schulabgänger*innen ohne Schulabschluss hat sich wieder erhöht. Das ist insbesondere für das berufliche Bildungssystem relevant, wenn wieder mehr junge Menschen in berufsvorbereitende Maßnahmen gehen.
Online-Redaktion: Hängen der Zugang zu Bildung und die Kompetenzen in Deutschland nach wie vor stark von der sozialen Herkunft ab?
Maaz: Ja, diesen sehr beständigen Befund ausgeprägter sozialer Disparitäten haben wir über alle Bildungsbereiche hinweg. Dazu kommen regionale Disparitäten, denn Bildungsangebote variieren teilweise auch zwischen den Regionen. So gibt es beispielsweise nicht in jeder Gegend für junge Menschen die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu beginnen oder zwischen unterschiedlichen Berufen zu wählen. Wesentliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern bestehen etwa beim neuen Unterrichtsfach Informatik, das hier als Pflicht-, dort als Wahlpflichtfach umgesetzt wird. Auch bei der Integration von eingewanderten Schüler*innen und in der Art und Weise, wie die Sprachstandserhebungen bei Kindern vor Schuleintritt umgesetzt werden, bestehen große Abweichungen.
Online-Redaktion: Die Kinder kommen schon mit sehr großen Leistungsunterschieden in die Grundschule. Ließe sich diese individuelle Heterogenität schon vor dem Eintritt in die Schule reduzieren?
Maaz: Wenn die Sprachstandserhebungen, die in vielen Ländern etwa mit viereinhalb Jahren durchgeführt werden, bei diagnostiziertem Förderbedarf obligatorische Förderungen nach sich zögen, dann könnte man zumindest ein Jahr lang die Kinder noch einmal unterstützen. Damit könnten sie in der deutschen Sprache ein Kompetenzniveau erreichen, was ihnen ermöglicht in der Schule mitzukommen. Die Umsetzung einer solchen Förderung wird allerdings auch dadurch erschwert, dass es große Unterschiede in der Bildungsbeteiligung der Drei- bis unter Fünfjährigen gibt. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund besuchen seltener eine Einrichtung, der Anteil der Fünf- bis Sechsjährigen ist in den letzten Jahren sogar zurückgegangen. D.h., wir müssen einerseits versuchen, hinreichend qualitative Angebote zur Verfügung zu stellen und andererseits die Familien davon überzeugen, dass es für ihre Kinder gut und richtig ist eine Kindertagesstätte (Kita) zu besuchen. Wenn wir das nicht schaffen, nützen die besten Angebote nichts.
Online-Redaktion: In vielen Kulturen kennt man die Kita nicht. Wahrscheinlich wäre es wichtig, den Eltern näherzubringen, wie wertvoll der Besuch der Kita für ihre Kinder sein kann, gerade wenn sie noch die neue Sprache erlernen müssen.
Maaz: Richtig, das macht meines Erachtens gut darauf aufmerksam, dass Fragen in der frühen Bildung nicht ausschließlich bildungspolitisch, sondern auch familien- und sozialpolitisch diskutiert werden müssen. Um die Familien zu erreichen, könnten beispielsweise Familienzentren - das sind Angebote der Kinder- und Jugendhilfe, die es in einigen Bundesländern gibt - zu wichtigen Anlaufpunkten für Familien mit Migrationshintergrund ausgestaltet werden. Dort könnte man sie davon überzeugen, wie wichtig der Besuch der Kita für ihr Kind ist.
Online-Redaktion: Sie haben bei der Veröffentlichung des Bildungsberichts davon gesprochen, dass es angesichts der vielschichtigen Herausforderungen für das Bildungssystem wichtig wäre, „bereichsübergreifend alle Aktivitäten und Ressourcen klug, kohärent und nachhaltig miteinander zu verzahnen“. Was heißt das konkret?
Maaz: In der frühen Bildung würde es bedeuten, nicht nur Kitaplätze auszubauen und Erzieher*innen zu qualifizieren, sondern zu überlegen, wie Familien adressiert werden können. Das beträfe dann nicht mehr ausschließlich die Bildungspolitik, sondern auch die Familienpolitik. Auch im Schulbereich liegen Hort und Ganztag nicht ausschließlich in der Verantwortung der Schulen, sondern auch in der Verantwortung der Kinder- und Jugendarbeit. Auch hier müsste es zwischen den zuständigen Behörden engere Austausch- und Abstimmungsmöglichkeiten geben. Sinnvoll wäre auch ein Informationsfluss zwischen Schule und dem Übergangssektor zur beruflichen Bildung. Es gibt bereits viele und gute Angebote, doch sie sind oft nicht gut koordiniert oder aufeinander abgestimmt. Es fehlt ihnen an Stringenz und Kohärenz.
Online-Redaktion: Knapp 18 Millionen Menschen haben 2022 eine Bildungseinrichtung besucht, gut eine Million mehr als vor zehn Jahren. Auch wenn die Bildungsausgaben gestiegen sind, in welche Bereiche müsste deutlich mehr investiert werden?
Maaz: Mehr investieren müsste man ganz sicher im Bereich der frühen Bildung. Seit 2006 wurden zwar mehr als 10.000 neue Kitas in Deutschland errichtet und mit Personal ausgestattet, was eine ordentliche Leistung ist. Wir werden aber noch mehr brauchen, um den Bedarf zu decken, der in den Familien jetzt schon artikuliert wird. Wichtig ist auch, mit verbindlichen Regelungen dem Thema „Bildung“ in der Trias „Bildung, Betreuung, Erziehung“ stärkeres Gewicht zu geben. Das wird meines Erachtens nur mit entsprechenden Weiterqualifizierungen des Personals möglich sein. Auch im Ganztag wird mehr Personal benötigt, wenn ab 2026/27 der Rechtsanspruch für einen Ganztagsplatz in der Grundschule greift. Programme wie das Startchancen-Programm, das ab August 2024 gezielt Schulen in herausfordernden Lagen unterstützt, sollte es auch in der frühen Bildung und der beruflichen Bildung geben.
Online-Redaktion: In vielen Bildungsbereichen herrscht jetzt schon Personalmangel. Fachkräfte, die ihre Qualifizierung im Ausland erworben haben, scheitern oft am Anerkennungsverfahren. Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um mehr qualifiziertes Personal zu gewinnen?
Maaz: Hier muss man in verschiedenen Ebenen denken. Es braucht kurzfristige Maßnahmen, um den Bedarf, der jetzt im System besteht, zu decken. Und es muss mittel- und langfristig überlegt werden, welche strategischen Entscheidungen getroffen werden müssen. Nur 14 Prozent der im Ausland erworbenen Zertifikate, für die 2022 Anträge auf Anerkennung gestellt wurden, sind als voll gleichwertig anerkannt worden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat jetzt den Beschluss gefasst, in Zukunft auch Ein-Fach-Qualifikationen stärkeres Gewicht zu geben, so dass Lehrkräfte nach ihrem Studium nur ein und nicht zwei Fächer unterrichten werden. Das ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung.
Online-Redaktion: In Schulen wird der Lehrermangel zunehmend durch Quereinsteiger*innen behoben, die aber meist nicht pädagogisch ausgebildet sind. Wie wichtig ist eine Qualifizierung dieser Gruppe?
Maaz: Bundesweit sind ungefähr 12 Prozent der Neueinstellungen sogenannte Seiten- oder Quereinsteiger*innen, die keine grundständige Lehramtsausbildung haben. Im Ländervergleich haben wir eine Varianz zwischen 1 Prozent bis 53 Prozent, was sehr viel ist. Wenn Seiteneinsteiger*innen gut auf den Schuldienst vorbereitet und begleitet werden, spricht nichts dagegen, sie als Lehrkraft einzustellen. Wir haben zurzeit auch keine andere Möglichkeit. Es gibt allerdings große Unterschiede, was ihre Qualifikation angeht. Nur in einigen Bundesländern benötigen Seiteneinsteiger*innen einen Abschluss auf Masterniveau. In anderen Ländern ist der Anteil derjenigen, die einen Abschluss unter Masterniveau haben, größer als derjenigen mit Masterabschluss. Gerade in Zeiten des Mangels ist es wichtig, dass Kriseninterventionen nicht mit Deprofessionalisierungstendenzen einhergehen.
Online-Redaktion: Berufliche Bildung ist das Schwerpunktthema im Nationalen Bildungsbericht 2024. Welche Entwicklungen zeichnen sich hier ab?
Maaz: Wir haben das Thema sehr weit gefasst. Berufliche Bildung meint nicht nur die Berufsausbildung, sondern auch die hochschulische Bildung und die Weiterbildung im Beruf. Aber berufliche Bildung fängt schon bei der Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen an. Und da sehen wir, dass es zwar eine Reihe von Angeboten gibt, Jugendliche sich aber oftmals trotzdem nicht richtig informiert fühlen für die Wahl eines Berufes. Hier sollte kritisch hinterfragt werden, ob die vorhandenen Angebote wirken.
Online-Redaktion: Welche weiteren Befunde gibt es im Bereich der beruflichen Bildung?
Maaz: Wir sehen Probleme auf sehr vielen Ebenen: beim Eintritt in die Ausbildung, beim Durchhalten einer Ausbildung, beim Abschluss einer Ausbildung, auch beim Übertritt in eine Ausbildung aus Maßnahmen des Übergangssektors. Hier treten die sozialen Disparitäten sowie der Migrationshintergrund deutlich hervor, diese Jugendlichen müssen wir gut in den Blick nehmen.
Von denjenigen, die ohne einen Berufsabschluss ins Erwerbsleben starten, gelingt es vielen auf Facharbeiter- oder Helferniveau Berufsanstellungen zu finden, insbesondere in der Gastronomie und im Reinigungswesen. Doch das sind Branchen mit oftmals prekären Beschäftigungsverhältnissen. Und wenn der Arbeitsmarkt zunehmend weiter digitalisiert und spezialisiert wird, wird es ohne spezifische berufliche Qualifikationen auch hier schwieriger werden einem entsprechenden Erwerb nachzugehen. Kritisch ist die Gruppe, die weder in Ausbildung noch in einer Erwerbstätigkeit ist. Es muss gut überlegt werden, wie man für den unteren Qualifikationsbereich Anreize schafft und mit welchen Maßnahmen man dieser Zielgruppe Wege in eine Ausbildung, Qualifizierung oder eine entsprechende Erwerbstätigkeit eröffnen kann.
Es gibt aber auch positive Entwicklungen, nämlich dass es im gesamten Lebensverlauf Möglichkeiten gibt, Abschlüsse nachzuholen, zu korrigieren oder aufzuwerten. Hier kann man durchaus feststellen, dass sich das Bildungssystem in Deutschland in den vergangenen Jahren sehr deutlich geöffnet hat und einmal eingeschlagene Wege keine Einbahnstraßen sind.
Prof. Dr. Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Direktor der Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“ in Frankfurt am Main/Berlin, ist zugleich Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schwerpunktthemen: Bildungsbiografien und Übergangsentscheidungen, Bildungsreformen, Entwicklung des Bildungssystems, Schulentwicklung und soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Sprecher der Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung seit 2014.
Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 27.06.2024
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Links zum Thema
- Bericht: Bildung in Deutschland 2024
- Bildung in Deutschland 2024
- Stark-Watzinger/Streichert-Clivot zum Nationalen Bildungsbericht
- Das Bildungssystem arbeitet am Anschlag und steht unter großem Anpassungsdruck
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