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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 01.09.2022:

„Wir haben in allen Bildungsbereichen einen Fachkräftemangel.“

Der Bildungsbericht 2022 zeigt Stärken und Schwächen des deutschen Bildungssystems auf
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Prof. Dr. Kai Maaz

Am 23. Juni wurde der Bericht „Bildung in Deutschland 2022“ gemeinsam von der Kultusministerkonferenz (KMK), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation veröffentlicht. Der Bildungsbericht erscheint im Zweijahresrhythmus und beschreibt die Gesamtentwicklung des deutschen Bildungswesens. Das Schwerpunktkapitel widmet sich dieses Jahr dem Bildungspersonal. Der Bericht wurde unter Federführung des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation von einer wissenschaftlichen Autor*innengruppe erstellt. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Prof. Dr. Kai Maaz, dem Sprecher der Autor*innengruppe, über die Ergebnisse des Berichts, den Einfluss der Corona-Pandemie auf den Bildungsbereich und die aktuellen Herausforderungen in der Bildungspolitik.

Online-Redaktion: Ende Juni ist der Bildungsbericht 2022 erschienen. Was sind seine zentralen Ergebnisse?

Maaz: Ein zentraler Befund lässt sich aus dem Schwerpunktkapitel „Bildungspersonal“ herleiten: In allen Bildungsbereichen besteht ein Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren noch verschärfen und zur Schlüsselherausforderung werden wird. Der Personalmangel wird so groß sein, dass man ihn nicht allein durch eine Rekrutierung in den normalen Ausbildungsgängen beheben kann. Man wird auch über neue Formen des Lernens und Lehrens nachdenken müssen. Ein zweiter - kein neuer - Befund sind die ausgeprägten sozialen Ungleichheiten in Deutschland. Und zwar sowohl hinsichtlich der Beteiligung in Bildungseinrichtungen von der Vorschule bis ins Erwachsenenalter, als auch hinsichtlich der Kompetenzmerkmale über den gesamten Bildungsverlauf. Wir haben einen zu hohen Anteil an jungen Menschen, die über nicht hinreichende Kompetenzen verfügen, um den Übergang in den nächsten Bildungsbereich zu meistern und dort auch zu bestehen.

Online-Redaktion: Es zeigt sich schon länger, dass der Zugang zu Bildung sowie Bildungserfolg, Bildungspartizipation und Kompetenzen in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt. Hat sich das in den vergangenen zwei Jahren unter der Corona-Pandemie verstärkt?

Maaz: Man kann es nicht abschließend sagen, aber mittlerweile liegen Studien vor, die darauf hindeuten, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien und Kinder, die zu den leistungsschwächeren Lernenden zählen, stärker als andere betroffen sind. Der IQB-Bildungstrend und andere Studien belegen, dass die Kompetenzen im Grundschulbereich im Vergleich zur Vorpandemie zurückgegangen sind. Und das gilt in besonderer Weise für Schülergruppen, die auch schon vorher Probleme beim Lernen hatten. Meines Erachtens kann man aber noch nicht sagen, ob das ausschließlich auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Schon die erste PISA-Studie aus dem Jahr 2000 hat auf die große Gruppe an Schüler*innen hingewiesen (20 bis 25 Prozent), die über nicht hinreichende Kompetenzen verfügt. Es sollten deshalb verstärkt Strategien entwickelt werden, wie mit der Kompetenzarmut einzelner Kinder und Jugendlicher in Zukunft effektiver umgegangen werden kann.

Online-Redaktion: Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie insgesamt auf die Entwicklung des deutschen Bildungssystems?

Maaz: Es wurde sehr unterschiedlich mit der Herausforderung „Lernen unter Pandemiebedingungen“ umgegangen, zum Beispiel in Bezug auf den Einsatz digitaler Technologien oder die Erreichbarkeit der Schüler*innen für die Lehrkräfte. Insofern hatte die Pandemie einen Einfluss auf die Lernsituation und auf die Lernleistung, wir können nur noch nicht genau sagen, wie groß die Auswirkungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind. Die ersten Studien, die 2020 entstanden sind, zeigen, dass weniger Zeit für Lernen im schulischen Kontext aufgewandt wurde. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Leistungen zurückgegangen sind. Aber die Corona-Pandemie hat die Kinder und Jugendlichen auch in ihrer psychosozialen Entwicklung beeinträchtigt. Das Erleben von Freundschaften und der Aufbau von Beziehungen zu Lehrpersonen waren erschwert und stellten die jungen Menschen vor Herausforderungen, die auch das Lernen nicht so leicht möglich machten.

Online-Redaktion: Wie haben sich die Ausstattung mit digitalen Medien und deren Einsatz als Lernwerkzeug in den Bildungsbereichen in den vergangenen zwei Jahren entwickelt?

Maaz: Die Pandemiesituation hat zu einem gewissen Digitalisierungsschub geführt. Wenn auch noch weitaus häufiger über Ausstattung und Infrastruktur diskutiert wird, als über spezifische Anwendungen, den Einsatz von Forschungs- und Lernmaterialien und daran geknüpfte Qualifikationsmaßnahmen für das Lehrpersonal. Aber auch hier ist die Situation so, dass wir es mit einer großen Variabilität zu tun haben. Es gibt Schulen, die schon sehr weit digitalisiert sind, und welche, die noch Nachholbedarf haben. Auch in anderen Bildungsbereichen hat sich viel getan. Jede vierte besuchte Weiterbildungsveranstaltung wurde 2020 zum Beispiel überwiegend oder vollständig online durchgeführt. Interessanterweise sehen wir deutliche Stadt-Land-Disparitäten bei der Beteiligung an Online-Lernangeboten. Die Teilnehmerzahlen haben sich in den ländlichen Regionen zwar seit 2015 verdoppelt, aber die Differenz zu den städtischen Regionen ist von sechs auf elf Prozentpunkte angestiegen. Das lässt sich nicht so leicht erklären.

Online-Redaktion: In den vergangenen Jahren gab es einen Trend zu höherer Bildung, der 2020 stagnierte. Hat sich der Trend in den vergangenen zwei Jahren wieder fortgesetzt?

Maaz: Die Expansion, die sich beim Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung über viele Jahre gezeigt hat, ist nicht nur stagniert, sie hat sich weiter abgeschwächt. Damit ist der über viele Jahrzehnte beobachtete Trend zu einer verstärkten Teilhabe an der Hochschulbildung ein Stück weit zum Stillstand gekommen. Ungefähr die Hälfte der jungen Erwachsenen in Deutschland übt derzeit ein Hochschulstudium aus. Mit den vorliegenden Prognosen können wir davon ausgehen, dass sich die Studiennachfrage in den kommenden Jahren nicht substanziell erhöhen wird und wir stattdessen eine Art Sättigungsgrad erreicht haben. Es gibt aber auch keine Anzeichen einer strukturellen Überakademisierung als Folge der zuvor gewachsenen Bildungsbeteiligung an hochschulischer Bildung. Die Absolvent*innen der Hochschulen gehen in größten Teilen beruflichen Tätigkeiten nach, die ihrem Bildungsniveau entsprechen.

Online-Redaktion:
Schwerpunkt des Bildungsberichts 2022 ist das Bildungspersonal, das für die Bildungsprozesse eine Schlüsselrolle einnimmt. Welche allgemeinen Aussagen lassen sich zu Struktur, Entwicklung, Qualität und Professionalisierung treffen?

Maaz:
Ein Bildungssystem, das hochwertige Bildungsangebote unterbreiten will, braucht entsprechend hochwertig und ausreichend qualifiziertes Personal. In der Tat sind die Qualifikationen in den Bildungsbereichen aber sehr unterschiedlich. Im Jahr 2020 waren ungefähr 2,6 Millionen Menschen im Bildungssektor, den Weiterbildungsbereich nicht mitgerechnet, beschäftigt, das sind sechs Prozent aller Erwerbstätigen. Der Anteil des Personals in den Bildungsbereichen hat sich im Vergleich zum Jahr 2010 deutlich erhöht. Allein im Bereich der Kindertageseinrichtungen gibt es einen Personalzuwachs von 75 Prozent, an den Hochschulen sind es 25 Prozent, an den allgemeinbildenden Schulen drei Prozent. Die Qualifizierungsstandards sind aber sehr heterogen, in vielen Berufen muss man zwar über eine spezifische Fachexpertise verfügen, aber keine pädagogische Qualifikation nachweisen. Auch gibt es sehr große Unterschiede in der Art und Weise, wie sich die Teilnahme an der pädagogischen Qualifizierung gestaltet und innerhalb der Bildungsbereiche gibt es eine große Bandbreite verschiedener Qualifikationsprofile. Im Bereich der frühen Bildung beispielsweise reichen die Zugangswege von der berufsfachschulischen Ausbildung zur Kinderpfleger*in, über die fachschulische Ausbildung der Erzieher*in bis hin zu den Kindheitspädagog*innen, die über einen Hochschulabschluss verfügen. Im Bereich der Fortbildung des pädagogischen Personals sieht es ähnlich aus. Es gibt keine in den Ländern einheitliche Regelung, die zu einer Weiterbildung verpflichtet. Bildung und Fortbildung könnten sich zudem noch besser an den Bedarfen von Institutionen, Lehrpersonen und Schulleitungen orientieren.

Online-Redaktion: Wo wird der Personalmangel am gravierendsten sein?

Maaz: Wir gehen davon aus, dass in den Kitas bis zum Jahr 2025 mehr als 70.000 Fachkräfte fehlen werden, im Ganztagsbereich werden möglicherweise für die zusätzlich benötigten Plätze im Grundschulalter, die bis 2030 entstehen, mehr als 60.000 Fachkräfte gebraucht. Beim Lehrpersonal schwanken die Zahlen zwar etwas, aber in vielen Bundesländern und Fächern wird es auch hier weitreichende Engpässe geben.

Online-Redaktion: Vor welchen weiteren Aufgaben steht die Bildungspolitik in den kommenden Jahren?

Maaz: Im Jahr 2020 haben 17,5 Millionen Menschen formelle Bildungseinrichtungen in Deutschland besucht, so viele Menschen wie noch nie zuvor. Trotzdem gibt es Bildungsbereiche, in denen Plätze fehlen. Im Ganztagsbereich lag im Jahr 2020/21 die Inanspruchnahme mit 54 Prozent noch unter den Elternwünschen von 63 Prozent. Das ist eine Herausforderung, auf die man eingehen muss. Auch die Anzahl der Kinder unter drei Jahren, die eine Kindertageseinrichtung besuchen, ist in den letzten Jahren gestiegen. Schaut man nur auf die relativen Zahlen (2016: 33 Prozent, 2021 34 Prozent), kann man zu der Fehlinterpretation kommen, dass die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen stagniert. Doch aufgrund der geburtenstarken Jahrgänge ist die absolute Zahl gestiegen, sie hat sich in den fünf Jahren von 720.000 auf 810.000 erhöht. Diesen Kindern müssen Angebote und Plätze zur Verfügung gestellt werden. Ein weiterer wichtiger Befund, der Handlungsbedarf mit sich bringt, ist, dass die Anfängerzahlen insbesondere im Bereich der dualen Berufsausbildung rückläufig sind und 2021 einen neuen Tiefpunkt erreicht haben.

Interessant finde ich außerdem die Ergebnisse einer unserer Untersuchungen, die zeigen, dass Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft sich nicht nur aufgrund ihrer Leistungen und Bildungsverläufe für oder gegen ein Studium entscheiden, sondern auch aufgrund unterschiedlicher Erwartungen und Perspektiven. Dieser Ansatzpunkt könnte dazu beitragen, Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Ungleichheiten beim Zugang zur Hochschulbildung weiter minimiert werden könnten.



Prof. Dr. Kai Maaz
, geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation und Direktor der Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“ in Frankfurt am Main/Berlin ist zugleich Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schwerpunktthemen: Bildungsbiografien und Übergangsentscheidungen, Bildungsreformen, Entwicklung des Bildungssystems, Schulentwicklung und soziale Ungleichheit im Bildungssystem. Sprecher der Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung seit 2014.

 


Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 01.09.2022
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