Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
Erschienen am 22.05.2025:
„Wir wollen die Teilnehmenden zu einem Perspektivwechsel einladen.“
Stadtführungen des Berliner Vereins querstadtein aus der Sicht von obdachlosen Menschen und Geflüchteten

Der Verein querstadtein bietet Stadtführungen in Berlin an, die von wohnungs- oder obdachlosen Menschen und Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen durchgeführt werden. Die Online-Redaktion sprach mit Projektmanager Clemens Poldrack darüber, dass über Obdachlose und Geflüchtete zwar oft gesprochen wird, aber nicht mit ihnen. Teilnehmende der Stadtführungen von querstadtein haben deshalb die Möglichkeit, mit den Betroffenen in einen direkten Austausch zu kommen, um Vorurteile und Stereotype zu hinterfragen.
Online-Redaktion: Was ist querstadtein?
Poldrack: querstadtein ist ein Verein für politische Bildung in Berlin. Unsere Vision ist eine Welt ohne Ausgrenzung. Dafür setzen wir uns aktiv ein - insbesondere mit Bildungsformaten im Stadtraum. Besonders durch Stadtrundgänge aus der Perspektive von Betroffenen möchten wir Raum für Dialog schaffen und Menschen miteinander ins Gespräch bringen. Dabei konzentrieren wir uns auf zwei Schwerpunkte: Zum einen auf das Thema „Wohnungslosigkeit und Leben auf der Straße“, das auch die Obdachlosigkeit umfasst. Zum anderen auf den Themenschwerpunkt „Flucht und Migration“ mit dem Bereich Klimamigration bzw. Flucht- oder Migrationsbewegung als Folge des Klimawandels.
Online-Redaktion: Seit wann gibt es querstadtein und wie sind Sie darauf gekommen, Stadtführungen aus der Sicht von (ehemals) wohnungs- oder obdachlosen Menschen und Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen durchzuführen?
Poldrack: Angefangen hat es 2012 mit der Idee von unseren Gründerinnen Sally Ollech und Katharina Kühn. Sie haben festgestellt, dass es in Berlin zwar eine hohe sichtbare Obdachlosigkeit gibt, aber kaum Kontakt zu den Menschen. Es wird häufig über Obdachlose gesprochen, aber nicht mit ihnen. Aus dieser Beobachtung ist die Idee gewachsen, ein Austauschformat zu schaffen, in dem obdachlose Menschen in Berlin mit der Bevölkerung zusammengebracht werden und in dem sie persönlich von ihren Erfahrungen berichten. 2013 wurde dann der Verein querstadtein gegründet. 2015/16 kam im Zuge der syrischen Flüchtlingswelle aus den gleichen Motiven das Thema „Flucht und Migration“ als zweiter Schwerpunkt hinzu. Inzwischen ist unser Verein stark angewachsen. Wir haben 23 Stadtführende, sieben im Bereich „Wohnungslosigkeit und Leben auf der Straße“, 16 im Bereich „Berliner Migrationsgeschichten“.
Online-Redaktion: Was wollen Sie mit den Stadtführungen bei den Menschen, die daran teilnehmen, bewirken?
Poldrack: Wir wollen die Teilnehmenden zu einem Perspektivwechsel einladen. Sie sollen die Möglichkeit haben, mit den Betroffenen in einen direkten Austausch zu kommen, um Vorurteile und Stereotype zu hinterfragen und das eigene Denken und Handeln bestenfalls zu verändern. Es ist eine Einladung zu mehr Toleranz und Miteinander. Schön ist, dass wir oft positive Rückmeldungen von Teilnehmenden bekommen, in denen sie uns schreiben, dass die Begegnungen für sie der Startschuss dazu waren, sich in der Flüchtlings- oder in der Obdachlosenhilfe zu engagieren. Oft sind es aber auch die kleinen Dinge, die uns freuen, zum Beispiel, wenn Teilnehmende unserer Stadtführungen anschließend weniger Berührungsängste haben und obdachlosen Menschen auf der Straße ein Lächeln schenken und ihnen damit zeigen, dass sie sie als Mensch wahrnehmen.
Online-Redaktion: Wie kann man sich die Führungen vorstellen? Wie verbinden die Stadtführer*innen Sightseeing mit ihren persönlichen Geschichten?
Poldrack: Unsere Touren entstehen in enger Zusammenarbeit zwischen den Stadtführer*innen und unserem Team. Dabei bestimmen die Stadtführer*innen selbst die Schwerpunkte ihrer Erzählungen - sei es die persönliche Lebensgeschichte oder ein größerer politischer Kontext. Gemeinsam wählen wir passende Orte aus, die eine besondere Bedeutung haben. Das können ehemalige Schlafplätze sein, Hilfsorganisationen, die eine wichtige Rolle gespielt haben, oder Orte des Ankommens für Geflüchtete. Auch Wohnorte oder Restaurants, die an die Küche der früheren Heimat erinnern, können Teil der Tour sein. Die Rundgänge dauern etwa eineinhalb bis zwei Stunden und führen zu fünf bis sechs Stationen. An jeder dieser Stationen teilen die Stadtführer*innen ihre Erfahrungen und ordnen sie in einen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang ein. Die Teilnehmenden haben die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und es werden interaktive Elemente integriert, damit ein lebendiger Dialog entsteht.
Online-Redaktion: Es ist ja eher ungewöhnlich, dass Obdachlose und Menschen mit Fluchtgeschichte als Stadtführer*innen agieren. Wie haben Sie sie als Stadtführer*innen gewonnen?
Poldrack: Am Anfang haben wir sie proaktiv angesprochen, inzwischen ist querstadtein als politischer Bildner sehr bekannt, so dass viele Personen von sich aus auf uns zukommen. Manchmal kennen unsere Stadtführenden auch jemanden, der gut ins Team passt. Wir kooperieren außerdem mit vielen Organisationen in Berlin und sind insbesondere in der Obdachlosen- und in der Flüchtlingshilfe sehr gut vernetzt, über die wir weitere Interessenten finden. Ab und an machen wir auch öffentliche Aushänge und Anfragen.
Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel für eine Stadtführung geben?
Poldrack: Wir haben im Bereich „Leben auf der Straße“ eine Tour, die „Obdachlos, politisiert, zuhause in Berlin“ heißt. Sie wird von Janet durchgeführt, startet in der Nähe vom Alexanderplatz und hört beim Humboldt Forum auf. Janet spricht an fünf Stationen über ihre persönliche Geschichte: Sie erzählt, wie sie obdachlos wurde und welche Erfahrungen sie auf der Straße gemacht hat. Dabei spricht sie über zentrale Themen wie Gewalt, Hygiene und Sicherheit - insbesondere aus weiblicher Perspektive - sowie über die Bedeutung von Gemeinschaft unter obdachlosen Menschen. Sie zeigt auch den Platz, an dem sie früher häufig mit ihrer Gruppe „Platte“ gemacht hat, also quasi gewohnt hat.
Vor dem Roten Rathaus beleuchtet sie die politische Einflussnahme von obdachlosen Menschen: das Recht zu wählen, aber auch die Frage, inwieweit der Schutz von Wohnraum für Menschen auf der Straße gewährleistet werden kann. Am Humboldt Forum, dem letzten Halt der Tour, erzählt sie, wie es sich anfühlt, wieder wahrgenommen zu werden - eine Stimme zu haben, eine wichtige Person zu sein und sogar im Museum präsent zu sein. Wir haben zusammen mit dem Stadtmuseum Berlin im Rahmen der Ausstellung BERLIN GLOBAL die Freifläche „Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin“ gestaltet, die vom 21. Oktober 2023 bis 30. Juni 2025 zu sehen ist. Janet ist eine von fünf Frauen*, die dort Einblick in Erfahrungen mit der eigenen Wohnungslosigkeit gibt.
Online-Redaktion: Wie ist das für die obdachlosen Stadtführenden, bei den Touren plötzlich im Rampenlicht zu stehen?
Poldrack: Viele sind zunächst unsicher und skeptisch, ob sie der Aufgabe gewachsen sind, aber dann erleben sie durch die Touren eine sehr große Wertschätzung. Wieder wahrgenommen zu werden und anderen etwas Wichtiges mitzuteilen, machen die Stadtführungen für sie zu einer sehr sinnstiftenden Aufgabe.
Online-Redaktion: Wie ist das Interesse an den Stadtführungen? Werden sie gut gebucht?
Poldrack: Ja, im letzten Jahr hatten wir 750 Touren, das heißt pro Tag mehr als zwei Touren. Wir haben Phasen, in denen wir insbesondere im Bereich „Leben auf der Straße“ die Nachfragen nicht bedienen können. Die Berliner Migrationsgeschichten hingegen könnten noch ein bisschen besser gebucht werden. Das liegt zum Teil vielleicht auch daran, dass sie überwiegend auf Englisch stattfinden, was für manche Gruppen ein Hindernis darstellt. Die Teilnehmenden kommen zu Zweidrittel aus Schulen und Universitäten oder sind Bundesfreiwilligendienstleistende. Ein weiteres Drittel stammt aus Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen oder sind Privatpersonen.
Online-Redaktion: Warum eignen sich die Führungen von querstadtein insbesondere für Schulklassen? Und wie kommen sie bei den Schüler*innen an?
Poldrack: Unsere Touren sind für Schulklassen besonders spannend, weil sie authentische und beeindruckende Begegnungen mit realen Erfahrungen bieten. Die Schüler*innen erhalten kein rein theoretisches Wissen, sondern direkte Einblicke in persönliche Geschichten - sei es zur Flucht oder zum Leben auf der Straße. Sie können Fragen stellen, die sie sich sonst nicht trauen würden zu stellen. Und sie erleben, wie offen die Stadtführenden erzählen, was sie wirklich erfahren haben und deshalb gut vermitteln können, wie sich eine Flucht anfühlt oder wie ein Leben auf der Straße ist.
Besonders für Schulklassen aus kleinen Orten oder wohlhabenden Familien ist es oft die erste Berührung mit den Themen Armut und Obdachlosigkeit. Lehrkräfte bestätigen, wie wichtig diese Erfahrung ist, da sie den Blick für eine andere Realität öffnet und zeigt, dass Wohnungslosigkeit viele Ursachen hat und jeden treffen kann - sei es durch den angespannten Wohnungsmarkt, finanzielle Schwierigkeiten oder Suchtkrankheiten, die oft aber auch erst auf der Straße entstehen. Jede Tour bietet einen einzigartigen Einblick. Deshalb lohnt es sich, verschiedene Perspektiven kennenzulernen und mehrere Touren zu besuchen.
Online-Redaktion: Sie haben auch andere Angebote. Welche Formate bieten Sie noch an?
Poldrack: Neben unseren Stadtrundgängen bieten wir auch digitale Bildungsformate an, die unabhängig vom Standort per App durchgeführt werden können. Diese digitalen Touren lassen sich teilweise mit virtuellen Treffen kombinieren, in denen Teilnehmende direkt mit Betroffenen ins Gespräch kommen können. Ein Beispiel ist unser Angebot zum Thema „Leben auf der Straße“: Interessierte können die Tour in jeder Stadt starten, die Inhalte herunterladen und erhalten dabei kurze Videos, interaktive Aufgaben und Informationen zum Thema. Im Anschluss besteht die Möglichkeit, sich in einer Gruppe auszutauschen und die Erfahrungen gemeinsam mit einem Betroffenen zu reflektieren.
Wir bieten zudem einen Audiowalk zum Thema „Stimmen vom Bahnhof Zoo“ an, der sich mit Obdachlosigkeit rund um den Bahnhof Zoo beschäftigt. Dieser kann direkt vor Ort erlebt werden, ist aber auch ortsunabhängig nutzbar. Ein ähnliches Format haben wir für Dresden entwickelt: Es widmet sich den Geschichten von Vertragsarbeiter*innen in der DDR - insbesondere der ersten und zweiten Generation sowie deren Kindern. Ganz neu ist unsere Lern-App für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene zum Thema „Klimamigration“. In kurzen Videos kommen Betroffene selbst zu Wort, ergänzt durch Hintergrundinformationen und interaktive Quizfragen. Die App bietet ein etwa eineinhalbstündiges Lernerlebnis und eignet sich sowohl für den Schulunterricht als auch für Fortbildungen, Weiterbildungen und Seminare. Man kann die Angebote aber auch ganz individuell nutzen.
Clemens Poldrack ist seit November 2022 als Projektmanager bei querstadtein e.V. tätig. Themen und Fragen rund um die Verbesserung des sozialen Miteinanders der Gesellschaft treiben ihn an. Bei querstadtein ist er aktiv in die Konzeption von Bildungsformaten aus Betroffenenperspektive involviert. Zudem betreut er die Einbindung (ehemals) wohnungsloser Menschen als Expert*innen bei politischen und wissenschaftlichen Veranstaltungen. Daneben war er mit der Entwicklung der Freifläche „Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin“ betraut. Als Sozial- und Politikwissenschaftler hat er während seines Studiums in der Forschung zu Zivilengagement, Ehrenamt und sozialen Bewegungen gearbeitet.
Autor(in): Petra Schraml
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Datum: 22.05.2025
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