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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 21.07.2022:

„Mit einer App zu neuen Berufschancen - Bildung und damit Teilhabe ermöglichen.“

Der Einsatz von digitalen Lernmedien in der Qualifizierung kognitiv eingeschränkter Menschen und die Möglichkeiten darüber hinaus
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Jan Schierreich

Diakoneo, eines der größten Gesundheits- und Sozialunternehmen in Deutschland, hat gemeinsam mit Partnern ein Blended Assistance System für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt. Das Vorhaben „diBAss“ (digital Blended Assistance System) wurde im Rahmen des Programms „Inklusion durch digitale Medien in der beruflichen Bildung“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Europäischen Sozialfonds gefördert. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit dem Projektleiter Jan Schierreich von Diakoneo KdöR Werkstatt Bruckberg, über die Ziele des Projekts und die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten des digitalen Assistenz-Systems.

Online-Redaktion:
Wie kamen Sie darauf, das Projekt diBAss zu initiieren, welches Ziel war damit verbunden?

Schierreich: Ziel des Projektes war es, Menschen mit kognitiven Einschränkungen neue berufliche Perspektiven im sozialen Dienstleistungsbereich durch den Einsatz digitaler Medien zu eröffnen. Dafür wollten wir die überwiegend analogen Bildungsbausteine, die in unseren Einrichtungen eingesetzt werden, um Qualifizierung zu gewährleisten, und die oft an ihre Grenzen stoßen, weil technische Hilfsmittel fehlen, mit dem Verfahren des Blended Learning verbinden. Die Lösung musste aber sehr niedrigschwellig gehalten sein, damit sie von den Nutzer*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen verstanden werden kann. Auch sollte sie so modular wie möglich auf die Fähigkeiten jedes Einzelnen anpassbar sein.

Online-Redaktion: Wer waren Ihre Projektpartner?

Schierreich:
Wir, Diakoneo, haben das Forschungsprojekt diBAss gemeinsam mit der Firma M.I.T e-Solutions GmbH und der LIVINGSOLIDS GmbH und der Technischen Universität Ilmenau gestartet. Die Diakoneo hat die Projektkoordination übernommen, die Bedarfe, die Stärken und Schwächen der Nutzer*innen eruiert und den Einsatz geplant. Die Firma M.I.T e-Solutions hat viel Erfahrung in der Erstellung von Trainings, Lernplattformen sowie der App-Entwicklung. Als E-Learning-Spezialist hat sich M.I.T im Projekt um die Entwicklung der App gekümmert. LIVINGSOLIDS GmbH ist sehr erfahren in der Erstellung von E-Learning-Angeboten mit XR-Technologien. Die Technische Universität Ilmenau schließlich hat das Projekt wissenschaftlich begleitet, evaluiert und sichergestellt, dass wir ein Produkt entwickeln, das für die Zielgruppe praktikabel und benutzerfreundlich und außerdem wissenschaftlich fundiert ist.

Online-Redaktion: Wie entstand der Titel „Blended Assistance System“?

Schierreich: Mit dem Blended Assistance System wollen wir den Zugang zum Lebenslangen Lernen fördern und eine Wissenssteigerung mit technischen Geräten erzeugen. Der soziale Dienstleistungsbereich bietet sich hierfür besonders an, da gerade im Gesundheits- und Sozialwesen eine steigende Nachfrage nach Fachkräften vorausgesehen wird. So beispielsweise im Bereich der Hauswirtschaft oder der Gastronomie. Hier können digitale Assistenzsysteme in den Arbeitsalltag „eingemischt“ (= blended) werden und kognitiv eingeschränkte Personen dabei unterstützen, die damit verbundenen Arbeitsprozesse selbstständig zu meistern. Der Assistent zeigt ihnen beispielsweise, wie das Besteck fachmännisch für ein 6-Gänge-Menü gelegt werden muss. Die Küchenleitung braucht es anschließend nur kontrollieren und muss es nicht jedem Einzelnen selbst beibringen. So können die technischen Assistenten viel Arbeit abnehmen.

Online-Redaktion: Von wem wurde das Assistenzsystem technisch entwickelt?

Schierreich: Die Webapp, die sich sowohl am PC, als auch von Android- und IOS-Geräten nutzen lässt, wurde von unserem Partner M.I.T e-Solutions entwickelt. Während der Projektlaufzeit war sie nur auf Android-Geräten verfügbar. Vor ein paar Monaten haben wir sie dann aber auch für das IOS-Betriebssystem übersetzt, weil uns wichtig war, sie im Sinne der Inklusion so niedrigschwellig wie möglich anzubieten.

Online-Redaktion: Wie haben Sie herausgefunden, wobei und in welcher Form Menschen mit kognitiven Einschränkungen Anleitung und Unterstützung brauchen, um bestimmte Aufgabenprozesse ausführen zu können?

Schierreich: Wir haben vorm Projektaufbau eine umfangreiche Anforderungsanalyse durchgeführt. Fast neun Monate haben wir intensiv die Fähigkeiten, die Bedarfe, die Wünsche, die Barrieren der Zielgruppe analysiert und überprüft, was sie braucht. Dazu haben wir knapp 30 Betreuer*innen - Gruppenpersonal, Sozialpädagog*innen, Psycholog*innen - als auch unsere Zielgruppe selbst, ca. 20 Beschäftigte der Werkstatt, Menschen mit Behinderungen, befragt. Die Analyse haben wir anschließend didaktisch aufbereitet und die Umsetzung mit der Zielgruppe selbst durchgeführt und immer wieder angepasst. Die Technische Universität Ilmenau hatte dabei durchgehend die Konzeption, Umsetzung und Benutzerfreundlichkeit im Fokus.

Online-Redaktion: Wie kann man sich die App vorstellen?

Schierreich: Die App ist auf den ersten Blick relativ simpel aufgebaut, um den Einstieg niedrigschwellig zu ermöglichen. Auf der Oberfläche kann der/die Betreuer*in für jeden Beschäftigten eine individuelle Anleitung einstellen. Dabei kann er/sie entscheiden, ob Text- oder Tonbausteine, Bilder oder Videosequenzen eingebaut werden sollen, ob die Schrift groß sein muss, ob Farbwünsche gegeben sind oder die Beschäftigten eine Anruffunktion oder einen kleinen Helfer brauchen, der sie animiert, weiterzumachen oder bei Fragen zur Verfügung steht. Wir haben die Anwendung von vorneherein so offen wie möglich entwickelt, damit sie nicht nur in der Hauswirtschaft anwendbar ist, sondern auch im Werkstattalltag oder in ganz anderen Bereichen wie beispielsweise Schulen, zur Schulung für Migrant*innen oder für die Qualifizierung von ungelerntem Personal eingesetzt werden kann. Wir waren beispielsweise im Juni auf der Statuskonferenz DigitalPakt Schule in Bonn, eine vom BMBF ausgerichtete Fachtagung, wo viele Lehrer*innen, Schüler*innen und Minister*innen waren. Sie hatten großes Interesse an unserer App, die wir dort vorgestellt haben.

Online-Redaktion: Können Sie Beispiele nennen, wie digitale Assistenzsysteme im Hauswirtschaftsbereich in der Werkstatt Bruckberg eingebunden werden?

Schierreich: In Werkstätten ist die Situation ja die, dass wir als Reha-Einrichtung den Menschen eine Beschäftigung geben und sie fordern und fördern wollen, damit sie aus der Werkstatt heraus auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln können. Das ist auch die Aufgabe, die wir vom Gesetzgeber haben und durch Paragraph 219 im 9. Sozialgesetzbuch festgelegt ist. Je mehr die Menschen mit Beeinträchtigungen in Werkstätten dabei unterstützt und befähigt werden, mehr und anspruchsvollere Arbeiten zu verrichten, desto mehr Lohn können Werkstätten auch auszahlen. Das trägt deutlich zu einem selbstbestimmten und eigenständigen Leben bei. Die App soll maßgeblich dazu beitragen, dass die Beschäftigten neue Arbeitsschritte durchführen können. Ein Beispiel aus der Hauswirtschaft ist das Bedienen einer Waschmaschine. Auf der Anleitung wird Schritt für Schritt aufgezeigt, wo das Waschmittel eingefüllt, welche Stufe für welche Wäsche eingestellt werden muss usw., damit die Benutzung für die Beschäftigten so leicht wie möglich handhabbar ist. Die Lernanleitungen sind sehr modular aufgebaut.

Online-Redaktion:
Und wie ließe sie sich in den Schulalltag transferieren?

Schierreich: Mit Hilfe der App können Schüler*innen selbstständig lernen und sich neues Wissen aneignen. Wir haben für die Fachtagung in Bonn eine anspruchsvolle Lernanwendung mit vielen Schritten über die Tiere des Waldes und eine Anleitung über den Vorgang der Photosynthese erstellt. Lehrkräfte könnten beispielsweise Videos über die Tiere des Waldes oder die Photosynthese in die App einbetten und den Schüler*innen den Arbeitsauftrag geben, Arbeitsgruppen zu bilden und Aufgaben dazu zu erledigen. Das ist für die Schüler*innen ein ganz anderes Arbeiten, als wenn sie die Informationen einfach vorgesetzt bekommen. Das Wissen lässt sich dadurch viel besser abspeichern.

Online-Redaktion: Das Projekt wurde 2021 abgeschlossen. Wie wird das Blended Assistance System heute in der Werkstatt Bruckberg weitergeführt und welche Pläne haben Sie für die Zukunft?

Schierreich: Seit kurzem ist das Blended Assistance System bei uns in der Werkstatt im Einsatz, wir untersuchen gerade, wo noch Veränderungspotenzial besteht. Gemeinsam mit der Firma M.I.T e-Solutions arbeiten wir weiter am Projekt. Unser Ziel ist es, die Anwendung zu vermarkten, um sie so vielen Werkstätten wie möglich zur Verfügung stellen zu können. Als nächstes wollen wir die Anwendung um weitere Anleitungen von Dingen, die wir hier in der Werkstatt fertigen, kommissionieren und verpacken, erweitern und dann andere Träger zu uns einladen und ihnen die App als Best-Practice-Beispiel vorführen und den Nutzen verdeutlichen. Nachdem die Träger immer wieder beieinander zu Gast sind und sich auch sonst zu vielen Themen austauschen, macht es auch das Kennenlernen von Neuerungen und Lösungen einfacher.

Online-Redaktion: Wie geht es mit der Digitalisierung bei Ihnen weiter? Gibt es noch andere Assistenzsysteme, die Sie in Ihrer Werkstatt einbinden möchten?

Schierreich: Auf jeden Fall. Der 3D-Druck wird in den Werkstätten ja immer relevanter, um Vorrichtungen und Hilfsmittel herzustellen. Außerdem forschen wir auch im Bereich Robotik und versuchen uns generell zukunftsfähig aufzustellen. Aktuell überlegen wir, eine komplett neue App zu entwickeln, die in Wohnheimen, Werkstätten, Kliniken, Schulen und Kindergärten, überall wo Essen bestellt wird, eingesetzt werden kann. Von den Großküchen wird ja oft einfach geschätzt, was und wie viel gekocht werden muss - dadurch entsteht relativ viel Müll. Die Klient*innen und Patient*innen können in der Regel auch nicht selbst entscheiden, selbst ankreuzen, was sie essen möchten. Das erledigt meist das entsprechende Personal für sie. Teilhabe und Inklusion sieht anders aus. Deshalb haben wir uns das Ziel gesetzt, eine Anwendung gemeinsam mit Student*innen aus der nahe gelegenen Hochschule Ansbach zu entwickeln, mit der jeder, der dazu in der Lage ist, selbstständig seine Essenswahl treffen kann. Meist ist die Angst vor Digitalisierung und der digitalen Transformation völlig unbegründet. Man muss sich nur auf den Weg machen und offen sein. Kooperationen zu schließen und gemeinsam an einem Strang zu ziehen hilft am Ende am meisten einer Personengruppe: unseren Beschäftigten/Klient*innen. Diese zu fragen, was sie sich wünschen und brauchen, ist der richtige Weg, um dann auch sinnvolle Lösungen zu finden.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 21.07.2022
© Innovationsportal

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