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Erschienen am 17.07.2025:
100-Prozent-Schulen wollen kein Kind zurücklassen
Alle Primarschüler*innen sollen die Mindeststandards in Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen

Jedes fünfte Kind in Deutschland kann am Ende der vierten Klasse nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen. 100-Prozent-Schulen wollen das ändern: Dazu arbeiten sie bundesweit in regionalen Clustern mit anderen Schulen und weiteren Partnern. Ihr Ziel ist eine datengestützte Schulentwicklung sowie eine flexible und passgenaue Gestaltung der Lehr- und Lernumgebungen, um jedes Kind bestmöglich in seinem persönlichen Lernprozess zu unterstützen.
Nationale und internationale Schulleistungsstudien zeigen, dass jedes fünfte Kind in Deutschland am Ende der vierten Klasse nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen kann und der erfolgreiche Erwerb von grundlegenden Kompetenzen nach wie vor stark von der sozialen Herkunft der Kinder abhängt. Auch der jüngste Bericht des UNICEF-Forschungsinstituts Innocenti zum kindlichen Wohlbefinden in 43 OECD- und EU-Ländern hat offengelegt, dass sich die Situation in Deutschland seit dem letzten Bericht von vor fünf Jahren noch verschlechtert hat und es von Platz 14 auf Platz 25 abgefallen ist.
Der Anteil der Kinder mit grundlegenden Kompetenzen ist gesunken
Der Bericht „Report Card 19: Child Well-Being in an Unpredictable World“ (Kindliches Wohlbefinden in unsicheren Zeiten) untersucht auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse Trends mit Blick auf die mentale und physische Gesundheit von Kindern sowie ihre sozialen, emotionalen, digitalen und schulischen Kompetenzen. Auffällig ist, dass die grundlegenden Fähigkeiten von Kindern in vielen Ländern erheblich schlechter geworden sind. Der Anteil der Kinder mit grundlegenden mathematischen Kompetenzen und Lesekompetenzen ist zwischen 2018 und 2022 in 21 von 38 Ländern um mehr als fünf Prozent gesunken. Auch in Deutschland ist er von 73 Prozent in 2018 auf 60 Prozent in 2022 zurückgegangen. „Der UNICEF-Bericht unterstreicht die wichtige Aufgabe der neuen Bundesregierung, in Kinder zu investieren und vor allem benachteiligte Kinder stärker zu unterstützen, zum Beispiel Mädchen und Jungen in einkommensschwachen Haushalten oder Kinder, die mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet sind. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir sehr die geplante Ausweitung des Startchancen-Programms zur gezielten Förderung über die Schulen. Auch das Vorhaben der Koalition, die mentale Gesundheit von Kindern mit einer eigenen Strategie zu verbessern, geht in die richtige Richtung“, sagte Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland, anlässlich der Veröffentlichung des Berichts.
Das Projekt „100-Prozent-Schulen“
Neben staatlichen Investitionen gibt es auch private Initiativen und Bemühungen von Stiftungen und Unternehmen, die zu einer Verbesserung der Basiskompetenzen von Kindern beitragen möchten. Das im Mai 2025 gestartete Projekt „100-Prozent-Schulen“, das die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung, der Prof. Otto Beisheim Stiftung sowie der Crespo Foundation initiiert hat, will sich dafür einsetzen, dass alle Viertklässler*innen den Mindeststandard in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen und kein Kind zurückbleibt. Im Fokus stehen Schulen, die besonders hohe Belastungen bewältigen müssen, beteiligen können sich aber grundsätzlich alle Schulen.
Im Zentrum des pädagogischen Handelns stehen bei den 100-Prozent-Schulen die individuellen Lernvoraussetzungen jedes einzelnen Kindes. Ziel ist, die Kinder mit passenden Angeboten einer möglichst adaptiven Gestaltung von Lehr-Lern-Settings zu unterstützen und dadurch ihre Bildungschancen nachhaltig zu verbessern. Um den Unterricht so zu gestalten, dass er allen Kindern gerecht wird und individuelle Lernbedürfnisse erfasst werden, werden wissenschaftlich fundierte Diagnoseverfahren sowie differenzierte Lernmethoden und -materialien eingesetzt. Diese Ansätze werden entweder neu eingeführt oder systematisch weiterentwickelt, wobei die Praxiserfahrungen der Schulen aktiv einbezogen und integriert werden.
Kinder ganzheitlich betrachten
Schulen nehmen die Basiskompetenzen der Reihe nach in den Fokus, erheben regelmäßig Daten der Schüler*innen und nutzen diese für ihre Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die Daten geben Auskunft über die individuellen Lernverläufe jedes Kindes. Fach- und Leitungskräfte setzen sich mit ihnen auseinander und leiten daraus Anpassungen der individuellen Förderung, der Binnendifferenzierung und Gruppierung innerhalb des Unterrichts, der Gestaltung von selbstorganisierten Lerneinheiten und weitere Maßnahmen ab. Jedes Kind soll möglichst ideal durch passende bewährte und wirksame Lernmethoden und -materialien in seinem Lernprozess begleitet werden, damit es das individuell bestmögliche Kompetenzniveau im Lesen, Schreiben und Rechnen erreicht. Auch Faktoren wie Interesse und Lernmotivation, Selbstregulation und Selbständigkeit, sozial-emotionale Kompetenzen und das Wohlbefinden der Schüler*innen werden berücksichtigt und die Lernumgebung bzw. das Klassen- und Unterrichtsklima in den Blick genommen.
Regionale Clusterbildung
100-Prozent-Schulen in Deutschland arbeiten nicht allein, sondern in einem regionalen Cluster mit anderen interessierten Schulen und weiteren Partnern zusammen. Mindestens fünf Grundschulen aus einer Region bilden jeweils ein Cluster und bilden in Abstimmung mit ihrer zuständigen Schulaufsicht und weiteren außerschulischen Partnern im Sozialraum wie Kindertageseinrichtungen oder Bibliotheken ein lernendes Netzwerk, das zu einer Verantwortungsgemeinschaft zusammenwächst. Sie tauschen ihre Ansätze auch mit anderen Clustern aus. „In der Grundschule lernen Kinder lesen, rechnen und schreiben. Diese Fähigkeiten bilden die Grundlage für erfolgreiches schulisches Lernen. Wer hier zurückbleibt, kämpft oft jahrelang erfolglos mit den Folgen. Wir dürfen kein Kind in dieser wichtigen Phase zurücklassen. Für dieses Ziel arbeiten bei den 100-Prozent-Schulen alle vor Ort mit vereinten Kräften zusammen: Schulen, Behörden und Kommunen,“ weiß Dr. Dagmar Wolf, Leiterin des Bildungsbereichs der Robert Bosch Stiftung.
Begleitet werden die regionalen Cluster vom Fachbüro 100-Prozent-Schulen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Das Fachbüro steht den Clustern als zentrale Anlaufstelle zur Verfügung und koordiniert den Austausch der Schulen, organisiert Qualifizierungsangebote z. B. zur Erfassung, Interpretation und Nutzung von unterschiedlichen Daten sowie die Schulentwicklungsberatung. Schulen werden auch bei der datengestützten Evaluation ihrer Fortschritte begleitet.
Autor(in): Petra Schraml
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Datum: 17.07.2025
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Links zum Thema
- DKJS: 100-Prozent-Schulen
- Robert Bosch Stiftung: 100-Prozent-Schulen
- Basiskompetenzen für alle Grundschüler:innen: Start der bundesweiten Initiative 100-Prozent-Schulen
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