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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 07.10.2021:

„Rollentausch führt zu einem Perspektivenwechsel.“

Ausstellungen in absoluter Dunkelheit und Stille
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Dialoghaus Hamburg

Das Dialoghaus Hamburg bietet Ausstellungen an, in denen Besucher*innen die Welt neu entdecken. Sie werden von Blinden durch dunkle Räume gelotst oder von Gehörlosen mit Alltagssituationen konfrontiert, die sie nicht hören können, weil sie schallabsorbierende Kopfhörer tragen. Die Ausstellungen „Dialog im Dunkeln“ und „Dialog im Stillen“ thematisieren Inklusion mithilfe eines Rollentauschs in die Erfahrungswelt Sehbehinderter und Gehörloser.


Verunsichert tasten sich die Besucher*innen der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ mit dem Langstock durch die Dunkelheit und entdecken eine scheinbar gewohnte Welt neu. Sie hören, fühlen und orientieren sich in nicht-visuellen Alltagssituationen: bei einem Spaziergang durch den Park, dem Überqueren einer Straßenkreuzung oder dem Übertreten einer schwankenden Brücke. Sehbeeinträchtigte Guides helfen ihnen und weisen den Besucher*innen den Weg. Die Guides sind Dunkelheit gewöhnt, denn sie sind blind. Ein unvergleichlicher Rollentausch entsteht, der die Sinne und das Empathievermögen schult und Inklusion unmittelbar erlebbar macht. Im „Dialog im Dunkeln“ sind die blinden Gastgeber*innen die „Sehenden“. Sie führen kleine Gruppen mit maximal acht Personen durch einen lichtlosen Ausstellungsparcours und sorgen dafür, dass die Besucher*innen sich wohlfühlen. Sehende erleben, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr zu sehen und erfahren aus eigener Wahrnehmung Toleranz und Empathie für diese „Sicht“ auf die Welt. Am Ende der 60-minütigen Tour erwartet die Gäste ein Getränk in der Dunkel-Bar. Hier können sie den Guides Fragen stellen, die während der Tour aufgetreten sind.

Dialog im Dunkeln und Dialog im Stillen
Entwickelt wurde das Konzept von Andreas Heinecke, er studierte Geschichte und Literatur und promovierte in Philosophie. Während seiner Arbeit als Journalist für den Südwestfunk führte er 1988 einen erblindeten Kollegen in den redaktionellen Arbeitsalltag ein. Er war sehr beeindruckt von der Persönlichkeit des Mannes und seiner positiven und optimistischen Ausstrahlung. Aus der erwarteten Helfer-Opfer-Situation wurde von der ersten Sekunde an eine Begegnung mit vertauschten Rollen. Dadurch kam er auf die Idee, eine Ausstellung zu initiieren, in der blinde Ausstellungsführer*innen sehenden Besucher*innen einen Perspektivenwechsel vermitteln. Er mietete einen Raum, dunkelte ihn ab und stattete ihn mit Hindernissen und einer akustischen Landschaft aus. Es entstand die Ausstellung „Dialog im Dunklen“, in der Sehende und Blinde voneinander lernen und in der Blinde Sehenden zeigen, wie sie sich ohne Augenlicht orientieren können.

Zunächst betrieb er die Ausstellung unter dem organisatorischen Dach der damaligen „Stiftung Blindenanstalt“ und präsentierte sie zum ersten Mal 1989 in Frankfurt am Main. 1995 machte er sich selbstständig und eröffnete am 1. April 2000 in einem Speicher am Alten Wandrahm das Dialoghaus Hamburg und die permanente Ausstellung „Dialog im Dunkeln“. Heinecke ergänzte sein Angebot um die Ausstellung „Dialog im Stillen“, in der es um nonverbale Kommunikation und Gehörlosigkeit geht. Die Ausstellung will hörenden Menschen einen Zugang zu der Welt gehörloser Menschen ermöglichen. Die Besucher*innen werden mit Alltagssituationen konfrontiert, denen gehörlose Menschen täglich begegnen. Um eine Umgebung der Stille zu erzeugen, tragen die Besucher*innen schallabsorbierende Kopfhörer. In mehreren schallisolierten Räumen werden verschiedene Aspekte der nonverbalen Kommunikation in den Mittelpunkt gerückt und die Besucher*innen aufgefordert, mit Zeigen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Gestik zu kommunizieren. Als Expert*innen für Körper- und Gebärdensprache übernehmen gehörlose Guides die Rolle als Vermittler*innen ein und führen sehr lebendig durch die Erlebnisstationen.

Dialog mit der Zeit
Das Erlebnis des Alters war Thema einer weiteren Ausstellung: „Dialog mit der Zeit“. Sie wurde zunächst 2014/2015 und 2016 in Frankfurt, Berlin und Bern gezeigt. Von 2018 bis 2020 war die Erlebnisausstellung Teil des Angebots im Dialoghaus Hamburg und hat viele Besucher*innen mit dem Thema „Alter“ vertrauter gemacht. Spielerisch konnten Besucher*innen aller Altersgruppen Aspekte des Älterwerdens kennenlernen. An unterschiedlichen Stationen konnten sie Körper und Sinneserfahrungen rund um das Thema „Altern“ sammeln. Bis zu 38 Senior*innen im Alter von 70 bis 90 Jahren haben sie begleitet und gemeinsam mit ihnen über die Potenziale des Alterns, über zukunftsfähige Lebensentwürfe und über Herausforderungen in der Gesellschaft nachgedacht. Mit der Dialogausstellung sollten Vorurteile gegenüber älteren Menschen, Ängste und falsche Annahmen über Stereotypen überwunden werden.

Die Methodik der Ausstellungen
„Unsere Vision ist es, Bewusstsein zu schaffen für den gesellschaftlichen Beitrag den behinderte, benachteiligte und ältere Menschen leisten. In einer Begegnung auf Augenhöhe in den Erlebnis-Ausstellungen „Dialog im Dunkeln“, „Dialog im Stillen“, „Dialog mit der Zeit“ erleben Besucher*innen eine ihnen unbekannte Welt“, formulieren die Betreiber*innen ihre Botschaft. Ausgrenzung soll dadurch überwunden und Berührungsängste abgebaut werden. Ziel ist es, den Besucher*innen eine persönliche emotionale Erfahrung zu eröffnen und eine authentische Begegnung mit Menschen zu ermöglichen, die Expert*innen in eigener Sache sind: Im Dunkeln können blinde Menschen „sehen“, während die Besucher*innen für eine bestimmte Zeit „blind“ sind; in der Stille können gehörlose Menschen kommunizieren, während das hörende Publikum lernt, sich nonverbal auszudrücken; ältere Menschen treten mit der jungen Generation in den Kontakt und beweisen durch ihre Persönlichkeit, welche Werte sich in einer späten Lebensphase einstellen. Diese Rollentausche führen zu Perspektivenwechseln. Sie führen auch zu einer Veränderung im Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, jüngeren und älteren Personen. Die Ausstellungen sind Plattformen der Begegnung, im Vordergrund steht eine Veränderung des Verhaltens durch unmittelbares Erleben. Für Schulen und Unternehmen bietet das Dialoghaus mit dem gleichen Konzept Workshops zur Weiterbildung und Personalbildung an.

Dinner in the Dark

Außerdem gibt es die Möglichkeit, im Dialoghaus ein „Dinner in the Dark“ zu buchen. Das Dinner findet in vollkommen abgedunkelten Räumen statt. Haben sich die Augen der Besucher*innen an die Dunkelheit gewöhnt, werden sie von den Mitarbeiter*innen, die eine Sehbehinderung haben oder blind sind, an ihren Dinnertisch geführt. In einem kulinarischen Erlebnis werden die Geschmacksnerven herausgefordert. Dadurch, dass auf das Sehen verzichtet wird, werden Sinne wie Riechen, Fühlen und vor allem Schmecken noch intensiver angeregt. Die Gäste bekommen einen völlig neuen Zugang zu Getränken und Speisen. Das erste „Dinner in the Dark“ fand im Jahr 1993 auf dem Festival von Avignon (Festival d’Avignon) im Rahmen der Veranstaltungsserie Dark/Noir statt. Inspiriert von dem „Dialog im Dunkeln“, lud der Künstler Michel Reilhac andere Künstler*innen mit dem Wunsch ein, die Meinung und den Blickwinkel auf die „Zuschauenden“ zu ändern. Seither sind Dunkelrestaurants weltweit populär.

„Dialog im Dunkeln“ gibt es weltweit
Das Dialoghaus Hamburg hat seit der Eröffnung im April 2000 über 1,7 Millionen Menschen empfangen. Jährlich besuchen über 100.000 Besucher*innen die Ausstellungen. Die rund 60 Kolleginnen und Kollegen im Dialoghaus stehen für Inklusion und Diversität in der Gesellschaft: 60 Prozent aller Mitarbeiter*innen sind beeinträchtigt. Sie treten für eine empathische Welt ohne Vorurteile ein, in der die Menschen mutiger, toleranter und offener werden.

Die Idee hat sich inzwischen weltweit durchgesetzt. Neben dem Dialoghaus in Hamburg gibt es in Deutschland noch das Dialog Museum in Frankfurt am Main. Hier befindet sich neben der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ auch ein Klangraum, in dem man auf gemütlichen Klangmöbeln in absoluter Dunkelheit in eine Surroundsound-Installation eintaucht, die am ganzen Körper spürbar ist. Der Initiator Andreas Heinecke exportiert in Kooperation mit lokalen Partner*innen die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ inzwischen aber auch in viele Städte weltweit. 2008 etablierte er die Dialogue Social Enterprise GmbH als Dach für alle Dialog-Konzepte und als Beratungsunternehmen für die weltweiten Ausstellungen und Workshops. Vor Ort werden die Ausstellungen auf der Grundlage einer Franchising-Vereinbarung betrieben. In 38 Ländern gibt es den „Dialogue in the Dark“ schon. 8.000 sehbehinderte, blinde oder gehörlose Menschen finden dadurch weltweit einen Arbeitsplatz. Und mehr als acht Millionen Menschen haben in 38 Ländern und 170 Städten einen „Dialog im Dunkeln“, „Dialog im Stillen“ oder „Dialog mit der Zeit“ bisher erlebt. Auch das Konzept zu „Dinner in the Dark“ ist keine geschützte Marke der Dialogue Social Enterprise GmbH und lässt sich unter verschiedenen Namen an unterschiedlichen Veranstaltungsorten realisieren.

Andreas Heinecke wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet. Unter anderem ist er seit 2005 erster „Ashoka-Fellow“ in Europa; er ist Mitglied des Global Agenda Council on Social Entrepreneurship des Weltwirtschaftsforum (WEF) und Global Fellow der Schwab Foundation. Seit 2011 ist er Professor für Social Business an der European Business School in Oestrich-Winkel.
Im Oktober 2021 startet das Dialoghaus Hamburg mit einem neuen Projekt, dem Dialog-Lab. Auf einer neuen Beta-Ebene soll herausgefunden werden, wie Vielfalt, Empathie und Inklusion noch präsenter und erlebbarer gemacht werden können.




Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 07.10.2021
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