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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 10.03.2022:

„Wir brauchen Gesetze, die wirklich greifen.“

Forderungen der BAG zur Gleichstellung von Frauen
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Juliane Fischer-Rosendahl

Seit mehr als 100 Jahren feiern Frauen weltweit am 8. März den Internationalen Frauentag. Mit vielen verschiedenen Veranstaltungen machen sie aufmerksam auf bestehende Ungerechtigkeiten und kämpfen für ihre Rechte. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Juliane Fischer-Rosendahl, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte im Bezirksamt Berlin-Spandau und Bundessprecherin der „Bundesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauenbüros und Gleichstellungsstellen“ (BAG), über die aktuellen Gründe für die Ungleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland und die Forderungen der BAG an die Politik.


Online-Redaktion: Frauen machen jährlich rund um den 8. März darauf aufmerksam, dass eine Gleichstellung von Frauen und Männern noch nicht erreicht ist. Wo gibt es heute noch die größten Missstände in Deutschland?

Fischer-Rosendahl: Es gibt viele unterschiedliche Missstände - die große Betroffenheit von Frauen und Mädchen von sexualisierter und häuslicher Gewalt, von Menschenhandel, die nach wie vor sehr hohe Ungleichheit der Entlohnung und die damit einhergehenden Folgen. Dazu die mangelnde politische Repräsentation von Frauen in den Parlamenten (34 %), den hohen politischen und wirtschaftlichen Ämtern, das fehlende Selbstbestimmungsrecht, wenn es um Abtreibungen geht und die sehr ungleiche Verteilung der (unbezahlten) Sorgearbeit. Gleichzeitig sind Mädchen und Frauen keine heterogene Gruppe - viele sind doppelt und dreifach diskriminiert, z.B. kommt bei Frauen mit Migrationsgeschichte neben dem Gender Pay Gap auch noch der Migration Pay Gap hinzu - Sexismus und Rassismus bedeuten in ihrem Zusammenwirken noch geringeren Verdienst und damit weniger Chancen auf Teilhabe.

Online-Redaktion: Woran liegt es, dass Frauen erfolgreich in Schule, Ausbildung und Studium sind, es aber immer noch keine berufliche Gleichstellung zwischen Männern und Frauen gibt?

Fischer-Rosendahl: Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Einer der strukturellen Hauptgründe in Deutschland ist die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit. In Paarhaushalten mit Kindern leisten Mütter z.B. pro Tag (!) im Durchschnitt 2,5 Stunden mehr Sorgearbeit als Väter, zumeist kümmern sich auch die Frauen um die Pflege älterer Familienmitglieder (Gender Care Gap). Viele Frauen üben deshalb nur einen Teilzeit- oder einen Minijob aus, in dem sie entsprechend weniger verdienen. Das wirkt sich auch auf ihre Rente aus. (Frauen haben 50 Prozent weniger Rente als Männer und das bedeutet auch Altersarmut und Abhängigkeit.) Ein weiterer Grund ist, dass Frauen oft in Bereichen und Branchen arbeiten, in denen durchschnittlich deutlich schlechter bezahlt wird, z.B. in der Pflege. Aber Frauen verdienen in vielen Branchen auch bei gleicher Ausbildung und gleicher Tätigkeit weniger als Männer.

Online-Redaktion: In welchen Berufen und Branchen ist die ungleiche Bezahlung besonders gravierend?

Fischer-Rosendahl: In allen Bereichen verdienen Frauen weniger, auch in der Pflege, obwohl sie dort 70 Prozent der Arbeitnehmer*innen ausmachen. Aber es gibt Bereiche, in denen die Ungleichheit besonders hoch ist und in denen Frauen noch weniger verdienen. Das betrifft besonders Mischberufe, in denen Frauen und Männer gleichermaßen beschäftigt sind, wie den Technikhandel, den Großkaufhandel oder den Maschinenbau.

Online-Redaktion:
Wie kann Gleichstellung hier erreicht werden?

Fischer-Rosendahl: Bessere Bezahlung in den systemrelevanten Bereichen, die Abschaffung des Ehegattensplittings, gerechte Verteilung der Sorgearbeit, bessere Kinderbetreuung. Wir brauchen Gesetze, die tatsächlich greifen, Gesetze, die Frauen ermöglichen z.B. im Verband Schadensersatzklage bei Diskriminierung zu stellen - es gibt viele Rädchen, an denen gedreht werden könnte. Deutschland steht, was die berufliche Gleichstellung angeht, im europäischen Vergleich sehr schlecht da, das sehen wir seit Jahren, und ich würde mir wünschen, dass deutsche Politiker*innen den Blick nach außen wagen und offen sind, von anderen zu lernen. Es gibt Länder, in denen z.B. die Lohnschere deutlich geringer ist - ein Blick auf die dortigen Gesetze, Gesellschaft, Politik und Ökonomie würde sich natürlich lohnen. Island zum Beispiel hat schon vor Jahren mit Erfolg den Equal Pay Act erlassen, wir könnten also einfach lernen - warum tun wir es dann nicht?

Online-Redaktion: Wie unterstützt die BAG die berufliche Gleichstellung von Frauen und Männern?

Fischer-Rosendahl: Da die BAG eine Vernetzungsorganisation von kommunalen Frauenbüros und Gleichstellungsstellen ist, unterstützt die BAG Frauen und Männer nicht direkt bei der beruflichen Gleichstellung. Aber durch Kampagnen, Kooperationen, Information und Politikberatung versuchen wir Einfluss auf die Rahmenbedingungen der beruflichen Gleichstellung zu nehmen, z.B. auf die ungleiche Bezahlung, die Verteilung von Sorgearbeit, die Schließung der Rentenlücke.
Unsere Kampagne zum Thema „Sorgearbeit“ hatte das Ziel, bessere Arbeitsbedingungen und faire Löhne für Pflegekräfte zu erreichen. Da sind wir aber noch nicht am Ziel. Auch unsere Stellungnahmen zum Thema Mini-Job oder Lohnsteuerklasse V weisen immer wieder darauf hin, dass eine existenzsichernde Berufstätigkeit von Frauen nur mit vernünftigen Rahmenbedingungen möglich ist.

Online-Redaktion: Welche Forderungen haben Sie noch an die Politik, damit Frauen gleichgestellt leben und arbeiten können?

Fischer-Rosendahl: Wir brauchen eine antidiskriminatorische intersektionale Gleichstellungspolitik. Aber wir müssen das Rad nicht ganz neu erfinden, wir haben schon gute Instrumente. Die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) von 1979 verpflichtet die Vertragsstaaten, die Diskriminierung von Mädchen und Frauen auf allen Ebenen zu bekämpfen und ihre tatsächliche Gleichstellung zu verwirklichen. Deutschland hat die Konvention schon vor sehr langer Zeit unterschrieben, genauso wie die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt. Die konsequente Umsetzung der Ziele, nur dieser beiden Konventionen, die im Rang eines Bundesgesetzes stehen, würde uns bereits deutlich voranbringen. Vielleicht müssten wir dann nicht noch hundert Jahre bis zur Realisierung der Gleichstellung warten, wie es das World Economic Forum ausgerechnet hat. Es ist eine Frage des politischen Willens, immer und immer wieder.

Online-Redaktion: Trägt der Internationale Frauentag Ihrer Ansicht nach zu mehr Gleichstellung zwischen Frauen und Männern bei?

Fischer-Rosendahl: Ja, ganz sicher! Um den Tag herum passiert ganz viel in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung. Das ist sehr wichtig! Und der Weltfrauentag ist auch der Tag, an dem noch einmal intensiver über die eigenen Grenzen geschaut wird, wo noch einmal daran erinnert wird, dass weltweit erkämpfte Rechte für Frauen in einigen Ländern wieder eingeschränkt werden. An diesem Tag wird, wie viel zu selten, über die Frauen berichtet, denen unsere Solidarität und konkrete Unterstützung auch gelten sollte, denen, die oft jahrzehntelang in Kriegs- und Krisengebieten leben, sei es im Sudan, im Iran, in der Ukraine oder in Afghanistan.

Online-Redaktion: Mit welchen Aktionen sind Sie beim Internationalen Frauentag vertreten?

Fischer-Rosendahl: Wir sind ein Verband von Tausenden Gleichstellungsbeauftragten. Die Kolleginnen wissen am besten, was die wichtigen Themen in ihren Regionen, Städten und Bezirken sind und welche Problemlagen es gibt. Danach richten sie ihre Veranstaltungen aus. Wir organisieren Veranstaltungsreihen, präsentieren Frauenfilmreihen, nehmen an Diskussionsrunden zum Thema teil - und gehen natürlich demonstrieren!



Juliane Fischer-Rosendahl ist seit August 2018 Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte
des Bezirksamts Berlin-Spandau. Ihre Themenschwerpunkte sind Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern (Gender Pay Gap, Gender Pension Gap), geschlechtsspezifische Gewalt, Gender Data Gap, Rechte von FLINTA*, gendergerechte Stadtplanung, Intersektionen von Diskriminierungskategorien. Sie wurde auf der 26. Bundeskonferenz in Flensburg 2021 zur Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Frauenbüros und Gleichstellungsstellen (BAG) gewählt.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 10.03.2022
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