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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 15.03.2012:

Mathematik zum Anfassen — das Mathematikum in Gießen

Das erste Mathematik-Mitmachmuseum der Welt feiert in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen
Das Bild zum Artikel
Interessierter Junge im Mathematikum
Quelle: Mathematikum Gießen/Fotograf: Rolf K. Wegst

Mathematik kann Spaß machen? Mathematik lockt die Massen? Das Mathematikum in Gießen, das erste Mathematik-Mitmachmuseum der Welt, beweist seit zehn Jahren, dass es möglich ist, vom Kindergartenalter an Jungen und Mädchen für die Mathematik zu begeistern. Mit faszinierenden Exponaten, die Kopf, Hand und Herz zugleich ansprechen, werden mathematische Zusammenhänge quasi spielerisch leicht vermittelt.

„Mathematik kann Spaß machen. Das habe ich hier erfahren.“ Mit diesen Worten eröffnete Bundespräsident Johannes Rau am 19. November 2002 das Mathematikum in Gießen. Das erste mathematische Mitmachmuseum feiert also in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen — und hat in Zeiten sinkender Studierendenzahlen in den MINT-Fächern und drohenden Facharbeitermangels nichts von seiner Relevanz eingebüßt. Im Gegenteil scheint es wichtiger denn je zu vermitteln, dass „Mathematik Spaß machen kann“.

Das Jubiläumsjahr 2012 begann erst einmal ungewöhnlich: Mit einer zweiwöchigen Schließung. Das Mathematikum, das im ehemaligen Hauptzollamt der Stadt Gießen beheimatet ist, wurde von Handwerkern, Malern und Grafikern neu herausgeputzt. „Wir haben neu gestrichen, die Böden erneuert, fällige Reparaturen gemacht, unsere Exponate in Stand gesetzt und auch neue hinzugefügt“, berichtet Elisabeth Maaß vom Trägerverein Mathematikum e.V. Am 22. Januar eröffnete das „neue“ Mathematikum dann mit einem Tag der offenen Tür, zu dem rund 2.000 Besucherinnen und Besucher strömten — „unser bislang besucherstärkster Tag“, freut sich Elisabeth Maaß über den gelungenen Auftakt. Das Jubiläumsjahr findet am eigentlichen „Geburtstag“ des Mathematikums, dem 19. November 2012, mit einem Festakt seinen Höhepunkt.

Jährlich sind es im Schnitt 150.000 jüngere und ältere Neugierige, die in die vielfältige Welt der Mathematik abtauchen und dabei vor allem selbst viel ausprobieren können. An über 150 Experimentierstationen kann man mathematische Erfahrungen sammeln. Durch das Ausprobieren und Experimentieren werden komplexe mathematische Zusammenhänge auf einfache Weise anschaulich und buchstäblich „begreifbar“.

Mit Hand, Kopf und Herz
Das zugrunde liegende Prinzip lässt sich auf die Forderung von Johann Pestalozzi zurückführen, dass Lernen mit Kopf, Herz und Hand am erfolgreichsten ist. In der Ausstellung kommen allerdings zuerst die Hände zum Einsatz: Alle Exponate zeigen sich von ihrer spielerischen Seite, keines erinnert an das „Horrorfach“ Mathematik. Automatisch beginnt dann beim Spielen oder Bauen auch der Kopf zu arbeiten. Es stellen sich Fragen: Warum ist das so? Warum ist eine Kugel schneller als die andere? Warum hält diese Brücke ohne Hilfsmittel? Und schließlich das Herz: Die Kombination von spielerischem Erkunden und gedanklichem Problemlösen bereitet Freude: „Mathe macht glücklich.“

Eines der beliebtesten Exponate im Mathematikum und sozusagen ein Dauerbrenner ist die Riesenseifenhaut: Die Besucherin oder der Besucher stellt sich dabei in die Mitte einer ringförmigen Wanne, zieht an einem Seil. Erreicht man dabei den richtigen Schwung, zieht sich um die Experimentierende oder den Experimentierenden eine Seifenhaut hoch — und man steht für einen Augenblick in einer in allen Farben funkelnden Fläche. Dieses Experiment veranschaulicht eine Minimalfläche — eine Fläche mit charakteristischer Form, die oben und unten ringförmig gehalten wird und sich in der Mitte verjüngt.

Wie man eine Brücke ohne Leim, Nägel, Schnüre oder Schrauben bauen kann, können Jungen und Mädchen bei der Leonardo-Brücke ausprobieren. Dazu benötigen sie lediglich einfache Latten verschiedener Länge und eine ruhige Hand. Nach und nach kann man die Brücke von zwei Bauteilen ausgehend immer mehr erweitern. Diese Konstruktion geht, der Name verrät es, auf eine Erfindung Leonardo da Vincis im 15. Jahrhundert zurück.

„Mathematik zum Anfassen“
Die Idee, Mathematik durch Selbermachen und Ausprobieren in einem Science Center anschaulich zu machen, geht auf Albrecht Beutelspacher zurück. Der Direktor des Mathematikums hatte als Professor für Mathematik an der Universität Gießen Mitte der neunziger Jahre seine Studentinnen und Studenten geometrische Modelle bauen lassen, die dann in Ausstellungen unter dem Motto „Mathematik zum Anfassen“ gezeigt wurden. 1996 kam die Idee auf, diese Ausstellungen zu verstetigen und ein Mathematik-Mitmachmuseum zu eröffnen. Um dies zu erreichen, gründete sich ein Förderverein.

Nach viel Resonanz mit ihren Wanderausstellungen im In- und Ausland — so 1998 auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Berlin, als 10.000 Interessierte die „Mathematik zum Anfassen“-Ausstellung besuchten — und Preisverleihungen für Beutelspacher, erfolgte zur Jahreswende 2000/2001 der entscheidende Durchbruch: Ruth Wagner, die Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, stellte eine Million Mark für den Umbau des Mathematikums zur Verfügung. Die Stadt Gießen kaufte daraufhin das ehemalige Hauptzollamt und überließ es dem Förderverein zur Schaffung des Mathematikmuseums kostenlos.

Rund eineinhalb Jahre später erfolgte dann nach neun Monaten Bauzeit die Eröffnung. Von Anfang an wurden die erhofften Besucherzahlen weit übertroffen und machten schnell Erweiterungen notwendig. So kamen im ersten Jahr statt der prognostizierten 60.000 rund 135.000 Besucherinnen und Besucher. 2003 kamen so ein zweites Geschoss und das ehemalige Lagerhaus mit einem Veranstaltungsraum und einem neuen Ausstellungsraum dazu. Auf nun insgesamt circa 1.000 qm können seitdem etwa 150 Exponate gezeigt werden. 2009 öffnete das Mini-Mathematikum für die ganz jungen Besucherinnen und Besucher im 3. Stockwerk des Mathematikums seine Pforten. Im Mai 2006 begrüßte das Mathematikum den 500.000. Besucher; die Millionengrenze wurde Anfang 2010 geknackt.

„Uns verbindet der Spaß“
Das Mathematikum trägt sich selbst durch die Einnahmen aus den Eintrittsgeldern und aus Sponsorengeldern, die der umtriebige Leiter immer wieder auftut. Teilweise arbeiten Festangestellte im Mathematikum, sehr viel wird aber von Aushilfen bewerkstelligt, Schüler, Rentner und natürlich auch Studentinnen und Studenten der Universität Gießen, die Andreas Beutelspacher in seinen Seminaren dafür begeistern kann, im Mathematikum mitzuhelfen. „Hier arbeiten aber nicht nur Mathe-Asse“, erläutert Elisabeth Maaß, „sondern auch Menschen ganz unterschiedlicher Professionen, was sehr reizvoll ist. Was uns alle verbindet, ist der Spaß, den wir an der Sache haben und der auch durch die Resonanz der Besucherinnen und Besucher entsteht.“

Der Erfolg des Mathematikums ist sicherlich auch in seinem Konzept begründet, die Mathematik in Bezug auf Alltagserscheinungen und Anwendungen zu setzen und verständlich zu machen. Aber es ist auch das Vermögen des Fördervereins Mathematikum e.V., mit Einzelveranstaltungen immer wieder Neugier zu wecken und mit Aufsehen erregenden Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. Am 5. Juni 2004 wurde beispielsweise im Mathematikum der Pi-Vorleseweltrekord aufgestellt: 30 Stunden lang trugen über 300 Menschen insgesamt 108.000-Nachkommastellen der Kreiszahl vor.

Im Jahr 2006 gehörte das Mathematikum zu einem der 365 Orte im „Land der Ideen“. Am 10. März 2006 hieß es anlässlich dieser Auszeichnung für ganz Gießen: „Hier müssen Sie mit allem rechnen“. An jenem Tag standen unter der Überschrift „Von eins bis eins“ am Nachmittag unter anderem mathematische Führungen durch die Innenstadt auf dem Programm; ab 20 Uhr drehte sich im Rahmen der „Langen Nacht der Mathematik“ alles um mathematische Zaubereien und Experimente. Aktuell ist für den 23. März 2012 eine neue Auflage der beliebten „Langen Nacht der Mathematik“ geplant.

Vom Kindergarten bis zum Seniorenheim
„Ich denke, dass der Erfolg des Mathematikums aus der Einfachheit unserer Präsentation rührt“, meint Elisabeth Maaß, die auch als Assistentin von Prof. Beutelspacher wirkt. „Wir machen keine große Show oder aufwändige Inszenierung, sondern vertrauen auf das mathematische Phänomen selbst. Das spricht ganze Familien an, die in unsere Ausstellung kommen und durch gute Mundpropaganda dafür sorgen, dass uns die Besucher nicht ausgehen.“

Darüber hinaus führt das Mathematikum regelmäßig Kindervorlesungen mit Themen wie „Wie haben die Römer gerechnet?“ durch, bietet Lehrerfortbildungen und Führungen an, lädt zu Seniorennachmittagen ein. Einmal im Monat bittet Prof. Beutelspacher Kolleginnen und Kollegen zu einem Talk-Abend auf „Beutelspachers Sofa“. Dazu kommen zahlreiche Sonderausstellungen zu Themen, die auch nur noch im Entfernten mit Mathematik zu tun haben können, wie zum Beispiel „BlickPunkte - Optische Phänomene, faszinierende Täuschungen, verblüffende Erkenntnisse“, „Rätsel“, „NaturTalente“ oder zuletzt im Sommer 2011 „Was für ein Zufall“.

Sogar Kunstausstellungen unter dem Motto „Kunst im Mathematikum“ organisiert der Förderverein. In Zusammenarbeit mit Galerien sind seit 2004 Künstler wie Janosch, Christo und Victor Vasarely gezeigt worden. In Zusammenarbeit mit dem Caricatura Museum Frankfurt - Museum für Komische Kunst stellte das Mathematikum 2010 Werke von Robert Gernhardt aus. 2011 war dann die Ausstellung „Den Rest können Sie sich denken!“ mit Karikaturen und Cartoons von F.W. Bernstein zu sehen.

Weiterhin Wanderausstellungen

Das „Mathematikum“ vergisst dabei seine Wurzeln nicht und ist auch weiterhin als Wanderausstellung unterwegs. Allein in diesem Jahr stehen rund 20 Ausstellungen in Frankreich und Deutschland auf dem Programm. Die Aussteller können aus zwei verschiedenen Ausstellungen wählen. Die Standard-Ausstellung besteht aus 20 festgelegten Exponaten. Die Plus-Ausstellung besteht aus 25 Exponaten, aus denen die Aussteller aus einem Pool von über 50 Exponaten auswählen können.

Auch das Mini-Mathematikum geht regelmäßig auf Tour. Mit der Eröffnung des Mini-Mathematikums am 16. November 2007 reagierte der Förderverein auf den Umstand, dass viele Familien mit Kindern im Kindergartenalter das Mathematikum besuchten. Um den Bedürfnissen der ganz jungen Besucher besser gerecht werden zu können, bot man nun spezielle Exponate für vier- bis achtjährige Kinder an. Diese Exponate ähneln denen des Mathematikums, aber in Form und Größe sind sie an diese jüngere Altersgruppe angepasst. In vielfältiger Weise werden die Grundthemen der Mathematik „Zahlen“, „Formen“ und „Muster“ erfahrbar gemacht.

Am Knobeltisch können die Kinder zum Beispiel versuchen, aus zwei Teilen einen Würfel zusammenzubauen oder bunt gefärbte Quadrate richtig anzuordnen. Sie können Formen fühlen oder sich im Spiegelhäuschen unendlich oft von allen Seiten sehen oder feststellen, dass der direkte Weg nicht immer der schnellste ist.

Ursprünglich war das Mini-Mathematikum nur als Ausstellung, nicht als fester Bestandteil des Mathematikums gedacht. Aber nach der guten Resonanz auf die Ausstellung, die dann 2008 in ganz Deutschland gezeigt wurde, entschloss man sich, sie zur Dauerausstellung in der Gießener „Zentrale“ zu machen. Nun ist das Mini-Mathematikum von montags bis freitags an den Vormittagen und am frühen Nachmittag für angemeldete Kindergruppen reserviert. Nachmittags und am Wochenende können Familien die Welt der Mathematik entdecken und feststellen, dass es nie zu früh ist, Spaß mit Mathe zu haben.

Autor(in): Ralf Augsburg
Kontakt zur Redaktion
Datum: 15.03.2012
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