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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 18.11.2010:

Auslaufmodell Hauptschule?

Pro und Kontra Hauptschule

Immer weniger Schüler, immer größere soziale Probleme, immer schlechtere Berufschancen: Das kommt vielen in den Sinn, wenn sie das Wort „Hauptschule“ hören. Die deutsche Hauptschule hat ein Imageproblem. Als eigenständige Schulform gibt es sie inzwischen nur noch in fünf Bundesländern. Mancher möchte sie auch dort abschaffen. Aber es gibt auch Gegenstimmen, die die Vorteile der Hauptschule betonen. Sollte man Hauptschulen also generell abschaffen, oder sind sie vielmehr die letzte Chance für sozial benachteiligte Schüler?

Der Schülerschwund zwingt zu Umstrukturierungen
Ihr Name vermittelt das ursprüngliche Programm: Die Hauptschule, in den 1960er Jahren aus der Oberstufe der Volksschule hervorgegangen, sollte Regel- und Pflichtschule für alle Schüler nach der Grundschule sein, eben die hauptsächliche Schulform. Der Hauptschulabschluss nach vier bis fünf Jahren war dazu gedacht, insbesondere für Jobs im dualen Bildungssystem zu qualifizieren. Allerdings sind die Hauptschulen längst nicht mehr der Regelfall. Im Gegenteil: Gingen vor zwanzig Jahren noch 66 Prozent eines Jahrganges auf die Hauptschule, so besucht sie heutzutage bundesweit nur noch jeder zehnte Grundschulabgänger, in den alten Bundesländern ca. 30 Prozent. Der Anteil der Hauptschüler an allen Schülern eines Jahrganges nimmt seit Jahren bundesweit ab, im Zeitraum von 2002 bis 2005 um durchschnittlich 2,5 Prozent. Im Jahr 2007 waren das weniger als 100.000 Schüler. Seitdem hat die Hauptschule auch ein demografisches Legitimationsproblem, das durch das allgemeine Sinken der Schülerzahlen aufgrund geburtenschwacher Jahrgänge noch verstärkt wird. Die Bundesländer haben darauf auf verschiedene Weise reagiert: Während die ostdeutschen Bundesländer mit Ausnahme Berlins die einfache Hauptschule nach der Wiedervereinigung gar nicht erst einführten, haben sich andere Bundesländer für eine Abschaffung der Hauptschule als eigenständige Schulform entschieden. Das führt teilweise dazu, dass Haupt- und Realschulen zu neuen Schulformen zusammengelegt werden – und somit mehr Schüler erfassen können.

Situation in den einzelnen Ländern
Der föderale Flickenteppich in punkto Schulausbildung in Deutschland wird dadurch noch bunter. In Hamburg ersetzen so genannte Stadtteilschulen die bisherigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen als Alternative zum Gymnasium, dessen Existenzberechtigung kein Bundesland wirklich in Frage stellt. Schleswig-Holstein hatte sich zum Ziel gesetzt, bis zum Schuljahr 2010/2011 alle Haupt- und Realschulen zu Regionalschulen zusammenzulegen. Das Saarland und Rheinland-Pfalz setzen ähnlich wie die östlichen Bundesländer mit ihren Mittel-, Regel- und Oberschulen auf Regionale Schulen bzw. Erweiterte Realschulen, die sich jeweils in Haupt- und Realschulzweige gliedern. Auch in Berlin werden seit 2010 Haupt-, Real- und Gesamtschule in eine neue Schulform integriert: die Integrierte Sekundarschule. Viele der Bundesländer halten noch an der Gesamtschule fest, so bietet Rheinland-Pfalz neben der „Realschule plus“ die „Integrierte Gesamtschule“ an. Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen befürworten nach wie vor das Hauptschulprinzip. Während die drei letztgenannten Länder Reformversuche starteten und Niedersachsen nun sogar eine Abschaffung der Hauptschule in Erwägung zieht, zählen die beiden großen südlichen Bundesländer und ihre Bildungspolitiker zu den vehementesten Verfechtern des dreigliedrigen Schulsystems ohne Gemeinschafts- oder Gesamtschulen. Hauptschulen genießen dabei im süddeutschen Raum oftmals einen guten Ruf – ganz anders als jene in westdeutschen Ballungsbezirken wie dem Ruhrpott oder in Berliner Problembezirken.

Debatte um die Hauptschule
Hauptschullehrer wie Wolfgang Lüdtke, Leiter der Kepler-Schule in Berlin-Neukölln, stört die Stigmatisierung der Hauptschule. „Wie sollen meine Schüler Selbstbewusstsein entwickeln, wenn es nach außen so aussieht, als ob die Hauptschule das Schlimmste sei, was einem passieren kann? Die glauben doch ohnehin schon, Versager zu sein.“ 60 Prozent seiner Hauptschüler sind Kinder von Einwanderern, viele haben eklatante Sprachdefizite im Deutschen. Ein Viertel aller Kepler-Schüler verlässt die Schule ohne Abschluss. Die Hauptschulen reagieren darauf mit vielfältigen und kreativen Programmen wie der Stärkung sozialer Gruppenarbeit, Gewaltprävention, Deutschkursen für ausländische Schüler und immer engerer Anbindung an den betrieblichen Alltag durch Schulpraktika in Unternehmen und Handwerksbetrieben.

Dennoch bleibt manches ein Kampf gegen Windmühlen, vor allem in sozialen Problembezirken. Fragt man nach den Ursachen für die Misere vieler Hauptschulen, so gerät man in eine der zahlreichen Schulstrukturdebatten. Für Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes, sind die Gesamtschulen und ein fataler Trend zur Einheitsschule mitverantwortlich. Gerne verweist er auf vergleichsweise gute PISA-Ergebnisse bayerischer Hauptschulen. Es sei insgesamt „schäbig, die schwierige Situation verschiedener Hauptschulen für uralte Gesamtschulträume zu instrumentalisieren. Die Forderung nach der Abschaffung der Hauptschule ist Schaufensterpolitik.“ Denn: „Für mindestens zwanzig bis dreißig Prozent eines Geburtsjahrgangs stellt die Pädagogik dieser Schulart die optimale Förderung dar. Für viele bietet sie die einzige Hoffnung auf einen Schulabschluss.“ Statt sie abzuschaffen müsse man die Hauptschulen von innen heraus reformieren. Deshalb lobt Kraus den alle zwei Jahre vergebenen Hauptschulpreis für gelungene Projekte genauso wie die Hauptschulinitiative in NRW, welche die Hauptschulen stärken soll: durch mehr Ganztagsangebote, durch die Einrichtung von Kooperationsklassen mit Berufskolleg oder durch die Etablierung einer zweiten Fremdsprache für Schüler mit Zuwanderergeschichte. Auch Initiativen wie der „Arbeitskreis Hauptschule“ setzen sich mit ähnlichen Argumenten für die Beibehaltung und Förderung der Hauptschule ein.

Hauptschule gleich „Restschule“
Für andere ist es gerade das starre Festhalten an der relativ frühen Aufteilung von Kindern in verschiedene Schulformen, das soziale Ungerechtigkeit fördert. Die Hauptschulen werden zu „Restschulen“, auf denen vor allem die Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachen Familien landen. Andreas Schleicher, PISA-Koordinator der OECD, kritisiert die soziale Selektion: „Solange der Lehrer eines Gymnasiums oder einer Realschule keinen Anreiz hat, schwächere Schüler zu fördern, und sie an die darunterliegende Schulform weiterreichen kann, wird sich an der Situation nichts ändern.“ Der Bildungsforscher Jürgen Baumert, Initiator des ersten PISA-Vergleichs in Deutschland und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, stellte in einem Interview im Mai 2009 fest: „Es gibt Befunde, dass ein frühes Aufteilen der Kinder auf getrennte Schulformen […] soziale Ungleichheiten verstärkt.“ Die 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks kommt zu dem Ergebnis, dass 2007 nur 33 Prozent der Kinder von Arbeitern die gymnasiale Oberstufe besuchten, während es unter Beamtenkindern 73 Prozent waren. Die PISA-Studien belegten zum Teil den Trend zur sozialen Selektion im deutschen Schulwesen. Im Vergleich zu allen anderen OECD-Ländern weist in der Bundesrepublik die soziale Herkunft der Schüler den stärksten Zusammenhang mit der am Ende der Vollzeitschulpflicht erreichten Lesekompetenz auf.

Drei Typen von Hauptschulen
Allerdings verträgt die Debatte „Pro und Kontra Hauptschule“ keine Pauschalisierung. So unterschiedlich Bildungspolitik und soziale Bedingungen in den Bundesländern und einzelnen Regionen sind, so differenziert muss auch abgewogen werden, ob und wenn ja, welche Hauptschulen pädagogisch sinnvoll sind. Die Bildungsforscher Ulrich Trautwein, Jürgen Baumert und Kai Maaz haben in einer Studie von 2007 drei Typen von Hauptschulen ausfindig gemacht: Die Modalform bilden Hauptschulen mit mittlerem Leistungsniveau, wozu 45 Prozent aller bundesdeutschen Hauptschulen zählen. Hauptschulen des zweiten Typus weisen ein niedriges Leistungsniveau auf. Hier kommen mehrere Risiko- und Belastungsfaktoren zusammen: 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler stammen aus Migrantenfamilien, in denen zuhause nicht Deutsch gesprochen wird. Fast ein Drittel der Familien ist von Arbeitslosigkeit betroffen, und 40 Prozent der Eltern verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Diese Problemschulen, insgesamt 16 Prozent aller Hauptschulen, sind vor allem in Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen zu finden.

Der dritte Typus sind leistungsstarke Hauptschulen. Sie sind durch ein besonders günstiges Schulklima gekennzeichnet und in nennenswertem Umfang nur in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz vorhanden. So ist der soziale Gradient – der Zusammenhang von Leistungsniveau und sozioökonomischem Status der Familie der Schüler – in den Problemschulen z. B. im Ruhrgebiet wesentlich höher als in den leistungsstarken Hauptschulen.

Allerdings ist „selbst bei Berücksichtigung des Leistungsstandards […] die Chance von Kindern aus bildungsnahen Familien, auf das Gymnasium zu wechseln, höher als jene von bildungsfernen Schichten. Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern sind deshalb an der Hauptschule, selbst bei Berücksichtigung ihres Leistungsstands, überrepräsentiert.“ Einfacher ausgedrückt: Beamten- und Akademikerkinder landen auch in Bayern mit einem niedrigeren sozialen Gradienten nur im Ausnahmefall auf der Hauptschule statt auf dem Gymnasium.

Beeinträchtigt ein Hauptschulbesuch die Lernmotivation?
Die Frage steht im Raum, ob die Hauptschule die Motivation der Schüler negativ beeinträchtigt. Ja, sagen die einen und führen an, dass die öffentliche Stigmatisierung der Hauptschule besonders seit PISA und den Ereignissen an der Berliner Rütli-Schule den Identitätsentwurf der Hauptschüler signifikant beeinflusse. Weil die Gesellschaft diese Schulform abwerte, nach dem Motto, auf Versagerschulen gehen nur Versager, werteten sich diejenigen, die Teil von ihr sind, schließlich quasi automatisch mit ab. Außerdem schaffe die Konzentration von Karrieren des Misserfolgs „eine ungünstige Atmosphäre, die sich wie Mehltau auf Anstrengungsbereitschaft und Erwartungshaltungen lege“. Den schwächeren Schülern fehle es an der Hauptschule schlichtweg an direkten erfolgreichen Vorbildern.

Konträr dazu stehen Meinungen, die den Hauptschulen eine einzigartige Chance beim Aufbau von Identität und Selbstwertgefühl zumessen. Einmal bleibe den Hauptschülern der eher frustrierende Vergleich mit leistungsstarken und letztlich unerreichbaren Mitschülern, wie sie die Gymnasiasten darstellten, erspart. Zum anderen sei an vielen Hauptschulen ein besonderes Ethos der Verantwortung festzustellen. Hauptschullehrer begegneten ihren Schülern viel weniger distanziert als beispielsweise Gymnasiallehrer. Dazu Trautwein, Baumert und Maaz: „Die Ergebnisse mehrerer Untersuchungen jüngeren Datums liefern in der Tat Hinweise dafür, dass der Hauptschulbesuch in der Summe positive Konsequenzen für Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und die Interessenentwicklung hat.“ Die Stigmatisierungseffekte von außen seien im Ganzen geringer als die positiven sozialen Effekte der Gruppenzusammengehörigkeit von Hauptschülern.

40 Prozent aller Hauptschüler finden eine Ausbildung
Vielen gilt die Hauptschule auch deshalb als Sackgasse, weil sie ihren Absolventen selbst in den klassischen Berufsfeldern für Hauptschüler schlechtere Berufschancen eröffne als vor allem Realschülern, aber auch Gymnasiasten. Arbeitgeber auch im dualen System stellten immer höhere Anforderungen, denen Hauptschüler (noch) nicht gewachsen seien. So haben tatsächlich über die Hälfte aller Hauptschulabsolventen Maßnahmen im Übergangssystem wahrgenommen, wie z. B. Angebote außerschulischer Träger und teilqualifizierende Angebote. Nur Jugendliche ohne jeden Schulabschluss haben hier einen größeren Anteil. Dies scheint zu belegen, dass Hauptschüler Weiterqualifikationen benötigen, um auf dem Arbeitsmarkt akzeptiert zu werden. Auf der anderen Seite finden ca. 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss eine Ausbildung, wobei weitere acht Prozent sogar den Übergang in eine vollzeitliche Ausbildung oder eine Beamtenausbildung schaffen. In den südlichen Bundesländern mit ihrem vergleichsweise starken Leistungsniveau an Hauptschulen erreicht sogar ein signifikanter Prozentsatz den „Aufstieg“ ins Gymnasium. In Baden-Württemberg, so die Studie „Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren“ (TOSCA) von 2004, haben immerhin 13 Prozent aller Abiturienten beruflicher Gymnasien zuvor einen Teil ihrer Schullaufbahn an der Hauptschule verbracht.

Auch wenn der Trend insgesamt gegen die Hauptschule spricht, die es europaweit so auch nur noch im Nachbarland Österreich gibt, so muss dies nicht zwangsläufig das bildungspolitische Aus für diese traditionelle Schulform bedeuten. Ulrich Trautwein, Jürgen Baumert und Kai Maaz resümieren: „Die Hauptschule scheint dann einen sinnvollen Bestandteil des mehrgliedrigen Schulsystems darzustellen, wenn sie ein anspruchsvolles Programm für einen bedeutsamen Anteil der Schülerschaft anbieten kann und attraktive schulische oder berufliche Anschlussmöglichkeiten bestehen.“ Sinkt der Anteil der Hauptschüler in einer Region unter ein bestimmtes Niveau und ist die soziale Struktur zu problematisch, so „ist mit einer Belastung des Unterrichts und einer Beeinträchtigung von Leistungs- und Persönlichkeitsentwicklung zu rechnen“.

Autor(in): Arndt Kremer
Kontakt zur Redaktion
Datum: 18.11.2010
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