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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 30.11.2000:

"Alle müssen sich als Lernende begreifen"

Wissenschaftssenatorin Krista Sager über die Lernende Gesellschaft
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Krista Sager

Forum Bildung: Was verstehen Sie unter "Lernende Gesellschaft"?

Sager: Unter der Lernenden Gesellschaft verstehe ich eine Gesellschaft, in der sich alle Gesellschaftsmitglieder als Lernende begreifen. Es geht darum - ohne dass damit eine "Verschulung der Gesellschaft" angestrebt wird - sich in vielen verschiedenen Lebenszusammenhängen und -bereichen als Lernende zu begreifen. Damit einhergehen sollte auch eine größere Toleranz gegenüber Lernenden und den Fehlern, die sie anfänglich machen. Es muss die Entstehung einer Kultur gefördert werden, in der das Lernen, und zwar das lebenslange, zur Selbstverständlichkeit wird.Dies gilt umso mehr, als die Zeit der "Lebensberufe" für immer mehr Menschen vorbei ist. Es wird zunehmend zum Normalfall, im Laufe seines Lebens mehrere verschiedene Berufe oder Tätigkeiten auszuüben. Außerdem steigt die Wissensintensität von Produkten und Dienstleistungen, beschleunigen sich Innovationszyklen und steigen die zunehmend schneller verfügbaren Informationsmengen.Dies erfordert, dass die Bildungszeiten, die insgesamt sicher zunehmen müssen, anders auf die Lebenszeit verteilt werden müssen. Die Weiterbildung muss im Verhältnis zur Erstausbildung an Bedeutung gewinnen

Forum Bildung: In der "Lernenden Gesellschaft" von morgen soll dem informellen Lernen eine große Bedeutung zukommen. Wie lassen sich klassische Bildungseinrichtungen und informelles Lernen verbinden?

Sager: Dies ist eine sehr wichtige und schwierige Frage. Zum einen müssen die Bildungseinrichtungen die gestiegene Bedeutung des selbständigen Lernens erkennen und sich in ihren Bildungsangeboten darauf einstellen. Notwendig sind vor allem neue Lernkonzepte, die auf projektorientiertes, selbstgesteuertes Lernen setzen. Dazu gehört möglicherweise auch die Auflösung starrer Zeittakte in der Schule. Warum sollen Schüler und Schülerinnen nicht tage- oder wochenweise bestimmte Projekte verfolgen? Im projektorientierten, selbstgesteuerten Lernen, evtl. in Gruppen, fände dann automatisch auch informelles Lernen statt. Die Schüler und Schülerinnen würden neben dem inhaltlichen Wissen, das sie durch ihr Projekt erwerben quasi "automatisch" auch andere Kompetenzen wie Organisieren, Teamfähigkeit etc. erwerben. Die Einführung neuer Lernkonzepte könnte z.B. ergänzt werden, durch eine Öffnung von bestehenden Computerräumen auch am Nachmittag, so dass die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit haben, in Eigenverantwortung - gegebenenfalls mit Unterstützung von Mentoren oder Tutoren - selbstbestimmt lernen zu können. Langfristig wäre es schön, wenn sich Hochschulen, Bücherhallen, Gemeindezentren und Volkshochschulen zu Selbstlernzentren dieser Art entwickeln könnten, die allen offenstehen. Dies läßt sich natürlich nicht von heute auf morgen verwirklichen, sollte aber als langfristiges Ziel im Auge behalten werden, um die Entstehung einer Lernenden Gesellschaft zu unterstützen.Zum anderen geht es auch darum, den Lernenden das Signal zu geben, dass sich lebenslanges Lernen für sie lohnt, ihnen konkrete Vorteile daraus erwachsen. Nur wenn dies gelingt, kann eine neue Lernkultur entstehen. Deshalb muss nach Wegen gesucht werden, wie sich Kompetenzen, die man informell erlangt hat, auch formal ausweisen lassen, so dass sie beispielsweise für potentielle Arbeitgeber als Qualifikation erkennbar werden. Auch hierbei sind die Bidungseinrichtungen gefragt. Es müssen Angebote geschaffen werden, die es Lernenden ermöglichen, ihre auf unterschiedlichste Arten erworbenen Kenntnisse unter Beweis zu stellen und sich dies auch zertifizieren zu lassen.

Forum Bildung: Ein Beispiel: Menschen, die nah an der Grenze zu Frankreich wohnen und perfekt Französisch sprechen. Wie lässt sich diese Sprachkompetenz formal anerkennen?

Sager: In diesem Fall ist die Antwort sehr leicht zu geben. Die Lösung zur formalen Anerkennung der Sprachkompetenz läßt sich durch einen Test, über dessen Ergebnis man eine Bescheinigung erhält, erreichen. So weit ich weiß, bieten beispielsweise die Instituts Francaises solche Tests in Deutschland an. Ähnliche Möglichkeiten könnten auch für andere Kompetenzen geschaffen werden.

Forum Bildung: Brauchen wir eine "Stiftung Bildungstest"?

Sager: Es gibt in Deutschland einen sehr großen Weiterbildungsmarkt, auf dem sich eine Vielzahl von privaten und staatlichen Bildungsanbietern tummeln. Das ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Ich plädiere sehr dafür, diese Vielfalt zu erhalten. Mit dem vielfältigen Angebot ist aber zur Zeit ein Problem verbunden: Die Nachfrager nach Bildung können sich nur sehr schwer einen Überblick über die verschiedenen Angebote verschaffen, es fehlt an Markttransparenz und zuverlässigen Hinweisen auf die Qualität der unterschiedlichen Angebote. Der "Verbraucherschutz" und die Qualitätssicherung sind deshalb wichtige Aufgaben in diesem Sektor. Eine Stiftung Bildungstest könnte für Fragen der Qualitätssicherung und des Verbraucherschutzes zuständig sein und so zur größeren Markttransparenz beitragen. Sie soll Qualitätssiegel an Bildungseinrichtungen vergeben können und Anlaufstelle für Bildungssuchende sein, damit diese sich einen Überblick über die Weiterbildungslandschaft verschaffen können. Die Stiftung könnte unter anderem mit der Einrichtung eines Internet-Bildungsportals beauftragt werden, das den Lernenden eine möglichst komplette Übersicht über Weiterbildungsangebote bieten soll. Ein Vorschlag wäre z.B., dass eine solche Stiftung von der öffentlichen Hand, Bildungseinrichtungen und den Sozialpartnern gemeinsam getragen wird.

Forum Bildung: Sie fordern mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Kann man das auf politischer Ebene fördern?

Sager: Zunächst einmal ergibt sich die Forderung nach Eigeninitiative und Selbstbestimmung aus den oben beschriebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen. Wenn Ausbildung und Bildung nicht mehr auf einen Lebensberuf vorbereiten können und die Lernenden zu unterschiedlichen Zeiten in ihrer Biographie Ausbildungsleistungen nachfragen, dann kann man diesen Anforderungen nur gerecht werden, wenn man den Lernenden mehr Wahlmöglichkeiten einräumt.Ich glaube sehr wohl, dass die Politik Rahmenbedingungen setzen kann, die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung fördern. Die grundsätzliche Überlegung ist hierbei, entgegen der alleinigen institutionellen Finanzierung, den Einstieg in eine stärker individuenbezogene Finanzierung von Bildung zu organisieren. Das heißt, ein Teil der öffentlichen Ausgaben für Bildung wird nicht den Bildungseinrichtungen direkt, sondern den Lernenden in Form von Bildungsgutscheinen zu Verfügung gestellt, die sie nach ihren eigenen Bildungserfordernissen bei den Institutionen einlösen können. Damit wird zweierlei erreicht. Zum einen haben die Bildungssuchenden mehr Wahlmöglichkeiten zur Gestaltung ihrer eigen Bildungsbiographie, zum anderen wird dies dazu führen, dass die Bildungseinrichtungen sich stärker an den Bedüfnissen der Lernenden orientieren, weil sie ja einen Teil ihres Finanzbedarfs auf diese Weise decken müssen.Im übrigen stellt sich, wenn die alleinige Konzentration auf die Finanzierung der Erstausbildung den Erfordernissen der Bildungssuchenden nicht mehr gerecht wird, die Frage nach dem gerechten Zugang zu Bildungschancen und der Verteilung von Lernzeiten neu. Eine Kombination aus staatlich finanzierten Bildungsgutscheinen und eigenverantwortlichem Bildungssparen, das ähnlich dem Bausparen staatlich gefördert würde, wäre ein Weg zur gerechten Verteilung der Bildungschancen.

Forum Bildung: Die Weiterbildung ist beim Lebenslangen Lernen ungemein wichtig. Un- und Angelernte sind in diesem Bereich unterrepräsentiert. Wie lässt sich das ändern?

Sager: Eine Möglichkeit dieses Problem anzugehen, wäre die Schaffung eines Rechts auf Weiterbildung für die An- und Ungelernten. Für ein solches Recht gibt es bereits ein Vorbild: Mit dem Aufstiegsfortbildungsgesetz (AFBG) von 1996, dem sogenannten "Meister-Bafög", besteht ein Förderinstrument, dass eine berufliche Weiter- und Aufstiegsfortbildung für Fachkräfte, unabhängig von den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen ermöglichen soll. Der im AFBG festgelegte Rechtsanspruch zielt auf eine bestimmte Berufsgruppe von Gesellen und Facharbeitern, die sich beruflich weiterqualifizieren wollen. Bildungspolitisch nicht einsehbar ist jedoch, warum ein solcher Rechtsanspruch nur für diese Gruppe besteht und nicht auch für die Gruppe der an- und ungelernten Arbeiterinnen und Arbeiter. Wenn es eine Gruppe gibt, die gezielt in ihrer beruflichen Qualifikation gefördert werden muss, ist es diese. Die Ausdehnung des Rechtsanspruchs des AFBG für diese Gruppe sollte auf die arbeitsmarkt- und bildungspolitische Tagesordnung.

Forum Bildung: Könnten Sie Ihre Vorstellung einer Bildungskampagne für Migrantinnen und Migranten erläutern?

Sager: Die niedrige Weiterbildungsbeteiligung der Nichtdeutschen weist auf ein grundlegendes Problem hin. Große Teile dieser Gruppe kommen aus bildungsfernen Elternhäusern und haben vielfach nur kurze Schulbesuchszeiten in den Heimatländern oder unvollständige und abgebrochene Schulkarrieren in Deutschland hinter sich. Sie sind in hohem Maße durch die Umbrüche des Arbeitsmarktes gefährdet. Ein erheblicher Teil von Ihnen kann jedoch nicht an beruflichen Bildungsmaßnahmen teilnehmen, weil sie die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen. Wir müssen deshalb unsere Anstrengungen darauf setzen, diese Gruppe für ein Erlernen der deutschen Sprache zu gewinnen und ihnen entsprechende Angebote machen. Darin läge im übrigen auch ein Beitrag zur Integration von Migrantinnen und Migranten, der allemal besser ist als eine wirre Debatte über die deutsche "Leitkultur", die eher zur Ausgrenzung führt.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 30.11.2000
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