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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 25.01.2001:

Lernen im Betrieb - informell, lebensbegleitend und persönlichkeitsbildend?

Ein Kommentar von Peter Dehnbostel, Professor für Betriebs- und Arbeitspädagogik an der Universität der Bundeswehr Hamburg

Seit Jahren gewinnt das Lernen in modernen Industrie- und Dienstleistungsbetrieben an Bedeutung. Es ist die Rede von der Renaissance des Lernorts Arbeitsplatz, vom arbeitsintegrierten Lernen und vom lernenden Unternehmen. Der Bedeutungszuwachs des Lernens in der Arbeit ist unübersehbar. Organisatorisch zeigt er sich u.a. in neuen Lernformen wie Qualitätszirkeln, Lerninseln und der Projektorganisation; inhaltlich werden Konzepte wie kommunikatives Lernen, selbstgesteuertes Lernen und lebensbegleitendes Lernen angestrebt. Während herkömmliche betriebliche Lernformen und Methoden ein selbstgesteuertes und gestaltendes Lernen rigoros ausschließen, wird es in modernen Arbeits- und Organisationskonzepten gefordert und gefördert.

Betriebe gehen davon aus, dass dieserart Lernen nur sehr eingeschränkt in Seminaren und Schulen möglich ist. Stattdessen soll es unmittelbar im Arbeitprozess oder doch zumindest arbeitsplatzverbunden stattfinden. Um dies zu ermöglichen, werden partiell lernförderliche Arbeitsumgebungen geschaffen, vor allem aber wird auf das informelle Lernen in der Arbeit gesetzt. Die Neubewertung informellen Lernens wird sozusagen als Garant dafür angesehen, dass vom starren und linearen Lernen Abschied genommen und das Lernen offener, subjekt- und prozessorientierter wird.

Vermag das informelle betriebliche Lernen diese Optionen einzulösen und kann damit auf das formelle, intentionale Lernen in der betrieblichen Bildungsarbeit weitgehendst verzichtet werden? Im Gegensatz zum intentionalen Lernen handelt es sich beim informellen Lernen um eine Lernart, bei der sich ein Lernergebnis einstellt, ohne dass dieses von vornherein gezielt und organisiert angestrebt wird. Informelles Lernen kann als ein Lernen in und über Erfahrungen verstanden werden, wobei die Erfahrungen in Reflexionen und bewußte Lernfortschritte einmünden oder auch als sinnliche Wahrnehmungen implizit und unbewußt zu Lernprozessen führen. Aber unabhängig davon, inwieweit Erfahrungen reflektiert werden oder nicht, bleibt festzustellen, dass das informelle Lernen für neue Arbeits- und Lernmethoden wie Kontinuierliche Verbesserungsprozesse und Lerninseln konstitutiv ist. Es trägt wesentlich zum Erwerb von Schlüsselqualifikationen bei.

Informelles Lernen hat auch seine Grenzen

Auf der anderen Seite zeigen sich auch die Grenzen informellen Lernens deutlich. Informelles Lernen bezieht sich auf sinnliche, kognitive, emotionale und soziale Prozesse. Inwieweit diese jeweils zum Tragen kommen, ist wesentlich von den Arbeitsaufträgen bzw. -gegenständen, der Ablauf- und Aufbauorganisation, den Sozialbeziehungen und der Unternehmenskultur abhängig. Die Logik unternehmerischer Geschäfts- und Organisationsprozesse setzt hier klare Grenzen. Reichweite und Wirkung informellen Lernens können sehr gering sein. Dies trifft auf das Lernen an vielen Arbeitsplätzen zu. Verweist das informelle Lernen insofern auf der einen Seiten auf wichtige Lernprozesse, die im herkömmlich schulisch-seminaristischen Lernen kaum zu erwerben sind, so besteht auf der anderen Seite die Gefahr, dass es einem einengenden und restriktiven Erfahrungsraum verhaftet bleibt. Informelles Lernen ohne pädagogische Arrangements, ohne Organisation und Zielorientierung läuft Gefahr, zufällig und situativ zu verbleiben. Eine umfassende berufliche Kompetenzentwicklung ist nur auf der Basis der Verbindung von informellem Lernen mit intentionalem, organisiertem Lernen innerhalb und außerhalb von Unternehmungen einzulösen.


Kürzere Erwerbszeiten und höhere Lern- und Bildungszeiten

Das informelle Lernen ist zugleich auch immer Teil des "lebenslangen Lernens" oder - um den unverfänglicheren Begriff zu wählen - des "lebensbegleitenden Lernens". Informelles betriebliches Lernen trägt zur Kompetenzentwicklung, zum Wissenszuwachs und zur berufs-biograhischen Entwicklung in der gesamten Lebensarbeitszeit bei. Mit der Forcierung des Lernens in modernen Arbeits- und Organisationskonzepten erhält das lebensbegleitende Lernen zusätzliche Impulse. Vor allem die Identifizierung, Anerkennung und Zertifizierung informellen Lernens im Betrieb erhöht seinen Stellenwert als anerkannter Teil des lebensbegleitenden Lernens. Dabei wird es zusehends schwieriger zwischen informellem Lernen in der Arbeitswelt und informellem Lernen in der Lebenswelt zu unterscheiden, was darauf hinweist, dass die bisherigen Grenzziehungen zwischen arbeitsbezogener Lernzeit und privater Lernzeit nicht mehr aufrechtzuerhalten sind. Zugleich werden sich zukünftig klassische Erwerbszeiten verkürzen, hingegen Lern- und Bildungszeiten erhöhen. Für die anstehende Neuverteilung der Lernzeiten auf Arbeitszeit und Privatzeit ist es somit entscheidend, wieweit das betriebliche Lernen einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung leistet und ob eine weitgehende wechselseitige Anerkennung von privaten und betrieblichen Lernzeiten realisiert werden kann. Anders betrachtet stellt sich die Frage nach der Koinzidenz persönlichkeitsbildenden und betrieblich-ökonomischen Lernens.

Moderne Arbeitsprozesse ermöglichen auch neue Handlungsspielräume

Sicherlich weist das im betrieblich-ökonomischen Kontext angestrebte Lernen grundsätzliche Unterschiede zu dem von Pädagogen in Erziehung und Bildung intendierten Lernen auf. Lernen unter betriebswirtschaftlicher Rentabilität, arbeitsorganisatorischer und qualifikatorischer Effizienz unterscheidet sich von einem didaktisch ausgewiesenen Lernen, das auf Bildung und persönliche Entwicklung in sozialer Verantwortung zielt. Gleichwohl ermöglichen moderne Arbeitsprozesse den Mitarbeiter/innen neue Handlungs- und Freiheitsspielräume und damit auch personale Lernmöglichkeiten. Globale Wettbewerbsbedingungen und computergestützte Arbeitsprozesse erfordern und ermöglichen kontinuierliche Verbesserungs- und Optimierungsprozesse. Es besteht der Zwang zur Innovation, zur Dynamik und zu einem modernen betrieblichen Wissensmanagement, in dem das Lernen zumeist als entscheidender und einzig dauerhafter Wettbewerbsvorteil der Zukunft aufgefasst wird.

In diesem Rahmen bestehen ohne Zweifel verstärkte Möglichkeiten zur Realisierung subjektbezogener Lern- und Bildungsprozesse, zumal über das informelle Lernen in sozialen und kommunikativen Arbeitszusammenhängen. Darauf bezogene empirische Untersuchungen liegen aber bisher nicht vor und damit auch kein gesichertes Wissen über Umfang und Qualität entsprechender Lern- und Bildungsprozesse. Wirft man einen Blick auf die reale Entwicklung moderner Unternehmenskonzepte wie Lean Production und Lernendes Unternehmen, dann sind ein verstärkter Arbeitsdruck und eine verstärkte Leistungskontrolle teilweise eher festzustellen als neu eingeführte Innovations- und Lernprozesse. Die weitere Entwicklung dürfte nicht zuletzt davon abhängen, wieweit es in modernen Arbeitsprozessen gelingt, das ohne Zweifel angewachsene informelle Lernen mit intentionalem Lernen zu verbinden und auf Bildungswege anzurechnen, die bis in den tertiären Bereich reichen.

Literaturhinweise: Dehnbostel, P./Erbe, H.-H./Novak, H. (Hrsg.): Berufliche Bildung im lernenden Unternehmen. Zum Zusammenhang von betrieblicher Reorganisation, neuen Lernkonzepten und Persönlichkeitsentwicklung. 2. Auflg., Berlin 2000 Dehnbostel, P./Novak, H. (Hrsg.): Arbeits- und erfahrungsorientierte Lernkonzepte. Bielefeld 2000

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 25.01.2001
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