Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
Erschienen am 10.10.2005:
Schulen kommen in Bewegung
Kinder bewegen sich heute nicht nur im Sportunterricht
Die Auswirkungen von Bewegungsmangel sind vielschichtiger als der verengte Blick auf übergewichtige Kinder und die gesundheitlichen Folgen vermuten lässt: Ausdauer, Motorik und die Koordinationsfähigkeit von Kindern leiden unter der um sich greifenden passiven Lebensweise. Die Fitness der 10 -bis 14-Jährigen ist seit 1995 um mehr als zwanzig Prozent zurückgegangen. Das ergab 2003 der Bewegungs-Check "Fit sein macht Schule" unter der Federführung der AOK und des Deutschen Sportbundes. Schüler und Schülerinnen, die mehr Sportunterricht als der Durchschnitt ihrer Altersgenossen genießen konnten, wiesen in dieser Untersuchung auch durchweg bessere Fitness-Noten auf. Dass Sport sich in vielerlei Weise positiv auswirkt, zeigte auch das Modellprojekt "Tägliche Sportstunde" in Hessen von 1993 bis 1997. In einer Modellschule wurde der Umfang des Sportunterrichts von 60 Minuten auf 150 Minuten pro Woche aufgestockt. Das Ergebnis: Die Schülerinnen und Schüler der Modellschule waren fitter und weniger aggressiv als Kinder in der "normalen" Schule, die im gleichen Zeitraum beobachtet wurden. Überhaupt verbesserte sich das Schulklima und die Anzahl der Unfälle auf dem Schulgelände nahm drastisch ab. Diese positiven Erfahrungen machten auch andere Schulen, die in den vergangen Jahren auf Bewegung an Schulen setzten.
Der Sportunterricht und der Bildungsauftrag
Weil Bewegung für alle Facetten der gesundheitlichen, motorischen, sozialen und persönlichen Entwicklung so bedeutsam ist, gibt es mittlerweile kaum noch etwas an deutschen Schulen, das nicht ausprobiert wird: Von bewegten Pausen über bewegten Unterricht bis hin zum "Walking Bus". Der "Walking Bus" ist der neueste Trend aus Großbritannien und besteht aus einer Gruppe Kinder und mehreren Erwachsenen, die, einen Schulbus imitierend, zu Fuß zur Schule gehen. Im Mittelpunkt der Bewegung steht aber immer noch der Sportunterricht, der nun entstaubt und mit einem anspruchsvollen Bildungsauftrag versehen wird. Dabei ist es um ihn selbst und seine bisherige Kernaufgabe, den Sport, gar nicht gut bestellt: Jede vierte Sportstunde fällt aus, viele Sportstätten bekommen die Note mangelhaft und viele Lehrerinnen und Lehrer, vor allem in Grundschulen und Hauptschulen, sind nicht für den Sportunterricht ausgebildet. Das sind die ernüchternden Ergebnisse von "Sprint", einer Studie über den Schulsport in Deutschland, die vor kurzem veröffentlicht wurde. Vor allem in der Lehrerausbildung fordert der Leiter der Studie, Prof. Wolf-Dietrich Brettschneider von der Universität Paderborn, deutliche Verbesserungen, "weil im Grundschulalter die Grundlagen der motorischen Fähigkeiten, der körperlichen Fitness und die Einstellung zum Sport entscheidend entwickelt und geprägt werden und es deshalb für diese Altersgruppe keine Kompromisse geben kann". Aber gerade, weil viele Politiker und Experten nun im Sportunterricht Bildung transportieren wollen, wird er damit vielleicht auch überfrachtet. Viele neue Lehrpläne erteilen dem Sportunterricht tatsächlich einen Doppelauftrag: Schülerinnen und Schüler sollen in die aktuelle Sportkultur eingeführt werden und gleichzeitig soll die Entwicklung der Heranwachsenden in all ihren Facetten gefördert werden. Für Prof. Brettschneider ist die neue Weichenstellung für das Fach Sport falsch, weil dadurch der Identitätskern des Faches, der Sport selbst, verwässert würde. Es sei die Hauptaufgabe des Sportunterrichts, "die Heranwachsenden für den Umgang mit Sport in seiner Vielfalt handlungsfähig zu machen und sein Potenzial zur Verbesserung der motorischen Kompetenzen konsequent zu nutzen und erst seine nachrangige Aufgabe, die Entwicklung der geistigen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten zu fördern". Leider würden viele Lehrpläne derzeit ihre Prioritäten anders setzen, schreibt Wolf-Dietrich Brettschneider in seinen Überlegungen zur Schulsport-Studie "Sprint".
Modellprojekte fördern Bewegung im Unterricht
Natürlich gibt es in diesem Bereich auch keine einfache Schwarz-Weiß-Malerei. In Nordrhein Westfalen zum Beispiel üben seit diesem Schuljahr 25 Grundschulen in einem Pilotprojekt die "Tägliche Sportstunde". Dabei sollen nicht nur die motorischen Kompetenzen verbessert, sondern auch fächerübergreifende grundschulspezifische Zielsetzungen durch Bewegung, Spiel und Sport unterstützen werden. Die Schulen dürfen selbst ein Konzept entwickeln, ob sie das Plus an Sport über den Sportunterricht selbst, im sonstigen Unterricht oder in einer Mischung aus beiden realisieren. Klar ist nur, dass unter dem Strich täglich eine Stunde Bewegungszeit für die Kinder rauskommen muss. Diese Freiheit der Schulen hat den beabsichtigten Nutzen, dass nach Ablauf des Projekts eine breite Palette maßgeschneiderter Lösungen auf ihren Einsatz warten. Der Leiter des Pilotprojekts, Prof. Jörg Thiele von der Universität Dortmund, ist überzeugt, dass Bewegung in jedes Unterrichtsfach integriert werden kann. So ist ein "Laufdiktat", bei dem die Kinder Wörter an bestimmten Orten im Klassenzimmer schreiben oder abholen, ebenso in Mathematik oder Sachkunde möglich. Jörg Thiele kann sich zwar sehr gut vorstellen, dass im Sportunterricht zum Beispiel soziales Verhalten eingeübt werden kann, wehrt sich aber auch gegen eine komplette Neuausrichtung: "Weder Sport noch Sportunterricht sollten mit zu vielen unterschiedlichen und weit hergeholten Ansprüchen beladen werden. Hier ist eine grundsätzliche Konzentration auf das Wesentliche eher hilfreich als der Versuch, aus Sport oder Sportunterricht ein Universaltherapeutikum zu machen".
Auch das Land Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr begonnen, seine Anstrengungen zur Bewegungsförderung deutlich zu steigern und will nun ein durchgängiges Konzept vom Kindergarten bis zur Schule etablieren. Ein besonderes Schmuckstück sind die 322 Grundschulen, die in einem Modellprojekt 200 Minuten Sportunterricht pro Woche anbieten. Hinzu kommen vielfältige Bewegungsangebote wie Pausensport, bewegter Unterricht und Kooperationsmaßnahmen mit örtlichen Vereinen.
Das Lernen kann von mehr Bewegung profitieren
Bewegung ist mehr als Sport. Sie kann auch mehr leisten als die Konzentration und die Ausdauer zu erhöhen oder die Feinabstimmung der Motorik zu verbessern. Auch beim Lernen selbst kann Bewegung eine wertvolle Stütze sein. Die Neurowissenschaften und die gedächtnispsychologische Forschung sind überzeugt, dass die Entwicklung von Denk- und Wahrnehmungsleistungen eng mit der Motorik verbunden ist. Das Erinnerungsvermögen zum Beispiel funktioniert deutlich besser, wenn Sprache und Gestik miteinander verknüpft werden. Konkret umgesetzt werden kann dies beim Vokabellernen in einer Fremdsprache: In so mancher Schule darf inzwischen im Klassenzimmer beim Lernen auf- und abgegangen werden. Der Grund für die erfolgreiche Kombination liegt in der doppelten Kodierung der Lerninhalte, motorisch und kognitiv, die es möglich machen, Gedächtnisspuren im Langzeitspeicher schneller und sicherer aufzufinden. In therapeutischen Zusammenhängen wird deshalb Bewegung oft gezielt in Förderprogrammen zur Überwindung von Sprach- und Lernschwierigkeiten eingesetzt.
Dass die Leistungskurve beim Lernen mit Bewegung nach oben geht, zeigt eindrucksvoll das Programm "Lernen braucht Bewegung" in Gütersloh. Die Freiherr-vom-Stein-Realschule und die Geschwister-Scholl-Realschule fördern mit Bewegung die Lese- und Rechtschreibefähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler. So werden Wortbandwürmer wie "Schwarzschweinezuchtbetrieb", die Schülerinnen und Schüler Silbe für Silbe aussprechen, von einem mit der Schreibhand in die Luft gezeichneten Schwungbogen geübt. Dieses "Wörter schwingen" wird in der Gruppe und einzeln praktiziert und hat mittlerweile auch schon in andere Unterrichtsfächer Einzug gehalten. Und die vorläufigen Ergebnisse dieses integrativen Unterrichtsmodells in Gütersloh machen Mut: Die Schülerinnen und Schüler konnten ihre Leistungen tatsächlich verbessern. Wenn Bewegung in Deutschland weiter so Schule macht, werden wir uns beim Blick in dien Klassenzimmer bald die Augen reiben beim Anblick von Schülerinnen und Schülern, die auf- und abgehen und mit Händen Figuren in die Luft zeichnen. Doch einen Schönheitspreis wollen sie ja auch nicht gewinnen, sondern mit Spaß und Erfolg lernen.
Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 10.10.2005
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