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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 28.07.2005:

Nachgehakt: Verantwortungsschule in Bayern

Modell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert" oder wie das Gymnasium Oberhaching das Laufen lernt(e)
Das Bild zum Artikel
Quelle: Schülervertreter des Gymnasiums Oberhaching

Ein Schulversuch mit selbstständigen Schulen gehört heutzutage auf die Visitenkarte moderner Kultusbürokratien. Diese gleichen modernen Eltern: Sie stimulieren die Selbstständigkeit der Sprösslinge, aber dort, wo sie es für nötig halten, breiten sie ihre Fittiche noch über ihre Schutzbefohlenen. Auf dem weiten Feld der Experimente mit schulischer Selbstständigkeit ist in den Ländern inzwischen viel passiert.

Es haben sich zwei Grundmuster für Schulversuche herauskristallisiert: Schneller Start durch breite Beteiligung vieler Schulen von Anfang an, flankiert durch Fortbildung und systematische Reflexion. Diesen Weg geht Nordrhein-Westfalen. Einen anderen Weg hat Bayern gewählt: Vorsichtiger Beginn mit einer sehr überschaubaren Menge von Projektschulen, Übertragung bewährter Ansätze aus den Modellschulen auf die anderen Schulen.  

Strickmuster der Selbstständigkeit
Das erste Muster kommt aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Dieses Land hat als erstes auch als Konsequenz aus dem PISA-Debakel Schulen neue Freiheiten eingeräumt. Bei diesem Schulversuch fällt zunächst die Dimension auf: Über 270 Schulen aller Schularten in 19 Regionen übernehmen hier die "Verantwortung für die Qualität". Regionale Bildungslandschaften verankern die selbstständigen Schulen in einem größeren, aber vertrauten Kontext. Beim Schulversuch in Nordrhein-Westfalen experimentieren die Schulen unter Mitwirkung des Deutschen Gewerkschaftsbundes auch mit neuen Formen der Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen. Mehr Selbstständigkeit heißt zunächst immer auch: Höherer Aufwand für Verwaltung und Notwendigkeit schulischer Fortbildungen. Unterstützung durch einen Dritten, in diesem Fall die Bertelsmann Stiftung, ist hier erwünscht.  

Das zweite Muster kommt aus Bayern. Mit anfangs 21 Modellschulen war der Schulversuch organisatorisch überschaubar. Mittlerweile ist er auf 44 Schulen angewachsen. Durch die geringere Anzahl von Schulen im Versuchsstadium verspricht sich das Land eine höhere Qualität der Schulentwicklung - Klasse statt Masse. Auch beim Bayerischen Schulversuch hat das Kultusministerium eine Stiftung eingespannt, um den Schulversuch auf den Weg zu bringen und zu begleiten. Der bayerische Schulversuch lautet "MODUS 21 Modell Unternehmen Schule im 21. Jahrhundert - Schule in Verantwortung" und dauert fünf Jahre. Er wird durch die Universität Erlangen-München wissenschaftlich begleitet. 

Das Gymnasium im bayerischen Oberhaching ist schon so etwas wie ein alter Hase in Sachen schulischer Selbstständigkeit, die natürlich immer eine relative Selbstständigkeit ist, weil die Schulen weiterhin an Schulordnungen gebunden sind. Bereits zum Projektstart vor zweieinhalb Jahren stand diese Schule ganz gut da. Jetzt geht es ihr noch besser.  

Dass die Schülerinnen und Schüler die Fächer gelegentlich auf ihre Bedürfnisse zuschneiden, ist noch nicht einmal der wichtigste Aspekt. Bei "Zeit für uns" (ZfU) räumt das Gymnasium Oberhaching allen Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit ein, eine Schulstunde selbst zu gestalten. Und zwar im Turnus von zwei Wochen. Schülerthemen waren etwa Irakkrieg, Benotung, Taschengeld und viele andere mehr. Dabei leiten die Heranwachsenden die Diskussion und protokollieren den Ablauf des Gesprächs. Die Lehrer sind hier gleichberechtigte Gesprächspartner.

Vierfaches Spektrum der Verantwortung
Die bayerischen Modellschulen müssen sich in vier Bereichen der gewachsenen Verantwortung stellen: 1. Qualität von Unterricht und Erziehung, 2. Personalmanagement und Personalführung, 3. inner- und außerschulische Partnerschaften, 4. Sachmittelverantwortung. 

Nach Schulleiterin Karin Oechslein, hat sich in ihrer Schule in punkto "Qualität von Unterricht und Erziehung" am meisten getan. Jede Fachschaft habe etwas gefunden, was es zu verbessern gilt. So hat die Fachschaft "Deutsch" den "Hausaufsatz" abgeschafft. Statt stupide schriftliche Hausaufgaben zu erledigen, bereiten die Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht nun ein Thema gemeinsam vor. Sie nähern sich dem Fach Deutsch nicht nur über Lehrbücher, sondern indem sie mit Sprache gestalterisch umgehen, etwa über die Produktion eines Videofilms. Statt Abfrage der Hausaufgaben heißt es nun: Präsentation der Früchte ihrer geistigen Arbeit wie in einem Unternehmen, etwa auf Pinwänden.  

Bei den Fremdsprachen hat man in Oberhaching das Gewicht des mündlichen Ausdrucks erhöht. Schriftlicher und mündlicher Ausdruck halten sich jetzt nicht mehr die Waage, vielmehr machen mündliche Anteile im Unterricht jetzt doppelt so viel aus wie schriftliche.

In Mathematik einigte sich die Fachschaft auf einen "Grundwissenskatalog". Mathelerner müssen von nun an nicht mehr lückenlos alles durchgenommen haben, sondern das Wichtige in Mathematik wissen oder das, was die Fachschaft, die jetzt verstärkt im Team arbeitet, als wichtig ansieht. Bei allen Prüfungsarbeiten werden 20 Prozent Grundwissen abgefragt. Ziel ist stets, bewusster und nicht nur für das Heute zu lernen, sondern auch für das Morgen - eben nachhaltiges Lernen.   

In dem wenig beliebten Fach Latein können die Eleven aufatmen. Anstelle umfangreicher Prüfungsarbeiten streut das Gymnasium Oberhaching acht bis zwölf Lateintests pro Jahr ein, deren Noten in die Bewertung eingehen. Die Schüler seien begeistert von der Neuerung. "Ein Ausrutscher wiegt nicht so schwer und man merkt schneller, ob man mehr tun muss", lässt sich ein Lateinschüler zum neuen Prüfungswesen auf der Schulhomepage zitieren.

Verantwortung für die Schwächeren
Zu den wichtigsten MODUS 21-Projekten zählt in Oberhaching die "Förderung gefährdeter Schüler". Versetzungsgefährdete Schüler werden nach dem Zwischenzeugnis mit den Eltern zu einem freiwilligen Beratungsgespräch geladen. Zusätzlich beraumt die Schule eine jahrgangsübergreifende Gesprächrunde gefährdeter Schüler ein, damit sie eigenständig die Ursachen ihrer Lernrückstände herausfinden. In der Folge erhalten die gefährdeten Jugendlichen in Abstimmung mit den Lehrkräften individuelle Lernpläne zur Wiederholung oder Vertiefung des Schulstoffes.   

Für Kritiker fängt die spannende Frage genau hier an: Wie soll es dann weitergehen? Wer unterstützt die Schülerinnen und Schüler dabei, ihre Defizite aufzuholen? Übernimmt die Schule die Aufgabe dieser individuellen Förderung oder bleiben die Betroffenen auf außerschulische und oft teure Hilfsangebote wie Nachhilfeunterricht angewiesen?  Und dass es Bayern nach den vorgezogenen Ergebnissen des neuen PISA-Ländervergleichs (PISA-E II) besser als anderen Ländern in Deutschland gelingt, auch die schwächeren Schülerinnen und Schüler mitzunehmen, beruhigt Kritiker nur mäßig. Bayern ist in dieser Hinsicht der Beste unter den Schlechten, denn Deutschland steht im internationalen Vergleich nicht gut da.  

Im Gymnasium Oberhaching gibt es nicht nur die genannten Angebote für schwache Schülerinnen und Schüler, sondern auch die starken Schüler bekommen geistiges Futter und Anregung. In der zwölften Stufe erhalten sie nämlich einen Vorgeschmack auf die Universität. Fächer wie Mathematik oder Geschichte werden in Form von Vorlesungen dargeboten.  

Um diese Veränderung der Qualität des Unterrichts zu bewirken, musste der  organisatorische Rahmen reformiert werden. Lehrkräfte planen den Unterricht jetzt in Stufenkonferenzen jahrgangsübergreifend und selbstverständlich ist mehr Teamarbeit in die Schule eingezogen. Und wie steht es mit dem Personalmanagement und Personalführung? "Viel Einfluss hat die Schule auch auf die Personalauswahl", wie die Direktorin vermerkt. Bei jedem Vorstellungsgespräch sind auch Fachlehrer zugegen.  

Mehrere direkt gewählte Schülersprecher
Auch bei der Mitbestimmung der Schüler hat sich etwas getan. Der Schülersprecher wird nicht mehr durch die Klassensprecher gewählt, sondern direkt von der ganzen Schülerversammlung. Und es gibt nicht nur einen, sondern gleich vier Schülersprecherinnen oder Schülersprecher, die die Schulstufen vertreten. So findet die Schulleitung einen schnelleren Draht zur Schülerschaft. "Ich brauche mehr Ansprechpartner", sagt Karin Oechslein.  

Beziehungen mit außerschulischen Partnern pflegt das Gymnasium Oberhaching so intensiv, wie man es sonst nur von Ganztagsschulen kennt. Ein Jahr nach Beginn des Modellversuchs hat die Vorzeigeschule inner- und außerschulische Partnerschaften zum Schwerpunkt der Schulentwicklung gemacht. Ein bedeutender Partner ist die Volkshochschule. Sie ermöglicht den Schülerinnen und Schülern, den Computerführerschein oder Fremdsprachenkenntnisse ohne Notendruck zu erwerben. Weitere Partner kommen aus der Hightech-Branche, andere aus der chemischen Industrie.  

Die Verantwortungsschule umfasst auch die Sachmittelverantwortung, etwa für Lehrmittel, Medien, Technik und schulische Ausstattung. Auch hier soll sich die Mitsprache, was wann angeschafft wird, deutlich erweitert haben. Die Kommune als Schulträger spielt mit.  

Das Luxusmodell unter den Schulversuchen ...
Das Gymnasium Oberhaching hat als Modellschule die Spielräume schulischen Handelns ausgeweitet. Es hat nach Wegen gesucht, die schwächeren und die stärkeren Schülerinnen und Schüler zu fördern und treibt zusätzliche Mittel über Sponsoring ein. Es steckt offenbar mehr Geld und Wertschätzung hinter der Verantwortungsschule. Auch die Noten der Schüler sollen sich deutlich gebessert haben. Anzeichen einer Eliteschule? "Wir fühlen uns nicht als Eliteschule gehätschelt", sagt die Schulleiterin, "aber wir erfahren ein Mehr an Respekt durch das Land". Auch über Bayern hinaus werden die Gehversuche einer Schule mit neuen Verantwortlichkeiten wahrgenommen. "Keiner bereut es, dass wir beim Schulversuch mitgemacht haben, auch die Kritiker sind jetzt überzeugt", so die Schulleiterin. 

Was folgt, ist die so genannte "Ausrollung dieses Modells", so heißt es im Jargon der Bürokratie. Nein hier geht es nicht darum, in der Schulküche Teig auszurollen, vielmehr geht es um die Verbreitung von "erprobten Maßnahmen". Manche hören an dieser Stelle lieber den Begriff "Transfer". Das Kultusministerium hat alle MODUS-Schulen aufgefordert, die aus ihrer Sicht guten Maßnahmen zu benennen, die aus dem Modellprojekt an ihrer Schule entstanden sind. Daraus entstand ein Katalog förderlicher Maßnahmen, die in die landesweite Schulordnung eingehen und somit auch für die anderen Schulen, die nicht am Modellprojekt teilnehmen konnten, möglich oder verbindlich werden. Einige Maßnahmen sind schon "ausgerollt", etwa die angesagten Lateintests im Abstand von sechs Wochen. Damit hat auch das Gymnasium Oberhaching Schule in Schulentwicklung gemacht. 

... oder einfach Wegbereiter für die anderen?
Analog zum Gymnasium Oberhaching berichtet auch das Kultusministerium von überraschenden Leistungssteigerungen. Das Schulklima in MODUS 21-Schulen habe sich "stark verbessert" und Schulleiter, Lehrer, Eltern sowie Schüler identifizierten sich stärker mit ihrer Schule. Schon vom kommenden Schuljahr 2005/2006 an erhalten alle Schulen in Bayern mehr Selbstständigkeit.  

Darin liegt der Vorteil des kleineren Schulversuchs: In der ersten Phase ist der Aufwand für Verwaltung und Fortbildung überschaubar und die in den Modellschulen gemachten Erfahrungen lassen sich aufgrund der Anzahl von Schulen relativ einfach auswerten. Die entscheidende Frage lautet, wie in der zweiten Phase dann die Übertragung auf andere Schulen gelingt - sowohl was Aufwand und Fortbildung, als auch was die Akzeptanz betreffen. Viele Schulen, die nicht direkt am Modellversuch beteiligt waren, könnten eher zurückhaltend sein. 

Hier könnte sich das NRW-Modell des "Möglichst-viele-von-Anfang-an-Mitnehmens" möglicherweise als vorteilhaft erweisen. Wir dürfen gespannt sein. Insgesamt ist festzuhalten: Eine viel versprechende Geschichte, diese bayerische Schule in gesteigerter Verantwortung. Wenn neben Gymnasien wie dem in Oberhaching auch andere Schulformen wie die Hauptschulen davon profitieren.

Die meisten Länder lehnen sich inzwischen an das bayerische Muster an, machen aber auch viele Anleihen beim nordrhein-westfälischen Modell.  

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 28.07.2005
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