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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 09.09.2004:

Lehren wie in der Feuerzangenbowle

Indem sie selbst lehren, konstruieren die Schüler von morgen neues Wissen
Das Bild zum Artikel
Prof. Jean-Pol Martin

Online-Redaktion: In Reinhard Kahls Film "Treibhäuser der Zukunft" gibt es eine Sequenz, in der Schüler auf überzeugende Weise in die Rolle von Lehrern schlüpfen. Müssen solche Bilder die Lehrer nicht auf die Barrikaden bringen? 

Martin: Diese Bilder bringen die Lehrer deshalb nicht auf die Barrikaden, weil sie bereits in ihrer Studentenzeit mit dieser Methode - wenn auch am Rande - konfrontiert worden sind. Die Methode wird in den meisten Lehrerseminaren als eine Möglichkeit vorgestellt und ist überall bekannt. Sie wird auch von ein paar tausend Lehrern punktuell oder durchgängig angewandt. Nur, dass das Gros der Lehrer sich dagegen immunisiert, indem sie sagen: "der Martin hat super positive Bedingungen, er holt sich geeignete Schüler raus, deshalb ist er so erfolgreich", was natürlich überhaupt nicht stimmt.  

Aber seit der PISA-Studie hat sich der Druck auf die Lehrer, ihre Unterrichtsmethoden zu verändern und sich mit bereits vorliegenden erfolgreichen Konzepten wirklich ernsthaft zu beschäftigen, enorm erhöht. Für Leute wie mich ist es natürlich die Chance, denn wir kommen endlich zum Zuge. Seit einiger Zeit wird meine Arbeit auch vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus stark unterstützt. So besteht in Bayern im Rahmen des Modellversuches Modus 21 für die Lehrer die Möglichkeit, neue Unterrichtsmethoden zu erproben. In diesem Zusammenhang wurde ich vom Kultusministerium an viele Schulen geschickt. Und das ist zum ersten Mal in meiner Karriere, dass ich eine so starke Unterstützung von den Institutionen bekomme. Ich war bis jetzt eher ein Außenseiter.  

Online-Redaktion: Weil sie mit Ihrer Methode die Vorstellung von Unterricht radikal  aufgebrochen haben?  

Martin: Genau. Es geht nicht um kleine technische Änderungen, sondern die Vorstellung vom Lernen, ja vom Leben überhaupt muss sich verändern. Allerdings: Kleine Änderungen werden viel leichter von anderen angenommen als grundlegende Paradigmenwechsel im Denken und Handeln.  

Nun vollzieht sich mit der Globalisierung ein Paradigmenwechsel in der Gesellschaft insgesamt und das Bildungssystem kann sich dem nicht verschließen. Deshalb auch suchen die Institutionen nach alternativen Modellen und sind unter anderem auf meine Arbeit gestoßen. Dass mein Ansatz in Kahls Film "Treibhäuser der Zukunft " aufgegriffen wird, ist auch ein Zeichen dafür. Diese institutionelle Unterstützung brauche ich, denn Sie können sich vorstellen, dass so ein einsamer Kampf erschöpfend ist.  

Online-Redaktion: Wenn das Modell von unterrichtenden Schülern sich als durchschlagender Erfolg erwiese, welche Auswirkungen hätte dies auf die Lehrerbildung?   

Martin: Wie ich schon sagte: ein durchschlagender Erfolg war es in meinem Unterricht schon immer. Aber für die, die das Modell anwenden, ist es recht aufwändig und es verlangt eine völlige Veränderung der Haltung des Lehrers. Bis heute noch ist die vorherrschende Vorstellung sowohl an der Schule als auch an der Universität, dass unterrichten darin besteht, das in den Lehrwerken vorhandene abgesicherte Wissen nach dem Trichterprinzip an die Schüler und Studenten weiterzugeben. Dieses Modell hat sich bis heute aus dem Mittelalter tradiert.  

Dabei können und wollen die Schüler und Studenten viel mehr als nur Wissen memorieren. Sie wollen in die Konstruktion von Wissen aktiv eingebunden werden. Das ist die Idee meines Ansatzes. Natürlich muss die Lehrerausbildung verändert werden, denn die künftigen Lehrer müssen lernen, wie man die Schüler dazu bringen kann, neues Wissen zu konstruieren, um die Probleme der Zukunft zu bewältigen. Und das setzt voraus, dass die künftigen Lehrer an der Universität selbst neues Wissen gemeinsam konstruieren.  

Online-Redaktion: Welche Kernkompetenzen erwerben die Schülerinnen und Schüler durch das "Lernen durch Lehren" und wie definiert sich dabei die Rolle der Lehrer?  

Martin: Die Kernkompetenzen, die durch "Lernen durch Lehren", also LdL, entwickelt werden, sind die Kompetenzen, die in der Berufswelt als Schlüsselqualifikationen bezeichnet werden. Also als erstes die "Teamfähigkeit" Wenn Schüler sich ein neues Wissen aneignen und sich gegenseitig beibringen, dann müssen sie teamorientiert arbeiten. Dann die Kommunikationsfähigkeit: Wenn sie gemeinsam intensiv arbeiten, müssen sie auch kommunikationsfähig sein. Dann die Organisationsfähigkeit: Wenn sie die Aneignung von neuem Wissen planen, dann müssen sie organisationsfähig sein und Planungskompetenz entwickeln.  

Vor allem aber müssen sie in der Lage sein, Unbestimmtheit auszuhalten, denn ihnen wird kein fertiges Konzept und kein fertiges Wissen aufgetischt. Das Ziel wird zwar vorgegeben, aber den Weg dahin müssen sie selbst finden. Da Schüler und Studenten daran gewöhnt sind, detaillierte Vorgaben zu bekommen, müssen sie ihre Angst überwinden und ins Unbekannte mutig schreiten. Also müssen sie explorativ sein. Sie müssen deshalb auch flexibel sein, sich immer wieder einstellen auf Misserfolg und Schwierigkeiten. Das fördert ihr Selbstbewusstsein. Und ein letzter Punkt, der wichtig ist: sie müssen auch Ausdauer zeigen und Durchsetzungsvermögen. Das sind völlig andere Vorstellungen des Menschen, die bei den Lehrkräften eine positive Haltung sowie eine auf Konstruktion und Überwindung von Misserfolgen ausgelegte Lehrmethode erforderlich machen.   

Online-Redaktion: Wie ist die Methode "Lernen durch Lehren" (LDL) eigentlich entstanden und welche Chancen geben Sie diesem Modell im Hinblick auf eine flächendeckende Verbreitung an den Schulen?   

Martin: Die Idee, dass man Schüler bittet, andere zu unterrichten, gab es schon in der Antike. Deshalb sagen auch die meisten, wenn sie vom meiner Methode hören, dass es nichts Neues sei, dass es allerdings nicht funktioniere! Es gab auch immer wieder kleine Versuche, die ein paar Wochen oder sogar ein paar Monate gedauert haben, aber es gab noch nie jemanden, der gesagt hat, dieses Prinzip möchte ich bis zu den Grenzen ausarbeiten, durchführen und in meinen Unterricht konsequent anwenden. Vor 24 Jahren begann ich, im Französischunterricht dieses Verfahren anzuwenden, und die Erfolge waren so durchschlagend, dass ich mir vornahm, das Konzept wissenschaftliche zu untermauern und bis zu den Grenzen in der Praxis auszutesten. Die Erfolge haben gezeigt, dass das der richtige Weg ist - und von dem bin ich 24 Jahre nicht abgewichen. Und an die Grenzen bin ich noch nicht gestoßen, so dass ich den Ansatz permanent weiterentwickle.  

Was die Resonanz angeht, so habe ich gleich zu Beginn der 80er Jahre sehr viel darüber publiziert, wissenschaftliche Publikationen. Sie wurden allerdings in der universitären Fachdidaktik und Pädagogik kaum wahrgenommen. Weil mein Ansatz innerhalb der Universität wenig Anklang fand, habe ich ein Kontaktnetz von inzwischen tausend Leuten aufgebaut, die ihn außerhalb der Institutionen weiter verfolgt haben. Übrigens nicht nur in Französisch, sondern in allen Fächern. Auf diese Weise wurde LdL außerhalb der Universitäten bekannt, insbesondere in den Lehrerseminaren. Allerdings kontrastieren der Grad der Bekanntheit und der Grad der Anwendung: angewandt wird LdL immer noch wenig.  

Online-Redaktion: Hat das zu tun mit der bekannten Schwierigkeit ein neues Paradigma einzuführen?  

Martin: Ja, da haben Sie völlig Recht, denn wenn nur kleine Veränderungen angeboten werden, erlebt man, dass die leicht übernommen werden. Aber wenn es darum geht, dass man die gesamte Haltung des Lehrens verändert, weg vom Durchfüttern hin zum gemeinsamen Konstruieren von Wissen, dann ist das ein großer Wandel, ein unglaublicher Herkulesakt. Den kann man innerhalb der Institutionen - vor allem an den Universitäten - nicht durchführen, denn die Institution glättet alles: erstens wird gesagt, das ist nicht Neues und zweitens, das funktioniert sowieso nicht.  

Online-Redaktion: Welche Schulform eignet sich besonders gut für dieses innovative Lernarrangement?  

Martin: LdL ist in jedem Schultyp anwendbar: LdL verlangt eine andere Haltung gegenüber dem Lernen bzw. dem Konstruieren von Wissen, und die kann man in jeder Schulform anwenden. Das beste Beispiel sind meine eigenen Erfahrungen am Gymnasium, oder in den ganz traditionellen Strukturen innerhalb von Uni-Veranstaltungen - es gibt ja nichts konservativeres als Universitäten. Trotzdem war es mir möglich, in diesen traditionellen Lehranstalten das Modell sehr intensiv zu praktizieren. Und seit einiger Zeit ist ein junger Kollege an der Universität ganz auf LdL umgeschwenkt, mit großem Erfolg. In seinen Linguistikkursen erforschen die Studenten von der ersten Stunde an bestimmte Phänomene der englischen Sprache, sie konstruieren also sehr erfolgreich gemeinsam neues Wissen.  

Online-Redaktion: Für welche Fächer eignet sich "Lernen durch Lehren" und inwiefern verbessert sich dadurch die Leistung der Schüler?   

Martin: Naturgemäß ist "Lernen durch Lehren" (LDL) besonders günstig für Fächer, die das Sprechen und Kommunizieren fördern sollen. Für Fremdsprachen ist dies also sicherlich die prädestinierte Wahl. Dennoch wird LDL schon seit 20 Jahren in allen Fächern angewandt. Auf meiner Homepage gibt es Referendararbeiten über Sport, Musik, Geschichte, also alle möglichen Fächer. Inzwischen gibt es rund 150 Examensarbeiten von Referendaren über die Methode "Lernen durch Lehren". Die Leistung der Schüler verbessert sich deutlich, weil sie viel stärker involviert werden und viel intensiver arbeiten: ich habe mit meinem letzten Leistungskurs in Französisch mit 20 Schülern einen Notendurchschnitt von 1,9 erreicht, was schon sehr außergewöhnlich ist.  


Jean-Pol Martin, 61 Jahre, in Paris aufgewachsen, dort Germanistik studiert. Dann mit 25 Jahren nach Deutschland als Austauschlehrer (Nürnberg) und Entschluss, in Deutschland zu bleiben. Aufnahme eines Studiums Romanistik-Germanistik an der Universität Erlangen (1971), Staatsexamen, Referendar (1975-1977) in Nürnberg. Im Anschluss drei Jahre Lehrer für Französisch und Deutsch am Gymnasium Höchstadt/Aisch. Gleichzeitig Arbeit am Lehrwerk "A bientôt". 1980 Stelle des Französischdidaktikers an der Universität Eichstätt, bis heute. 1980 Entdeckung des LdL-Ansatzes. 1985 Promotion bei Prof. Christ in Gießen. 1987 Bildung des LdL-Kontaktnetzes mit etwa 600 Lehrern aller Fächerkombinationen zur Verbreitung der Methode LdL. 1994 Habilitation in Eichstätt. Entwicklung des interdisziplinären und hochschulübegreifenden, virtuellen Kurses "Internet- und Projektkompetenz" (IPK).

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 09.09.2004
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