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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 05.04.2004:

"Wie habt ihr das begründet?"

Das neu gegründete Lehrerbildungszentrum Köln bringt Lehramtsstudierende früher in Kontakt mit Schulen
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Nina Robert und Ulrike Zühlsdorf beim Team-Teaching im Herder-Gymnasium Köln-Bucheim. Während die eine Studentin auf die Beiträge der Schüler/Innen eingeht, schreibt die andere auf der Tafel mit.
Bildrechte: Bildung PLUS

Eine Schülerin schaut in den Himmel - nicht ganz mit dem Staunen des Diogenes. Bevor sie mit dem Philosophie-Kurs in den Klassenraum geht, verfolgt sie den Airbus, der in greifbarer Ferne über das Schuldach des Johann-Gottfried-Herder-Gymnasiums in Köln Buchheim gleitet. Doch das Ungewöhnliche wartet im Klassenraum: Lehramtskandidaten der Universität Köln

PISA-Hausaufgabe: Theorie und Praxis verzahnen
Der Philosophiekurs besteht aus rund 23 Schülerinnen und Schülern der elften Stufe. In der letzten Reihe sitzen sie: neun Lehramtsstudierende, wie Schüler. Manche wirken nur wenig älter als diese. Vorne drückt Dr. Rainer Wisbert die Schulbank. Der erste Praktikumsmanager am Lehrerbildungszentrum Köln ist langgedienter Gymnasiallehrer und versteht sich als Hochschullehrer und Manager zugleich. Wenn Studierende vor der Klasse stehen, hält er sich im Hintergrund auf, schreibt mit, beobachtet, reflektiert.

Ihre gemeinsame Mission: Theorie und Praxis in der Lehrerbildung früh verzahnen. Die meisten Lehramtsanwärter stehen das erste Mal während des Referendariats vor einer leibhaftigen Schulklasse. Andere haben den Lehrern beim Arbeiten zugeschaut, assistiert. Wenn die eine oder der andere im Referendariat merkt, Lehrerberuf ist doch nichts für mich, dann ist es häufig schon zu spät zum Umsatteln.

Unterrichtet werden die Schüler heute nicht von ihrer Klassenlehrerin, sondern von Studentinnen. Die 90 Minuten der Unterrichtseinheit müssen reichen, um all das unterzubringen, was im vergangenen Semester minutiös vorbereitet wurde. Insgesamt sind acht Unterrichtseinheiten zur "kulturellen Pluralität und Identität bei Johann Gottfried Herder à zwei Doppelstunden geplant. Thema heute ist "Relativismus, Universalismus und Pluralismus". Dabei werden auch die Grundlagen jeder demokratischen Ordnung behandelt. Ein Gang in die Philosophiegeschichte, der zugleich eine Aufklärung über den Mikrokosmos der eigenen Schule bringt.  

Von Piloten und Lehrenden
Ähnlich wie Piloten treffen Lehrende oft Dutzende von Entscheidungen in einem Augenblick. So wie Jasmin Kleis, 22 Jahre, und Sybil Lehmann, 26 Jahre. Ihre Nervosität können sie heute besser verbergen als in der letzten Woche. Wenn man nicht wüsste, dass sie Praktikantinnen am pädagogischen Seminar der Universität sind und das zweite Mal unterrichten, könnte man sie für "richtige" Lehrerinnen halten.

Im nächsten Semester wird das Lehrerbildungszentrum ein so gennantes "Postseminar" veranstalten. Für einen fundierten Praktikumsbericht erhalten die Lehramtsstudierenden dann einen Schein für das Hauptstudium. Etwas wenig Ertrag für eine so intensive Arbeit im Semester und an der Schule, meinen die Studierenden  

Kleis und Lehmann haben den Philosophie-Kurs am Herder-Gymnasium durch schwieriges Terrain zu steuern: "Abgrenzung von Relativismus, Pluralismus und Universalismus in der interkulturellen Theorie von Johann Gottfried Herder". Nicht nur für Schüler eine Herausforderung. 

Auf dem Arbeitsbogen stehen Stichworte wie "Besonnenheit", "Nachahmung", "Vielfalt", "Individuum", "Nationalismus" usw. Das sind Grundbegriffe der Philosophie im Umfeld von Universalismus und Relativismus: "Ihr sollt versuchen, die Definitionen auf dem Blatt den drei philosophischen Ansätzen des Universalismus und Realismus zuzuordnen", sagt Kleis. Die Schüler sollen in Gruppen arbeiten, fünf Gruppen bilden sich heraus, nach Farben codiert. Jede Gruppe soll einen Sprecher oder eine Sprecherin bestimmen. "Dann haut mal rein und viel Spaß", ruft Kleis. 

"Wie habt ihr das begründet?"
Plappern kann jeder, nicht aber begründet sprechen. Das sollen die Schüler jetzt lernen. "Wie habt ihr das begründet?" -  Kleis und Lehmann werden nicht müde, diese einfache Frage zu stellen. Die Gruppen arbeiten konzentriert. Es wird leise diskutiert. Kopfzerbrechen bereitet Esther und den anderen Schülern ein Stichpunkt: "Eingeschränkter Wunsch nach Vielfalt". Was ist das: Relativismus oder Universalismus? "Ich finde Gruppenarbeit besser als allein zu arbeiten, weil man auch andere Meinungen hört", sagt Esther, 17 Jahre. 

Die Schülerinnen und Schüler argumentieren in den Gruppen differenziert, zeitweise scheinen sie den Besuch aus der Universität zu vergessen. Der Methodenwechsel zeigt Wirkung. Die Textarbeit in der Doppelstunde vergangener Woche haben Kleis und Lehmann mehr Schwierigkeit bereitet. Die Studenten aus dem Lehrerseminar hören unterdessen aufmerksam zu. Stifte fliegen über Kladden. Sie können sich eines Fragenkatalogs bedienen und die Kommilitoninnen Kleis und Lehmann u.a. nach folgenden Kriterien beurteilen: Wie steuert der Lehrer den Unterricht? Erfolgt ein Wechsel der Unterrichtsmethoden und der Medien? Wie reagieren die Lernenden darauf? In welchem Klima findet der Unterricht statt?   

Herder ergründen im Team-Teaching
Beim Team-Teaching teilen sich Kleis und Lehmann den Part der Wortführerin und der Schriftführerin an der Tafel, wie zwei Moderatorinnen im Fernsehen. "Teamteaching ist ein Weg zum eigenständigen Unterricht", sagt Wisbert. Ihm kommt es darauf an, "dass das Anspruchsniveau genau getroffen wird". Fachliches Ziel der heutigen Unterrichtseinheit sei es, eine dritte Position zwischen Relativismus und Universalismus zu finden.  

Esther kann keine der auf dem Arbeitsbogen aufgeführten Positionen Herder zuordnen, denn keiner der aufgeführten Begriffe passt genau zu ihm. Herder scheint irgendwo dazwischen zu stehen, stellt Esther fest. Er nimmt sich etwas von den verschiedenen Positionen und fügt sie zu einem neuen Theoriegebäude zusammen - Eklektizismus würden Fachleute dazu sagen. Die Schüler haben die philosophische Aufgabe geschickt gelöst.  

Die dritte Position, den Pluralismus, stellen die Studentinnen Ulrike Zühlsdorf und Nina Robert vor. Ihre gewählte Methode: Textarbeit. Prompt lässt die Teilnahme ein wenig nach, das Terrain ist schwieriger. Als die Studierenden für die nächste Stunde einen Film ankündigen, bricht Jubel aus. Methodenwechsel kann selig machen. 

Kolloquium am Herder-Gymnasium

Studentischer Unterricht wird stets durch eine "Nachbesprechung" reflektiert. Für die Beobachter geht der aktive Teil der Arbeit jetzt erst los: Wisbert bittet die Lehramtskandidaten, die zugeschaut haben, sich auf zwei Punkte zu "fokussieren" und den Unterricht auch "emotional" zu schildern. 

"Klasse war die Gruppeneinteilung nach Farben", bemerkt Klaus Kreuzer. "Das Team-Teaching war gelungen: eine konnte sich auf die Klasse konzentrieren, die andere an die Tafel schreiben", sagt Maria Schiele, Anglistik-Studentin. "Eine enorme Transferleistung, zwischen Universalismus und Relativismus eine dritte Position zu erkennen", sagt ein anderer Student. Die Runde nimmt sich Zeit und seziert systematisch Schwächen und Stärken der Unterrichtseinheit am Vormittag. Sie reden bereits wie Lehrer. Der Respekt vor der Persönlichkeit jeder Schülerin und jedes Schülers scheint in den Beiträgen durch. 

Springen oder Meditieren

"Die Bildungsziele sind erreicht worden. Die Schülerinnen und Schüler kamen im Unterricht zu einer eigenen Identitätsfindung", resümiert Wisbert. Manche von ihnen könnte man auch in ein Proseminar an der Universität stecken, meint er. Der Praktikumsmanager kritisiert hauptsächlich, dass "das Zusammentragen der Ergebnisse" zu lange gedauert hätte. Auch das Springen von Textstelle zu Textstelle hätte die Schüler zerstreut. Hier wird dem Pädagogen und Manager allerdings widersprochen. Sybil Lehmann etwa "hatte Angst, dass sich die Schüler ausklinken würden", wenn es zu einer "Textstellen-Meditation" gekommen wäre. 

Kritik erfolgt konstruktiv. Wisbert spielt sich nicht als Oberlehrer auf. Dann würde er auch den Draht zu den Studierenden verlieren. Das Verhältnis der Studierenden zu ihrem Praktikumsmanager bringt Jens Müller-Alander auf den Punkt: "Man kann nicht weicher fallen." Aus diesem Grunde fordert er, dass eine solche Veranstaltung für alle Lehramtskandidaten Pflicht werden müsse. Pflicht für rund 14.000 Kandidaten? 

Muss Qualität der Lehrerbildung an der Masse von Studenten scheitern?
Am Ende des Kolloquiums, immer noch in den Räumen des Herder-Gymnasiums, wollen Manager und Studierende wissen, wie Klasse und Masse in der Lehrerbildung vereint werden könnten. Wie kann Qualität in ihrem "wissenschaftlichen Anspruch" gesichert werden?  

"Entrümpelung der Studienfächer", fordert Stephan Langer, denn das "wissenschaftliche Niveau sei übertrieben". Maria Schiele, Anglistik-Studentin, findet die Wortstamm-Studien abgehoben. Solche Studien brächten nichts im Unterricht. Sie ist der Auffassung, dass ein guter Lehrer jedes Fach vermitteln, während ein schlechter nicht einmal sein eigenes richtig unterrichten könne. Als Mann der Wissenschaft meldet Wisbert Bedenken an: "Ich hätte Schwierigkeiten, wenn die Lehrerbildung auf Kosten der fachlichen Kompetenz ginge." 

Zustimmung fanden Vorschläge, den sozialen Zusammenhalt unter den Lehramtskandidaten zu stärken. Das schaffe eine "bessere Lernatmosphäre". Verschiedene Ideen, wie der soziale Zusammenhalt gefördert werden könnte, kursierten im Kolloquium: Einen Stammtisch gründen. Eine Akademie in der Eifel für die Studienanfänger gründen. Tutorien für Lehramtskandidaten anbieten. Die Beratung für die Studierenden verbessern. "Alle Probleme potenzieren sich in der Pädagogik", meint Wisbert. Sinnvolle Verbesserungen seien nur mit mehr Geld und mit mehr Personal zu finanzieren.  

So wie der Airbus sicher auf dem Flughafen Köln-Bonn gelandet ist, so wohlbehalten ist auch die kleine Delegation des Lehrerbildungszentrums Köln bei den Schülerinnen und Schülern des Herder-Gymnasiums angekommen. Einige Schüler fragten schon: "Kommt ihr auch wieder?". Ob dem Lehrerbildungszentrum Köln die stärkere Verzahnung von Therorie und Praxis im Lehramtsstudium auch in großem Stil gelingen kann, ist die Herausforderung der Zukunft. Eine Herausforderung, deren erfolgreiche Bewältigung im Schatten von PISA von großer Wichtigkeit ist.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 05.04.2004
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