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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 24.11.2003:

"Ausweg Sonderschule"

Kinder nicht deutscher Herkunft sind auf Sonderschulen für Lernbehinderte überrepräsentiert

Familie Ferrara ist vor 24 Jahren von Sizilien nach Deutschland gezogen. Ihr Sohn Marco wurde in Deutschland geboren und hat hier die Grundschule besucht. Im Gegensatz zu seinen Eltern spricht Marco ganz gut deutsch. Dennoch haben seine Leistungen nicht zu einer Überweisung für eine höhere Schule gereicht. Seit drei Jahren besucht er die Sonderschule für Lernbehinderte. Seine Noten haben sich nicht wesentlich verbessert, seine Sprachkenntnisse auch nicht. Die Eltern fürchten, dass Marco den Hauptschulabschluss nicht schafft und keinen Ausbildungsplatz bekommen wird. Dabei sollte er es doch einmal besser haben als sie.

Migrantenkinder: Überrepräsentation auf Haupt- und Sonderschulen
Marco ist kein Einzelfall. Viele Kinder nicht deutscher Herkunft besuchen die Haupt- oder Sonderschule. Mangelnde Sprachkenntnisse sind oft der Anlass für eine Sonderschulüberweisung. Und das, obwohl "faktisch kein Beleg dafür gefunden werden kann, dass Sonderschulen besondere Kompetenzen in der Vermittlung von (Fremd-)Sprachen und der Anwendung von Didaktik besitzen, die zur Überwindung von Problemlagen nicht deutscher Jugendlicher beitragen", stellen Sandra Wagner und Justin J.W. Powell vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in ihrer Studie "Daten und Fakten zu Migrantenjugendlichen an Sonderschulen in der Bundesrepublik Deutschland" fest. Trotzdem steigt der Anteil der Sonderschüler nicht deutscher Herkunft kontinuierlich an: 1999 waren es nahezu 15 Prozent aller Sonderschüler, obwohl Schüler nicht deutscher Herkunft nur 9,4 Prozent aller Schüler in der Bundesrepublik ausmachten. Das bedeutete für 1999 eine Überrepräsentanz ausländischer Kinder und Jugendlicher an deutschen Sonderschulen von 1,56 Prozent.
Den größten Anteil stellten im Schuljahr 1998/99 Schülerinnen und Schüler aus Albanien (13,6 Prozent), Serbien und Montenegro (12,6 Prozent), gefolgt von Italien (7,8 Prozent), Portugal und der Türkei (jeweils 6,1 Prozent), sowie Griechenland (5 Prozent) und Spanien (4,7 Prozent).

Bildungsbenachteiligung vom Schulbeginn an
Ungleiche Bildungschancen haben viele Kinder nicht deutscher Herkunft bereits beim Eintritt in die Grundschule. Da ein großer Teil der in Deutschland lebenden Migranten der sozial schwach gestellten Bevölkerungsgruppe angehört, leisten sich nicht alle einen Kindergartenplatz. Aber auch die, deren Kinder einen Kindergarten besuchen, erhalten dort nur selten gezielte Sprachförderung.
In den meisten Familien wird zuhause kein Deutsch gesprochen und so kommen die Kinder oft mit nur sehr geringen Deutschkenntnissen in die Grundschule. Ein Manko, dass in der Grundschule selbst selten ausgeglichen wird. Prof. Frank-Olaf Radtke von der Universität Frankfurt/Main bestätigt, dass die Grundschule bis heute nicht anerkannt hat, dass sie dafür zuständig ist, "Kindern, die nicht hinreichend Deutsch sprechen, lesen und schreiben können, genau dies beizubringen." Vielmehr wird erwartet, dass der Spracherwerb im Elternhaus oder im Kindergarten bereits erfolgt ist. Migrantenkinder können dem Unterricht daher oft nicht folgen und werden nach der vierten Klasse auf die Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen. Sprachlichen Defiziten wird statt mit Integration häufig mit institutioneller Separierung begegnet. Die Regelschulen selber müssen so nur geringe Anstrengungen zur Problemlösung unternehmen.

Deutschland muss sich als Einwanderungsland begreifen
Kindertagesstätten und Schulen sind in der Regel monolingual und monokulturell ausgerichtet, obwohl mittlerweile ein sehr großer Teil der Kinder und Jugendlichen multikulturell und mehrsprachig ist. Spätestens seit PISA ist belegt, dass das deutsche Bildungssystem Migrantenkindern keine Chancengleichheit gewährt. Sie haben oft Nachteile durch fehlende Deutschkenntnisse und werden nicht ausreichend darin gefördert. Dennoch hat "die Bundesrepublik nirgendwo ein Statut verfasst, in dem steht: wir möchten die Kinder Zugewanderter benachteiligen. Im Gegenteil: Auf der Ebene der bildungspolitischen Rhetorik ist völlig klar, dass Kinder aus zugewanderten Familien die gleichen Chancen haben sollen, wie alle anderen auch. Richtig ist allerdings, dass diese Rhetorik in der Praxis nicht eingelöst wird. Deshalb muss man sich politisch dafür einsetzen, dass die Chancen größer werden, diese Versprechungen auch einzulösen", betont Prof. Dr. Ingrid Gogolin, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Hamburg.

Die Trennung nach Schulformen ist oft immer noch eine soziale Trennung, die zu einer Unterqualifizierung vieler Jugendlicher führt. Betroffen sind davon überwiegend Kinder nicht deutscher Herkunft. "Dass vielen nur der Weg auf die Sonderschulen bleibt, wird wenig erwähnt", konstatieren Sandra Wagner und Justin Powell.

Institutionelle Diskriminierung
Selbst bei guten Leistungen in der Grundschule wird meistens vom Besuch eines Gymnasiums abgeraten, da aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten ein Scheitern vorausgesagt wird. Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke von der Universität Frankfurt/Main finden in ihrer Studie "Institutionalisierte Diskriminierung von Migrantenkindern. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Organisation Schule" viele Belege für diese "institutionelle Diskriminierung". Danach werden Benachteiligungen von der "Institution Schule" selbst erzeugt. Selektionsentscheidungen an den verschiedenen Schnittstellen wie Einschulung, Übergang zu weiterführenden Schulen sowie Sonderschul-Aufnahmeverfahren werden nach komplexen organisatorischen Kalkülen gefällt: Zu volle oder zu leere Klassen, fehlende Kindergartenzeiten oder der soziale- und Migrationshintergrund entscheiden letztlich über die Schulempfehlungen und Versetzungen.

Mehrsprachigkeit fördern
Um die Bildungschancen der Migrantenkinder zu erhöhen, wird zunehmend gefordert, muttersprachlichen Unterricht an Schulen einzuführen und die natürliche Mehrsprachigkeit der Kinder zu nutzen. Wissenschaftlich wird die Beherrschung der Muttersprache als wesentliche Voraussetzung für das Erlernen der Zweitsprache, in diesem Fall Deutsch, schon lange gesehen. "Für Kinder, die mit zwei Sprachen leben, ist es eigentlich unerlässlich, dass sie auch in beiden Sprachen den Zugang zur Schrift erhalten, weil sich sonst ihre sprachlichen Kompetenzen gar nicht über Alltags- oder Umgangssprache hinaus weiterentwickeln können" berichtet Prof. Gogolin. Lernen die Kinder auch ihre Muttersprache nicht richtig, können sie meist beide Sprachen nur halb.

In Sonderschulen für Lernbehinderte hingegen wird der Sprachförderung nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. In der Sonderschule findet am wenigsten Sprachunterricht statt. Gerade einmal 0,3 Prozent der italienischen Sonderschüler können ihre Muttersprache wählen. Die Fremdsprachenpädagogen, die eine Kommunikation mit den Kindern herstellen könnten, sind vielmehr an den Gymnasien zu finden, bestätigen Wagner und Powell.

Ein Blick ins Ausland
Ein Blick ins Ausland zeigt, dass es auch anders geht. Während Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen in Deutschland in Sonderschulen unterrichtet werden, bleiben sie in vielen andern Ländern in den Regelschulen integriert. Ländern wie Schweden, Norwegen, Finnland und England, wo die Kinder bis zur 9. bzw. 10. Klasse gemeinsam unterrichtet werden, gelingt es mit intensiver, individueller Förderung und Sprachunterricht, Migrantenkindern gleiche Startchancen zu geben. Auch die Wissenschaftler Winfried Kronig, Urs Haeberlin & Michael Eckhart haben im Jahr 2000 für die Schweiz bewiesen, dass Migrantenkinder, die nach objektiven Kriterien als schulleistungsschwach eingestuft waren und je zur Hälfte in Regelschulen und Sonderschulen unterrichtet wurden, ihre Leistungen deutlich besser in Regelklassen als in Sonderklassen steigern konnten.

Ausgrenzung aus der Gesellschaft
Die Überweisung der Kinder und Jugendlichen nicht deutscher Herkunft auf die Sonderschule für Lernbehinderte vergrößert nicht ihre Chancen auf Integration und Bildung, sondern trägt vielmehr zu ihrer weiteren Ausgrenzung aus der Gesellschaft bei. Zwei von zehn nicht deutschen Schulabgängern verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Das sind 2,5 Mal so viele wie bei den deutschen Jugendlichen. Die meisten von ihnen kommen von der Sonderschule. "Damit ist die Förderung von nicht deutschen Kindern und Jugendlichen an Sonderschulen in Bezug auf die Realisierung eines Schulabschlusses unzureichend", belegen Wagner und Powell.

Ohne Hauptschulabschluss bestehen aber kaum Aussichten auf einen Ausbildungsplatz. Und damit sind nicht nur Bildungschancen, sondern auch Chancen auf ein vernünftiges Leben als Mitglied der Gesellschaft nahezu verwirkt.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 24.11.2003
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