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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 14.07.2003:

Vorlesen als Türöffner

Zahlreiche Initiativen wollen die Leselust von Kindern fördern

In Deutschland grassiert ein neues Virus: Das Vorlesen. Wiederentdeckt haben es aber nicht die Eltern, die sich zum Teil immer noch resistent zeigen, sondern andere, die mit Kindern auf die eine oder andere Weise zu tun haben. Kaum noch eine Bibliothek ohne Vorlesestunden, Wettbewerbe küren die vorlesefreundlichsten Kindergärten, Erzählbusse touren durch die Lande und in manchen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Brandenburg tritt die Polit-Prominenz mit Kinderbüchern vor Schulklassen auf. Auf den ersten Blick mag dies wie eine bildungspolitische Modeerscheinung aussehen, doch hinter all den lustigen Namen wie "Vorlesebär", "Bücherwurmrallye" oder "bookbuddy" steckt eine besorgniserregende Entwicklung: Viele deutsche Schüler haben das Lesen verlernt. Natürlich war es die gern zitierte PISA-Studie, die einem Erdbeben gleich über die deutsche Bildung kam und mit dem Finger öffentlich auf die Leseschwäche des deutschen Nachwuchses gezeigt hat. Unter Lesekompetenz verstehen die Wissenschaftler, dass ein geschriebener Text verstanden, genutzt und reflektiert werden kann.

Starker Förderbedarf unter Erstklässlern
Doch das Übel mit dem Lesen beginnt nicht erst mit den 15-jährigen PISA-Probanden. Schon viel früher tun sich viele Kinder mit der eigenen Sprache schwer. Die aktuelle Berliner Sprachstandserhebung aus dem Jahr 2003 zum Beispiel diagnostiziert bei einem nicht unerheblichen Teil der Erstklässler einen (intensiven) Förderbedarf beim Lesen. Vor allem für Kinder nichtdeutscher Herkunft sind mangelnde Sprachkenntnisse der Weg aufs soziale Abstellgleis: Vier von zehn Migranten in Deutschland im Alter zwischen 20 und 30 Jahren haben keinen Berufsabschluss und jeder Fünfte nicht mal einen Hauptschulabschluss. Natürlich ist im Land der Dichter und Denker beim Thema Lesen nicht alles zum Schlechten bestellt. Schließlich stellte die IGLU-Studie deutschen Grundschülern unlängst doch ganz ordentliche Noten im internationalen Vergleich aus. Trotzdem sollte man sich davor hüten, dies als Entwarnung zu deuten. Die Verfasser von IGLU stellen nämlich auch fest,  dass der Anteil der Nicht-Leser bis zum Ende der Sekundarstufe I drastisch ansteigt. Zu dem gleichen Ergebnis kommt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem "Lesebarometer", das einen "Leseknick" zwischen 12 und 13 Jahren ausmacht. Unterm Strich bedeutet das: Wer im zarten Jugendalter keine Bücher mag, der wird dies wohl auch später nicht mehr nachholen. Früh übt sich also, wer ein "Bücherwurm" werden soll. Den Schulen und den Eltern kommt hier eine besondere Rolle zu.

Eltern und Kinder reden kaum noch über Bücher 
Nichts ist so wichtig, schreiben die IGLU-Verfasser, wie eine lesefreundliche Atmosphäre, sprich die Familie, und der Zugang zu Büchern. Vorlesen ist der "Türöffner", der Lust auf Lesen macht und nebenbei noch die Konzentrationsfähigkeit fördert - auch so ein Handicap vieler ABC-Schützen. Alarmierend deshalb, dass die Stiftung Lesen unlängst in einer Studie festgestellt hat, dass der Einfluss des Elternhauses bei der Leseerziehung stark abnehme: Nur jeder vierte Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren gab zu Protokoll, dass zu Hause darauf geachtet werde, dass gute Bücher gelesen werden. Vor acht Jahren erklärten dies noch doppelt so viele Jugendliche. Und über Bücher zu reden scheint in den Familien laut der Studie gänzlich aus der Mode zu sein. Eltern interessieren sich zwar sehr für die verschiedensten Aspekte in der Bildung ihrer Kinder, aber Lesen rangiert in der Wahrnehmung relativ weit unten. "Eltern  bemerken oft nicht, dass gerade  Lesen die Eintrittskarte für die Welt draußen ist", sagt Bodo Franzmann, Leseforscher bei der Stiftung Lesen. Und die Schulen, die ja die Lesefreude fördern sollen, tun sich keinen Gefallen, wenn sie die Interessen der Leseratten in spe ignorieren. Abenteuergeschichten dominieren nämlich mit Abstand in der Wunschliste von Grundschülern ganz oben, realistische Kindergeschichten weit unten, letztere allerdings eine Gattung, die bei Lehrern sehr beliebt ist.

Private Initiativen bringen frischen Wind in Leseförderung
Bewegung und frischen Wind in die Lesemüdigkeit bringen vor allem private Initiativen wie die Stiftung Lesen, die an allen Stellen gleichzeitig aufzutauchen scheint, und das Projekt Lesewelt e.V., das sich zum Ziel gesetzt hat, die Leselust von Kindern zu fördern. "Vor allem bei solchen Kindern, denen eben zu Hause nicht vorgelesen wird", erklärt die Gründerin Carmen Stürzel, die das Projekt aus den USA mitgebracht hat und dafür den Usable-Preis der Körber-Stiftung gewonnen hat. Mittlerweile lesen hundert Freiwillige, meist Frauen, Kindern bis zwölf Jahren in Berliner Bibliotheken vor. Und auch Hamburg, Halle und München folgen dem Berliner Vorbild. Das Beispiel Lesewelt zeigt auch, dass es in der Bildung nicht immer teure Sonderprogramme sein müssen, die die Risse in der Fassade kitten. Doch allein vom Schulterklopfen können Initiativen wie Lesewelt auch nicht überleben und halten sich mit Spenden und Stiftungsgeldern leidlich über Wasser.
Man braucht eigentlich keine Studien um die Bedeutung des Lesens als Basiskompetenz schlechthin zu erkennen. Lesen fördert die Sprach-, die Kommunikations-  und Konzentrationsfähigkeit, regt die Phantasie an und erweitert das Wissen. Und auch das Lieblingskind innovativer Bildungspolitiker, die Medienkompetenz, ist ohne Textverständnis quasi nutzlos. Die Werbekampagne einer großen deutschen Buchhandelskette hat vor einiger Zeit den Nagel auf den Punkt getroffen: "Schock deine Eltern. Lies ein Buch!" stand auf den Plakaten zu lesen. Dies scheint langsam Realität zu werden.

 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 14.07.2003
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