Suche

Gebärdensprache DGS-Button Leichte Sprache LS-Button
Erweiterte Suche

Ariadne Pfad:

Inhalt

„Die Beratung von Menschen mit geringer Grundbildung braucht Zeit und Vertrauen.“

Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Friederike König

11.12.2025: Das ALFA-Mobil - ein Projekt des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. - ist seit 2012 deutschlandweit unterwegs, um Werbung für Lese- und Schreibkurse zu machen. Von zwei Standorten (Berlin und Münster) aus werden mit zwei Fahrzeugen und mobilen Infoständen öffentlichkeitswirksame Aktionen an belebten Standorten wie Innenstädten durchgeführt. Dort wird die Öffentlichkeit über Alphabetisierung und Grundbildung informiert und gemeinsam mit Kursanbietern werden Betroffene direkt angesprochen und ermutigt, den Weg in ein Lernangebot zu finden. Das ALFA-Mobil-Team führt auch Sensibilisierungsschulungen zum Thema „Geringe Literalität“ für Institutionen und Multiplikator*innen durch. Wir sprachen mit der Projektleiterin Friederike König über die Erfolgsfaktoren, Hürden und Erfolge des Projekts ALFA-Mobil.

Online-Redaktion: Frau König, das ALFA-Mobil läuft seit Jahren erfolgreich. Welche Bedingungen waren dafür entscheidend?

König: Ein zentraler Erfolgsfaktor des ALFA-Mobil-Projekts war von Beginn an der Einsatz von (ehemaligen) Betroffenen, die als ehrenamtliche Lernbotschafter*innen dem Thema „Geringe Literalität“ ein Gesicht und eine Stimme verleihen. Ihre Authentizität bewegt und berührt sowohl andere Betroffene als auch die allgemeine Öffentlichkeit. Zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeitenden ergeben sich interdisziplinäre Teams, die sich durch engen persönlichen Kontakt, gemeinsame Erfahrungen und gegenseitige Wertschätzung auszeichnen und in der aufsuchenden Beratung eine hohe Strahlkraft entwickeln.

Auch die geringe Fluktuation im Team hat sowohl eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Projektmaterialien und Ansprachewege als auch vertrauensvolle Verbindungen zu den Lernbotschafterinnen und Lernbotschaftern ermöglicht. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das starke Netzwerk des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e. V. mit lokalen Grundbildungsanbietern in ganz Deutschland. Und nicht zuletzt ist ein wichtiger Faktor, der unser Projekt von vielen anderen unterscheidet, die große Mobilität. Mit unseren zwei Sprintern können wir von Berlin und Münster aus durch das ganze Land fahren und auch dünner besiedelte Regionen ansteuern.

Online-Redaktion: Welche Hürden gab es in Ihrem Projekt zu bewältigen?

König: Strukturell betrachtet ist die Befristung der Förderlaufzeiten immer wieder eine Herausforderung - insbesondere, wenn langfristige Partnerschaften und Netzwerke aufgebaut werden sollen. Die deutschlandweite aufsuchende Beratung von Menschen mit geringer Grundbildung braucht Zeit, Präsenz und Vertrauen und insbesondere sehr gut ausgebildete, reisebereite Mitarbeitende, die jederzeit souverän zwischen unterschiedlichen Sprachregistern wechseln können - von Gesprächen mit Betroffenen über den Austausch mit lokalen Politiker*innen bis hin zu Interviews mit Pressevertreter*innen. Diese herausragende und komplexe Arbeit würden wir gern mit entfristeten Arbeitsbedingungen honorieren. Als bundesweites Reiseprojekt standen wir zudem regelmäßig vor finanziellen und organisatorischen Herausforderungen. Wir arbeiten im Rahmen des Bundesreisekostengesetzes, sind aber häufig in Ferienzeiten oder in touristisch geprägten Regionen unterwegs, um dort öffentlichkeitswirksame Aktionen und Sensibilisierungsschulungen durchzuführen. 
Vereinzelt haben wir durch unsere exponierte Position (Info-Stände an öffentlichen Plätzen) mit Menschen zu tun, die die Bundesregierung und das aktuelle Gesellschaftssystem ablehnen und ihren Unmut kundtun. Wir reagieren darauf souverän und bestimmt und arbeiten diese Vorfälle intern später auf, sodass Mitarbeitende und Lernbotschafter*innen gleichermaßen bestärkt daraus hervorgehen.

Online-Redaktion: Zu welchen innovativen Entwicklungen hat das Projekt beigetragen?

König: Die größte Errungenschaft des ALFA-Mobil-Projekts ist die Sichtbarmachung des Themas „Geringe Literalität“ bei Erwachsenen. Viele Menschen in Deutschland gehen nicht davon aus, dass in einem Land mit allgemeiner Schulpflicht rund jede*r achte deutschsprachige Erwachsene Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat. Betroffene verheimlichen ihre Lese- und Schreibprobleme häufig, halten sie für nicht so gravierend oder wissen gar nicht, dass es Lernangebote speziell für Erwachsene gibt. Mit über 1.100 öffentlichkeitswirksamen Aktionen, rund 200 Multiplikator*innen-Schulungen und einer Presse-Reichweite von insgesamt über 80 Millionen Menschen hat das ALFA-Mobil das Thema „Geringe Literalität“ nachhaltig in der Öffentlichkeit platziert.

Darüber hinaus hat das Projekt entscheidend dazu beigetragen, dass sich das Narrativ in der öffentlichen Berichterstattung über geringe Literalität spürbar verändert hat - von einer defizitorientierten hin zu einer wertschätzenden, ressourcenorientierten Perspektive, die Menschen mit geringen Schriftsprachkenntnissen als vielschichtige Persönlichkeiten und Mutmacher wahrnimmt. Das zeigt sich auch in der deutlich selteneren Verwendung des Begriffs „Analphabet“, der früher häufig stigmatisierend eingesetzt wurde. Sowohl in der lokalen Presse als auch in überregionalen Medien werden Lernbotschafter*innen heute zunehmend respektvoll, einfühlsam und ganzheitlich porträtiert.

Das Projekt hat außerdem bewirkt, dass Grundbildungsanbieter - etwa Volkshochschulen und Mehrgenerationenhäuser - verstärkt eigene Öffentlichkeitsarbeit betreiben und Betroffene über Infostände, lokale Aktionen und Social Media direkt und erfolgreich ansprechen. Die Erkenntnisse des Projektteams zu Sozialräumen, Anspracheformen und Kooperationen wurden bei jeder Aktion und Schulung vor Ort mit den lokalen Partnern geteilt und ergänzt.
Ein weiterer innovativer Aspekt ist die intensive lokale Vernetzung, die durch die Einsätze des ALFA-Mobils entstanden ist. So kommen bei unseren öffentlichkeitswirksamen Aktionen Mitarbeitende der Jobcenter, Stadtbibliotheken, Stadtverwaltungen, lokale Politik, gemeinnützige Träger, Beratungsstellen und Volkshochschulen miteinander ins Gespräch - und viele dieser Kooperationen bestehen bis heute fort.

Online-Redaktion: Was würden Sie anders machen, wenn Sie Ihr Projekt heute starten würden?

König: Das Projekt ist stimmig, wie es ist, das zeigen ja auch die großen Erfolge.
Es hat sich aber gezeigt, dass der Bedarf an aufsuchender Beratung im Grundbildungsbereich in Deutschland weit größer ist, als ein ALFA-Mobil-Team mit zwei Standorten abdecken kann. Wir erhalten seit Jahren deutlich mehr Anfragen, als wir bedienen können. Um alle interessierten Kommunen, Bildungsträger und sozialen Einrichtungen zu erreichen, bräuchte es mindestens drei, eher vier ALFA-Mobile, die parallel in verschiedenen Regionen Deutschlands unterwegs sind.


Friederike König leitet das Projekt ALFA-Mobil des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e. V. und verantwortet dessen strategische und wissenschaftspolitische Ausrichtung. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Erwachsenen- und Grundbildung, der aufsuchenden Bildungsarbeit sowie im Transfer praxiswirksamer Ansätze in bundesweite Strukturen. Als zertifizierte Übersetzerin für Leichte Sprache und einfache Sprache verfügt sie über besondere Kompetenz in barrierearmer Kommunikation. Sie entwickelt und leitet Schulungen und Workshops für Hochschulen, Verbände und Fachkräfte und bringt langjährige Erfahrung in Öffentlichkeitsarbeit, Netzwerkarbeit und Kooperationsmanagement mit.



Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.12.2025
© Bildung + Innovation

Ihr Kommentar zu diesem Beitrag. Dieser Beitrag wurde bisher nicht kommentiert.

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion von Bildung + Innovation erlaubt.

Inhalt auf sozialen Plattformen teilen (nur vorhanden, wenn Javascript eingeschaltet ist)

Teile diese Seite:
  • Externer Link, öffnet neuen Tab: Mastodon
  • Externer Link, öffnet neuen Tab: Facebook
  • Externer Link, öffnet neuen Tab: X
  • Externer Link, öffnet neuen Tab: Whatsapp
  • Externer Link, öffnet neuen Tab: LinkedIn
  • Externer Link, öffnet Mailanwendung: E-Mail
  • Copylink: URL in Zwischenablage

Logos vom Deutschen Bildungsserver und dem Innovationsportal