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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.12.2003:

"Auch andere Jobs sind anstrengend"

Ein Jahr in der Praxis: Lehrer ziehen Bilanz, Teil 3
Das Bild zum Artikel
Rike Hagemann

Bildung PLUS: Wie fühlt man sich denn als Lehrerin, die als Seiteneinsteigerin neu an eine Schule kommt?

Hagemann: Sehr oft überfordert. Ich habe vorher schon als Lehrerin in der Erwachsenenbildung gearbeitet und deshalb war der Praxisschock nicht ganz so groß. Aber mit Kindern zu arbeiten ist eben etwas ganz anderes. Am Anfang war es sehr schwer in einer Klasse mit zwanzig tobenden Kindern zu stehen und für Disziplin und Motivation zu sorgen.

Bildung PLUS: Wie werden Sie denn jetzt zur Lehrerin gemacht?

Hagemann: Wir hatten vor dem Schuljahr eine Einführungswoche und nun einmal pro Woche ein Seminar, in dem wir in Didaktik und Methodik ausgebildet werden. Das ist besser als nichts, aber ich würde nicht sagen, dass es ausreicht. Im Moment schauen wir uns den Unterricht der anderen in Gruppenhospitationen an. Auf der anderen Seite stöhnen ja auch diejenigen, die das Referendariat machen. Ich glaube, in der Praxis nimmt sich das alles nicht viel. Die ganze Lehrerausbildung ist ja reformbedürftig.

Bildung PLUS: Seit PISA bewegt sich einiges in deutschen Schulen. Ist etwas von diesem Elan auch an Ihrer Schule zu spüren?

Hagemann: Auf jeden Fall. Ich bin an der Freien Schule Köln und wir haben schon sehr viele Punkte umgesetzt, die nach PISA von den Schulen eingefordert wurden. Ein Aha-Erlebnis hatte ich im wöchentlichen Seminar, in dem ein Film über skandinavische Schulen gezeigt wurde. Alle anderen Referendare oder Seiteneinsteiger waren frustriert, weil sie Schule in der Realität so nicht erleben. Ich war die Einzige, die in dem Film teilweise meine Schule wiedererkannte. Zum Beispiel kleinere Klassenstärken, wenig Frontalunterricht, eine Individualisierung des Lernens, keine Noten bis zur achten Klasse und eine starke Einbindung der Eltern. Zudem sind wir eine Ganztagsschule, in der man auch Zeit beim Mittagessen miteinander verbringt.

Bildung PLUS: Evaluation ist auch ein beliebtes Stichwort in der Pisa-Debatte. Aber Lehrer lassen sich scheinbar so ungern über die Schulter schauen. Warum?

Hagemann: In Deutschland gibt es keine Hospitationskultur bei Lehrern. Das ist eine Kultur, die man aufbauen muss. Im Referendariat wird ja sehr viel hospitiert und sobald man den Job hat, hört das Ganze auf. Deswegen haben heute viele Lehrer Angst, dass ihr Unterricht zerpflückt wird. Sie sehen gar nicht, was für Chancen sich durch ein Feedback bieten. Wir haben an unserer Schule jetzt angefangen, die Türen der Klassenzimmer aufzulassen. Das hat mich am Anfang auch etwas Überwindung gekostet, trägt aber zu einer offenen und positiven Atmosphäre bei. Außerdem haben wir uns im Kollegium dafür entschieden, Hospitationen bei Kollegen zu machen. Ich glaube, dass Lehrer auch deshalb frustriert sind, weil sie immer alleine unterrichten und nie eine Rückmeldung über ihre Arbeit bekommen. Kritik muss ja nicht nur negativ sein. Es ist ein Austausch, der einen als Lehrer voranbringt. Ich jedenfalls bin meinen Kollegen dankbar für Kritik.

Bildung PLUS: Alle Politiker bekennen sich zur Ganztagsschule, weil diese die Kinder anscheinend besser fördert, soziale Ungerechtigkeiten ausgleicht etc. Sehen Sie das auch so?

Hagemann: Ich arbeite an einer Ganztagsschule und finde es schön, dass man mit den Kindern so viel Zeit verbringt. Die Identifikation von Lehrern und Schülern mit der Schule erhöht sich, das Sozialverhalten der Schüler bessert sich und natürlich ist es ein ganz großer Vorteil für die Eltern, die arbeiten. Außerdem lernt man in der Ganztagsschule als Lehrer seine Schüler viel besser kennen, denn man isst mittags zusammen und macht danach zusammen Hausaufgaben.

Bildung PLUS: Das halbe Jahr Ferien, mittags um eins Feierabend, unkündbar und überbezahlt. Was sagen Sie zu dem schlechten Image der Lehrer in der Öffentlichkeit?

Hagemann: Das schlechte Image ist unbegründet, weil Lehrer im Gegensatz zur öffentlichen Meinung viel arbeiten. Ich weiß als Seiteneinsteiger aber auch, dass andere Jobs auch anstrengend sind. Viele Lehrer übertreiben es auch mit dem Jammern. Man darf aber nicht vergessen, wie viel Verantwortung wir als Lehrer haben. Ich bin nicht nur Englischlehrerin, sondern auch noch Erzieherin. Eine Aufgabe, die uns mehr und mehr von den Eltern untergeschoben wird. Kinder können zum Beispiel teilweise nicht still sitzen, sich nicht artikulieren oder malen, weil sie nicht wissen, wie sie den Stift halten sollen.

 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.12.2003
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