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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 22.12.2003:

"Kinder haben kein Problem, mehrere Sprachen gleichzeitig zu lernen"

Jürgen Weissenborn, Professor für Psycholinguistik, über Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern
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Prof. Dr. Jürgen Weissenborn

Bildung PLUS: Herr Weissenborn, Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Erstspracherwerb. Wann beginnt Sprachwahrnehmung bei Kindern?

Weissenborn: Wir können feststellen, dass Kinder auf sprachliche Reize bereits im Mutterleib reagieren. Lässt man ihnen von außen über den Mutterleib einen sprachlichen Reiz wie "biba, biba" zukommen und wechselt dann auf "babi, babi", stellt man aufgrund der verlangsamten Herzfrequenz fest, dass sie einen Unterschied zwischen "biba" und "babi" erkannt haben müssen. Das bedeutet, dass sie bereits lautliche Reize aufnehmen können und insbesondere für die Laute der Muttersprache sensibilisiert sind. Sprachwahrnehmung und damit auch der Spracherwerb beginnen also schon vorgeburtlich.

Bildung PLUS: Und wie lernt das Kind dann sprechen?

Weissenborn: Ich würde die Frage eher so stellen: welche Aufgaben muss das Kind lösen, um seine Muttersprache zu erwerben? Wir gehen davon aus, dass der Mensch eine angeborene, nur ihm eigene Sprachfähigkeit besitzt, da wir ein ähnliches Kommunikationssystem bei keinem anderen Lebewesen finden. Ein Kind, das sprechen lernt, muss im Wesentlichen drei Schritte tun: Es muss den sprachlichen Lautstrom, den es hört, segmentieren, d.h. in Lautfolgen zerlegen, die mögliche Wörter der zu lernenden Sprache sind. Dann muss es mit den Lautfolgen eine Bedeutung verbinden, was nur gelingen kann, wenn es bereits über Begriffe verfügt. Der dritte und letzte Schritt, den es tun muss, ist die sprachspezifische Kombination von Wörtern zu Sätzen. Dieses Wissen macht das besondere der menschlichen Sprachfähigkeit aus, weil es uns erlaubt, mit Worten über die Erfahrung hinauszugehen.

Bildung PLUS: Lernen Kinder in immer gleichen Mustern, Zeitabläufen und Entwicklungsstadien sprechen?

Weissenborn: Alle gesunden Kinder erwerben etwa im gleichen Zeitraum ihre Muttersprache. Bereits im Alter von 2 bis 3 Jahren haben sie sich die Grundlagen des Wortschatzes und der Grammatik zu eigen gemacht, und zwar unabhängig davon, welche Sprache gelernt wird. Das Kind erwirbt zunächst lautliche und rhythmische Regelmäßigkeiten der Sprache, dann folgen die ersten Wörter und darauf die Verknüpfung von Wörtern zu komplexen Ausdrücken. Dabei lässt sich zeigen, dass das sprachliche Wissen der Kinder anfänglich in vielen Bereichen wesentlich größer ist, als ihre ersten Äußerungen vermuten lassen.

Bildung PLUS: Wie können Kinder schon früh ihre Muttersprache von einer anderen Sprache unterscheiden?

Weissenborn: In erster Linie aufgrund der lautlichen und rhythmischen Eigenschaften der Muttersprache. Sprachen haben oft sehr unterschiedliche rhythmische Muster. Im Deutschen beispielsweise betont man ein zweisilbiges Wort gewöhnlich auf der ersten Silbe, im Französischen hingegen auf der letzten. Bietet man Kindern gleich nach der Geburt die Muttersprache sowie eine weitere, rhythmisch verschiedene Sprache an, dann lässt ihr Verhalten erkennen, dass sie ihre Muttersprache bevorzugen. Sie müssen also bereits für ihre charakteristischen rhythmischen Eigenschaften sensibilisiert sein.

Bildung PLUS: Können Eltern den Spracherwerb ihrer Kinder positiv beeinflussen?

Weissenborn: Was Kinder offensichtlich für den Spracherwerb benötigen, ist ein ausreichendes Sprachangebot durch ihre Umgebung. Aber auch bei den vermutlich relativ großen Unterschieden zwischen einzelnen Kindern, was den Umfang ihrer sprachlichen Erfahrung anbelangt, lernen sie doch alle normalerweise innerhalb der ersten 2 bis 3 Jahre sprechen. Problematisch wird es erst, wenn ein Kind in den ersten Lebensjahren fast keinen sprachlichen Kontakt hat, wie etwa das Beispiel von Genie zeigt, einem amerikanischen Mädchen, mit dem bis zum 14. Lebensjahr sprachlich nicht kommuniziert worden war. Seine Sprachkenntnisse blieben, vor allem was die Grammatik anbelangt, unvollständig. Dies deutet darauf hin, das die ersten Lebensjahre für den Erwerb der Muttersprache entscheidend sind, und dass die Fähigkeit zum Erstspracherwerb mit dem Alter abnimmt.

Bildung PLUS: Es gibt aber auch Kinder, die Schwierigkeiten beim Sprechen lernen haben. Wie erkennt man Sprachentwicklungsstörungen und wie kann man Spracherwerbsstörungen rechtzeitig entgegenwirken?

Weissenborn: Eine wichtige Voraussetzung für die Diagnose von spezifischen Sprachentwicklungsstörungen, das sind Sprachentwicklungsstörungen, die nicht auf Beeinträchtigungen wie neurologische Störungen, Hörschäden, mentale Retardierung oder soziale Deprivation zurückzuführen sind, ist die genaue Kenntnis des Verlaufs des ungestörten Spracherwerbs. Erst ein detaillierter Vergleich mit der normalen Sprachentwicklung erlaubt Aussagen darüber, ob und in welchen Bereichen, etwa dem Wortschatz oder den Wortstellungsregeln, die sprachliche Entwicklung eines Kindes auffällig ist oder nicht. Da, wie schon erwähnt, die entscheidenden sprachlichen Entwicklungen in den ersten drei Lebensjahren stattfinden, ist es sehr wichtig, dass Spracherwerbstörungen so früh wie möglich erkannt werden. Hiervon hängt auch weitgehend der Therapieerfolg ab, da, wie wir am Beispiel des Kindes Genie sahen, mit zunehmendem Alter die Sprachlernfähigkeit abnimmt, was vermutlich auch mit der sich verringernden Plastizität des Gehirns zusammen hängt. Eine gezielte Therapie setzt jedoch nicht nur voraus, dass man den gestörten sprachlichen Bereich so genau wie möglich bestimmt hat, sondern auch die möglichen Ursachen der Sprachentwicklungsstörungen identifiziert hat. Über die Ursachen von Sprachentwicklungsstörungen wissen wir jedoch noch erstaunlich wenig. Die bisherigen Forschungen legen nahe, dass Sprachentwicklungsstörungen das Resultat des Zusammenwirkens von Faktoren aus unterschiedlichen Entwicklungsbereichen sind. Das bedeutet, dass die Entstehung von Spracherwerbsstörungen nur durch interdisziplinäre Forschung geklärt werden kann. Eine solche Studie ist die seit 2000 u.a. von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Max-Planck-Institut für Neurospsychologische Forschung, Leipzig, finanzierte `Deutsche Sprachentwicklungsstudie´ (www.glad-study.de) an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin `Lindenhof´ in Berlin. Sie untersucht zunächst während der ersten drei Lebensjahre bei etwa 180 prä- und perinatal unauffälligen Kindern die Sprachentwicklung in ausgesuchten Bereichen der vorsprachlichen Lautgebung (Schreien und Lallen), der Sprachproduktion, der Sprachwahrnehmung und der Sprachverarbeitung. Parallel hierzu werden auch bestimmte Aspekte der kognitiven und sozial-kognitiven, sowie der auditiven, neurophysiologischen und neuropsychologischen Entwicklung, von denen angenommen wird, dass ein Zusammenhang mit der Sprachentwicklung besteht, mitverfolgt. Gleichzeitig wird die somatische und psychomotorische Entwicklung der Kinder kontrolliert und dokumentiert.

Bei einer Stichprobengröße von 180 Kindern ist zu erwarten, dass bei einer Reihe von Kindern Sprachentwicklungsstörungen auftreten. Die Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen sollen dann im Alter zwischen 2 und 4 Jahren mithilfe von Tests, wie dem ELFRA von Frau Grimm, diagnostiziert werden. Durch den nachträglichen Vergleich der Entwicklung dieser Kinder mit der Entwicklung der sprachlich unauffälligen Kinder können wir dann feststellen, in welchen Bereichen sich die Entwicklungsverläufe zwischen den beiden Gruppen unterscheiden. Wir erwarten, dass schon sehr frühe Entwicklungsunterschiede in den verschiedenen Untersuchungsbereichen Sprachentwicklungsstörungen vorherzusagen bzw. zu diagnostizieren erlauben. Damit wäre eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung von Verfahren zur Prävention, Frühdiagnose und Therapie von Spracherwerbstörungen geschaffen.

Bildung PLUS: Inwiefern besteht ein Zusammenhang zwischen der geistigen Entwicklung eines Kindes und seinen Spracherwerbsstörungen?

Weissenborn: Sprachliche Defizite beeinträchtigen oft auch die weitere kognitive Entwicklung der betroffenen Kinder, was z.B. negative Auswirkungen auf ihre schulischen Leistungen haben kann.

Bildung PLUS: Können Kinder problemlos zwei Sprachen gleichzeitig lernen?

Weissenborn: Die meisten Kinder auf der Welt wachsen in einer mehrsprachigen Umgebung auf. Wenn ein Kind früh genug, d.h. vermutlich innerhalb der ersten fünf Lebensjahre, kontinuierlich genügend sprachliche Anregung in den verschiedenen Sprachen seiner Umgebung erhält, wird es diese Sprachen im wesentlichen wie ein einsprachiges Kind erwerben. Mehrsprachig aufwachsende Kinder halten die verschiedenen Sprachen von Anfang an auseinander und wir finden bei ihnen auch die gleichen Entwicklungsschritte wieder wie bei den einsprachig aufwachsenden Kindern.

Bildung PLUS: Wie groß sind die Chancen bei Migrantenkindern, die Sprache des Gastlandes zu lernen?

Weissenborn: Sie sind umso besser, je früher sie mit der Sprache des Gastlandes systematisch in Berührung kommen. Da gerade dies in der Familie des Kindes im allgemeinen nicht gewährleistet ist, ist es besonders wichtig, dass diese Kinder möglichst schnell einen Platz in einem Kindergarten oder einer ähnlichen Einrichtung bekommen. Dabei wird man jedoch, vor allem bei älteren Kindern, auf zusätzliche sprachliche Förderung nicht verzichten können.

Bildung PLUS: Wie sieht die frühe sprachliche Förderung bei Kindern von Migranten aus?

Weissenborn: Sie kann vermutlich ähnlich aussehen wie bei deutschen Kindern mit verzögertem Spracherwerb oder mit Spracherwerbsstörungen, wie kürzlich Untersuchungen von Penner gezeigt haben. Es ist offensichtlich möglich, durch gezielte, auf die für das Sprachverständnis und die Sprachproduktion kritischen sprachlichen Bereiche abgestellte Förderung zu erreichen, dass Migrantenkinder in diesen Bereichen über die gleichen sprachlichen Fähigkeiten wie die gleichaltrigen deutschen Kinder verfügen, und damit dann auch die notwendigen sprachlichen Voraussetzungen für die Einschulung mitbringen.

Prof. Dr. Jürgen Weissenborn, Jahrgang 1937, ist Honorarprofessor für Psycholinguistik an der Humboldt-Universität in Berlin. Er war von 1994 bis 2002 Professor für Psycholinguistik/ Schwerpunkt Spracherwerb an der Universität Potsdam und zuvor knapp 20 Jahre am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, Holland. Seine Hauptforschungsgebiete sind der Erstspracherwerb aus sprachvergleichender Perspektive, Sprachentwicklungsstörungen und die Interaktion von kognitiver und sprachlicher Entwicklung.

Literatur zum Thema

  • Grimm, Hannelore (1999) Störungen der Sprachentwicklung. Göttingen, Hogrefe
  • Penner, Zvi (2004) Sprachtherapie und Sprachförderung bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart, Kohlhammer
  • Penner, Zvi, Weissenborn, Jürgen & Friederici, Angela (2002) "Sprachentwicklung". In: Karnath, Hans-Otto & Thier, Peter, (Hsg.), Neurospychologie, Berlin-Heidelberg, Springer, 677-684
  • Weissenborn, Jürgen (2000) "Der Erwerb von Morphologie und Syntax". In: Hannelore Grimm (Hsg.) Sprachentwicklung ( Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C: Theorie und Forschung, Serie III: Sprache), Göttingen, Bern, Toronto, Seattle, Hogrefe. Verlag für Psychologie, 141-169

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 22.12.2003
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