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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 25.03.2021:

„Wir brauchen offene Formate, die Zwischenschritte in der Materialentwicklung zulassen.“

Die Vorteile freier Bildungsmaterialien für die inklusive Bildung
Das Bild zum Artikel
Prof. Dr. Frank J. Müller, Bildrechte: cc-by lt.org - Sebastian Neumann

Wie können digitale Medien für die inklusive Bildung genutzt werden? Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Dr. Frank J. Müller, Juniorprofessor an der Universität Bremen für inklusive Pädagogik, darüber, welche Vorteile insbesondere Open Educational Resources (OER), freie Bildungsmaterialien, für Lehrkräfte von heterogenen Lerngruppen haben und was das deutsche Bildungssystem von den staatlich finanzierten OER am Beispiel der Plattform NDLA aus Norwegen lernen kann.


Online-Redaktion: Wo liegen die Chancen der Digitalisierung für den Umgang mit Heterogenität?

Müller: Ich denke, eine besondere Chance ist der unbeschränkte Platz, den sie bieten und den Lehrkräfte mit Schüler*innen kreativ nutzen und durch den sie auch differenzierte Inhalte zur Verfügung stellen können. Bei digitalen Kopien entstehen außerdem keine Kosten und so können Lehrkräfte unbegrenzt Angebote und Materialien schaffen, die zu den Bedürfnissen aller Schüler*innen passen, denn das ist ein wesentlicher Punkt im gemeinsamen Unterricht, generell im Unterricht. Diese Anpassbarkeit von Inhalten ist einer der besonderen Aspekte der Digitalisierung.

Online-Redaktion: Gibt es noch weitere Vorteile?

Müller: Mit dem Mehr an Platz können sie auch mehr Perspektiven aufgreifen, also zum Beispiel im Geschichts- oder Politikunterricht die Perspektiven von Frauen, von Menschen mit schwul/lesbischen Lebensweisen, von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen oder auch von Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind. Darüber können sich Schüler*innen besser mit dem Material identifizieren bzw. leichter Empathie und Verständnis für andere Sichtweisen aufbauen. Digitalisierung bietet aber auch die Möglichkeit, eine größere Anschaulichkeit zu erzeugen. Es ist für Kinder sehr hilfreich, wenn ein Arbeitsprozess, eine Vorgehensweise oder ein Versuch in einzelnen Schritten dargestellt wird, das funktioniert mit digitalen Medien natürlich sehr gut. In Videos können alle einzelnen Schritte anschaulich und für alle Schüler*innen nachvollziehbar demonstriert werden und die Schüler*innen können sie sich jederzeit in beliebiger Geschwindigkeit beliebig oft ansehen. Schließlich kann Digitalisierung auch zu einer Demokratisierung des Lernens beitragen, denn nicht nur Schulbuchverlage verfügen hier über Produktionsmittel, sondern auch die Lehrkräfte und Schüler*innen selbst. Sie können z.B. mit ihren Smartphones Lernvideos erstellen und sie mit anderen teilen.

Online-Redaktion: Wo gibt es Barrieren?

Müller: Die größte Gefahr liegt meines Erachtens darin, wenn nur geschlossene Formate angeboten würden. Apps, auf die wir nur in einer konsumierenden Form zugreifen können, die wir nicht bearbeiten und deren Inhalt nicht verändern können, sondern nur in dem Format benutzt werden können, das der Schulbuchverlag vorgibt. Wenn geschlossene Formate die dominante Form des digitalen Lernens werden würden, wäre das eine vertane Chance und der große Vorteil der Digitalisierung für die inklusive Bildung - Anpassbarkeit - nicht mehr gegeben.

Online-Redaktion: Sind OER für die inklusive Pädagogik deshalb so gut geeignet?

Müller: Ich glaube, dass OER tatsächlich am besten geeignet sind für die inklusive Pädagogik, weil sie Lehrkräften die Möglichkeit bieten, die Materialien an die Bedürfnisse ihrer Schüler*innen anzupassen. Es gibt Schüler*innen, die am Anfang ihrer Leseentwicklung stehen, obwohl sie altersmäßig in der 6. Klasse sind, und genauso gibt es Schüler*innen, die in der Entwicklung viel weiter sind. Deswegen brauchen wir keine PDF- oder fertige Videodateien, sondern offene Formate, die Zwischenschritte in der Materialentwicklung zulassen. Diese müssen zur Verfügung gestellt werden, damit Lehrkräfte auf den Ideen von anderen aufbauen und eigene Weiterentwicklungen teilen können. Das funktioniert nur mit freien Lizenzen, die für OER das Charakteristische sind.

Online-Redaktion: Wie könnte man Lehrkräfte in heterogenen Lerngruppen durch den Einsatz von OER entlasten?

Müller: Ein wichtiger Punkt ist, dass bei der Entwicklung einer staatlichen OER-Strategie von vorneherein Differenzierung in öffentlich geförderten Materialien mitgedacht wird, aber selbst wenn das nicht passiert, gibt es durch die freien Lizenzen die Möglichkeit, das Material anzupassen. Das führt dazu, dass Lehrkräfte das Rad nicht immer neu erfinden müssen. Sie können auf Konzepte und bestehende Materialien aufbauen und wenn sie sie verbessern, auch weitergeben. Wichtig ist, dass eine Kultur des Teilens unter den Lehrkräften etabliert wird, dass Lehrkräfte ihr Material gerne an andere Lehrkräfte weitergeben, weil sie wissen, dass sie auch von ihnen Material bekommen. In erster Linie geht es darum, guten Unterricht zu machen. Mit einer Anerkennungskultur könnte das Denken der Kolleg*innen dahingehend verändert werden. Mit flexiblen Ferientagen oder einer finanziellen Anerkennung für die Entwicklung von Material könnten zusätzlich Anreize geschaffen werden. Auch ein gemeinsamer Materialpool - sogar über die Schulgrenze hinaus, zum Beispiel im Austausch mit anderen Schulen in der Region  - wäre eine Option. Wer seine Arbeit sichtbar machen möchte, kann sie unter einer CC BY-Lizenz anbieten, sie erlaubt die Nutzung durch andere unter der Bedingung, dass der Urheber sowie die betreffende Lizenz angegeben werden.

Online-Redaktion: Sie waren in Norwegen und haben sich von dem System der staatlich finanzierten OER in Form der Plattform NDLA inspirieren lassen. Wie funktioniert diese?

Müller: Norwegen hat bereits 2006 eine technische Grundinfrastruktur - einen Laptop für jede*n Schüler*in und WLAN an den Schulen - geschaffen. Ähnlich wie es jetzt in Deutschland passiert, haben die Norweger*innen dann bemerkt, dass sie keine digitalen Inhalte haben, mit denen sie lernen können. Daraufhin hat Norwegen ein Gesetz verabschiedet, das die Counties, die Provinzen, dazu verpflichtet, den Schüler*innen qualitativ hochwertige digitale und analoge Schulbücher und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung zu stellen. 18 von 19 Counties haben sich zusammengeschlossen und eine nationale Plattform gegründet, die NDLA (Norwegian Digital Learning Arena). Das ist eine Plattform, die für die Sekundarstufe II OER-Materialien erstellt und bündelt, dafür erhält sie 20 Prozent des Schulbuchetats. Von diesen 20 Prozent werden 70 Prozent über Ausschreibungen für die Entwicklung von Schulmaterial an den freien Markt gegeben. Trotzdem gab es auch in Norwegen massiven Widerstand der Schulbuchverlage, sie haben aber ihre Klagen gegen dieses Gesetz und die NDLA verloren.

Online-Redaktion: Könnten wir diese Plattform auch in Deutschland anwenden?

Müller: Die Kolleg*innen aus Norwegen wären dazu bereit, ihre Erfahrungen und Inhalte mit uns zu teilen, d.h. wir könnten Teile ihrer Inhalte übernehmen und an unsere Bedürfnisse anpassen. Sie haben in den letzten 14 Jahren Materialien für über 80 Fächer entwickelt. Wir müssten nicht einmal unsere eigene Plattform entwickeln. Insbesondere wenn wir uns für eine zentrale Plattform entschieden, könnten Inhalte in bestimmten Strukturierungen zur Verfügung gestellt werden, auch die Software liegt als offener Quellcode vor und kann übernommen werden. Den Norweger*innen verdanken wir auch das offene Fomat H5P für multimediale Inhalte.

Ich empfehle die Erstellung einer einfachen Plattform, die modular gestaltet ist, in der Dokumente ineinander verschachtelt werden können und Lehrkräfte Inhalte weiterentwickeln und mit anderen teilen können. Die deutschen Bundesländer könnten eine vergleichbare Gesetzesgrundlage wie in Norwegen schaffen. Wenn jedes Bundesland für jede*n Schüler*in einen Euro pro Unterrichtsfach zur Verfügung stellen würde, dann könnten pro Jahr sieben Millionen Euro pro Fach für das Projekt Verwendung finden, damit könnte man schon Einiges an Material entwickeln.

Online-Redaktion: Was sollte bei der Entwicklung von OER beachtet werden?

Müller: Auch hier ist Norwegen ein gutes Vorbild. Die NDLA denkt bei der Entwicklung von Material fiktive „Personas“ mit - Schüler*innen und Lehrkräfte. Hier wäre es hilfreich, als „Personas“ Schüler*innen mit Förderbedarf oder mit unterschiedlichen Hintergründen mitzudenken sowie Lehrkräfte mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen, weil es dann wahrscheinlicher ist, den Bedürfnissen dieser Endnutzer*innen zu entsprechen.

Online-Redaktion: Könnte man Lernende auch direkt in die Entwicklung von OER einbeziehen?

Müller: Schüler*innen, die in der Grundschule beispielsweise schon weit fortgeschritten sind in ihrer Leseentwicklung und noch das Vorlesen üben sollen, könnten einen Vorlesestift besprechen, den sich Schüler*innen, die nicht lesen, aber über einen Vorlesestift Inhalte in einem Bilderbuch erfassen können, anhören. Damit wird die Lehrkraft entlastet, die Schüler*innen, die vorlesen, bekommen eine bedeutungsvolle Aufgabe und die Schüler*innen mit Förderbedarf oder anderer Muttersprache Zugang zu dem Material.

Online-Redaktion: Wie man Lernende mit und ohne Beeinträchtigung in die Entwicklung von OER einbeziehen kann, haben Sie auch in einem OER-Projekt zum inklusiven, interessegeleiteten Schriftspracherwerb aufgegriffen.

Müller: Ja, das ist ein Projekt, das wir gemeinsam mit den Sophie-Scholl-Schulen in Gießen - eine Grundschule und eine weiterführende Schule - durchführen. Wir beobachten, welche Wörter für Kinder und Jugendliche bedeutsam sind und bauen zu diesen Wörtern ein digitales Wörterbuch auf, das inklusiv gedacht ist, so dass auch Schüler*innen, die nicht lesen und schreiben können, einen Zugang dazu finden. Das funktioniert über Bilder und Kategorien. Die Kinder und Lehrkräfte werden in die Auswahl der Designer*innen einbezogen und die Zeichnungen durch Kinder mit und ohne Förderbedarf geprüft, damit wir sicher gehen, dass sie sie auch richtig einordnen können. Wichtig ist auch, das Design für die Bedürfnisse der Lehrkräfte kompatibel zu gestalten und für ihre unterschiedlichen fachdidaktischen Methoden zugänglich zu machen, wenn man möchte, dass es möglichst breit genutzt wird. Also beispielsweise Wortkarten mit Montessori-Symbolen, Silbenbögen und wortstammbasiert zur Verfügung zu stellen und deutlich zu machen, warum unterschiedliche Fachdidaktiker*innen auch unterschiedliche Zugänge bevorzugen.

Online-Redaktion: Benutzen Sie OER auch in der Lehrer*innenbildung?

Müller: Im Rahmen des Projekts „Blick zurück nach vorn“ haben wir 18 Wissenschaftler*innen, die innerhalb eines Zeitraums von drei, vier Jahren in den Ruhestand gegangen sind, nach ihren Erfahrungen mit der integrativen Pädagogik in den letzten 40 Jahren befragt. Die Ergebnisse haben wir digital beim Open-Access-Server pedocs kostenfrei für die Studierenden zur Verfügung gestellt. Sie wurden in den letzten zweieinhalb Jahren 3000 Mal heruntergeladen. Das hätte mit einem Buch für 45 Euro nicht funktioniert. Außerdem können sie legal in Lernmanagementsystemen in Universitäten eingebunden werden. So kamen wir auf die Idee, das Projekt „path2in Lernpfade in die inklusive Pädagogik“ zu initiieren, in dem OER-Materialien für die Einführung in die inklusive Pädagogik entwickelt wurden. OER helfen, die Inhalte, die einem wichtig sind, zu verbreiten. Wir haben Interviews mit 30 Personen geführt und diese in Form von Videos und Podcasts umgesetzt. So ist es uns gelungen, die Perspektiven von Eltern, Menschen mit Beeinträchtigungen, Lehrkräften, Lernenden, Schulleitungen und Forscher*innen einzubeziehen, was in einem normalen Seminar nicht möglich gewesen wäre. Corona und die dadurch entstandene zunehmende Digitalisierung an den Hochschulen haben die Nutzung stark beschleunigt - im letzten Jahr wurden die Videos insgesamt 20.000 Mal aufgerufen und die Podcasts 13.000 Mal. Davon profitieren auch Studierende an anderen Universitäten.

Wenn man eine breitere Einsetzbarkeit der Materialien gewährleisten will, muss man sich natürlich auch fragen, wie sie gestaltet werden sollen. Wir haben uns für das offene H5P-Format entschieden und Inhaltsverzeichnisse sowie Sprungmarken angelegt, so dass man zu den Fragen, die einen interessieren, direkt kommen kann, sowie Transkripte für die Podcasts erstellt. Außerdem haben wir darauf verzichtet, das Logo der Universität Bremen auf der Startfolie abzubilden, damit es Lehrkräfte und Lernende an anderen Universitäten nicht davon abhält, das Material einzusetzen. Das Ziel ist, die Inhalte, die uns am Herzen liegen, möglichst weit zu verbreiten und dafür sind zugängliche freie Bildungsmaterialien ein gut geeigneter Weg.



Prof. Dr. Frank J. Müller hat im Anschluss an seine Tätigkeit als Sonderpädagoge an der Grünauer Gemeinschaftsschule in Berlin eine Juniorprofessur an der Universität Bremen für inklusive Pädagogik mit den Schwerpunkten Geistige Entwicklung und Lernen übernommen.

Er arbeitet zu Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrkräfte in heterogenen Lerngruppen durch inklusive Open Educational Resources, zum Forschenden Studieren, um integrationspädagogische Entwicklungen zugänglich zu gestalten, sowie zu Fragen der Einbeziehung weiterer Heterogenitätsdimensionen.

 

Weiterfürende Links:

„path2in - Lernpfade in die inklusive Pädagogik“, Interviews 


„path2in - Lernpfade in die inklusive Pädagogik“, Interviews

Frank J. Müller: Blick zurück nach vorn - WegbereiterInnen der Inklusion. Bd 1

Frank J. Müller: Blick zurück nach vorn - WegbereiterInnen der Inklusion. Bd 2

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 25.03.2021
© Innovationsportal

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