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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 08.03.2021:

„Kein Name darf vergessen werden.“

Die Arolsen Archives errichten zusammen mit Freiwilligen ein digitales Denkmal für die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Menschen
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Arolsen Archives

Mit der Initiative #everynamecounts will das Dokumentationszentrum Arolsen Archives den Verfolgten des Nationalsozialismus ein digitales Denkmal errichten, damit auch zukünftige Generationen sich an die Namen und Identitäten der Opfer erinnern können. Die Online-Redaktion sprach mit Floriane Azoulay, Direktorin der kurz nach Kriegsende als International Tracing Service (Internationaler Suchdienst) gegründeten Institution, über die Aufgaben der Arolsen Archives und die Bedeutung der Initiative #everynamecounts.


Online-Redaktion: Die Arolsen Archives sind ein internationales Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Was sind die Aufgaben der Arolsen Archives, die im Mai 2019 aus dem Internationalen Suchdienst hervorgegangen sind?

Azoulay: Die historische Aufgabe der Arolsen Archives war die Suche nach Vermissten und die Klärung von Schicksalen. Dies war möglich, weil direkt nach dem Krieg Dokumente gesammelt wurden, die aus den Konzentrationslagern und den Gefängnissen stammten. Hinzu kamen Aufstellungen von Polizei, Justiz sowie Kommunalverwaltungen und später umfangreiche Dokumentenbestände aus der Nachkriegszeit. Neben der Beantwortung von Anfragen ging es also auch um die Aufbewahrung dieser Dokumente, die ein Beweis für die Verbrechen der Nazis sind. Beide Aufgaben sind heute immer noch sehr relevant.

Online-Redaktion: Wie kam es zur Gründung des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen?

Azoulay: Im Januar 1946 wurde der Sitz des Zentralen Suchbüros in das nordhessische Arolsen verlegt. Es gab eine intakte große SS-Kaserne mit funktionierenden Kommunikationsmitteln wie Telefon und Telegraf sowie genug Platz, um die Massen an Dokumenten zu lagern. Außerdem liegt der Ort so zentral, dass man von allen Besatzungszonen gut anreisen konnte, um Informationen hin- und zurückzutragen. Es waren also sehr pragmatische Gründe.

Online-Redaktion: Kamen im Laufe der Zeit noch Dokumente dazu?

Azoulay: Der Internationale Suchdienst hat jahrzehntelang weiter nach Dokumenten gesucht, die das Schicksal von den Opfern der Nationalsozialisten festhalten, um den Angehörigen helfen zu können. Die Mitarbeiter*innen machten Kopien von allen Dokumenten, die sie fanden. Nach der Wende öffneten sich Archive auch in den GUS-Staaten, man reiste überall hin, um Dokumente zu fotokopieren. Deswegen führen wir neben sehr vielen Originalen auch viele Kopien unterschiedlicher Qualität aus verschiedenen Ländern. Unser Bestand umfasst heute insgesamt 30 Millionen Dokumente. Man muss jedoch auch wissen, dass es keine vollständige Sammlung ist. Die Nationalsozialisten zerstörten kurz vor Kriegsende Dokumente, auch wurden sehr viele Ermordungen und Verfolgungstaten nicht dokumentiert.

Online-Redaktion:
Wie viele Anfragen erreichen Sie jährlich?

Azoulay: Es erreichen uns rund 20.000 Anfragen pro Jahr, und die Mehrheit kommt immer noch von Angehörigen von direkten Opfern, also von den Kindern und Enkelkindern, die genau wissen möchten, was mit ihrem Familienmitglied passiert ist. Die Anfragen kommen aus über 70 Ländern weltweit, die meisten aus Deutschland, aus den USA, Israel und Frankreich und noch relativ wenige aus den ehemaligen GUS-Staaten. Jede dieser Anfragen trägt auch heute noch dazu bei, dass das Archiv weiter wächst, denn jede Anfrage bringt Informationen zu gesuchten Personen. Zu mehr als der Hälfte der Personen, die angefragt werden, haben wir Dokumentationen. Aber die Anfragen zu Personen, zu denen wir keine Unterlagen haben, werden uns in Zukunft helfen, den Namen des Opfers zu dokumentieren.

Online-Redaktion:
Welche Ziele stehen heute außerdem im Fokus?

Azoulay:
Wir wollen, dass das Archiv auch für die junge Generation bedeutsam bleibt. Zurzeit sind die Themen Zugang und Online-Archiv sehr wichtig für uns. Das Archiv soll breit und offen zugänglich sein, deshalb haben wir auch schon fast alle Dokumente online gestellt, und wir arbeiten weiter daran. Damit die Dokumente verständlich werden, haben wir außerdem eine Reihe von Angeboten entwickelt - niederschwellige und komplexe, die auch Forscher*innen unterstützen -, damit jeder, der sich dafür interessiert und unser Online-Archiv betritt, soweit wie möglich autark und autonom damit arbeiten kann. Aber wir haben auch Angebote, die die Aufmerksamkeit auf das Online-Archiv lenken sollen. Mit der Wanderausstellung #StolenMemory beispielsweise fahren wir in viele kleine und mittelgroße Städte und machen die Erinnerung und das Andenken an die Opfer der Nazis greifbar. Die mobile Ausstellung zeigt in einem Container Plakate mit persönlichen Gegenständen ehemaliger KZ-Häftlinge und erzählt deren Geschichte.

Online-Redaktion:
Welche Angebote haben Sie noch für Forschung und Bildung, um das Wissen über die Nazi-Verbrechen in die heutige Gesellschaft zu bringen?

Azoulay: Uns geht es bei den Kooperationen mit Forschungseinrichtungen darum, Forscher*innen in ihren Aufgaben zu unterstützen, indem wir die Dokumente zugänglich machen und auch neue Forschungswege gehen, die mit der digitalen Bearbeitung von größeren Datenmengen einhergehen. Wir haben ein sehr schönes Projekt mit der Universität Osnabrück gerade abgeschlossen, das heißt „Transnational Remembrance of Nazi Forced Labor and Migration.” Das ist ein Webportal über NS-Zwangsarbeit und Migration und zeigt die Lebenswege ausgewählter „Displaced Persons” (DPs) auf einer Weltkarte. Mit einem Klick kommt man zu den Daten ihrer Verfolgung und Migration. Schüler*innen und Student*innen können nicht nur erkunden, sondern auch mitmachen und daraus eigene Projekte entwickeln. Mit dem Projekt documentED unterstützen wir Lehrer*innen mit Materialien für Gedenkstättenfahrten, in denen das Schicksal individueller KZ-Häftlinge im Mittelpunkt steht. Unsere Angebote ersetzen nicht den Besuch einer Gedenkstätte, wir sehen sie vielmehr als komplementär zu dem, was die Gedenkstätten anbieten.

Online-Redaktion:
Wann haben Sie begonnen, die Daten zu digitalisieren?

Azoulay: Die Daten sind vom Internationalen Suchdienst schon sehr früh digitalisiert worden, um die Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. Nach dem Fall der Mauer gab es eine größere Anzahl von Anfragen und Stau in der Bearbeitung, der zu langen Wartezeiten führte. So kamen wir auf die Idee, die Dokumente zu digitalisieren, damit es schneller geht. Über 80 Prozent unserer Bestände sind bereits digitalisiert, davon profitieren wir heute. Unser Problem ist nur, dass sehr viele Dokumente im Grunde genommen nur als Foto archiviert, aber nicht indiziert, nicht verschlagwortet sind. So kamen wir auf die Idee der Initiative #everynamecounts. Wir dachten, es ist an der Zeit, dass diese Namen, die im Archiv sind, in die Datenbank eingetragen werden.

Online-Redaktion: Worum geht es bei dem Projekt #everynamecounts - „Jeder Name zählt“, und wie kamen Sie dazu, Schüler*innen einzubeziehen?

Azoulay: Wir arbeiten an dem weltweit umfassendsten Online-Archiv über die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Menschen. Dazu müssen alle Namen und Daten von den bereits gescannten historischen Dokumenten digital erfasst werden. Das ist eine gigantische Aufgabe, denn in unserem Archiv befinden sich rund 30 Millionen Dokumente sowie Hinweise auf die Schicksale von circa 17,5 Millionen Menschen. Viele Millionen Namen lassen sich schon online recherchieren. Doch längst noch nicht alle. Zugleich haben wir das Gefühl, dass uns die Zeit davonrennt, weil die letzten Zeitzeugen sterben und die Überlebenden Sorge haben, dass ihre Angehörigen und dieser Teil der Geschichte vergessen werden. Deshalb haben wir die Crowdsourcing-Initiative #everynamecounts gestartet. Wir wollten Freiwillige einbeziehen und zugleich Wege finden, jungen Leuten eine andere Form des Erinnerns anzubieten. Das Erinnern ist stark ritualisiert, es gibt wenig Spielraum für Jugendliche, daran aktiv teilzunehmen. Bei #everynamecounts haben sie die Gelegenheit, selbst etwas zu machen. Und sie können sich mit den digitalen Kompetenzen, die sie haben, einbringen. Indem sie das Schicksal einer Person erfassen, fördern wir außerdem ihre Empathiefähigkeit. Und es funktioniert. Die meisten Schüler*innen sind neugierig und möchten das wirklich machen. Sie können sich dem Thema viel besser annähern, wenn sie sich mit jemandem persönlich beschäftigen, es ist eine sehr intime Art der Auseinandersetzung. Und sie wissen, wenn sie einen Namen eingegeben haben, ist das ihr Beitrag zur Verewigung des Opfers und das gibt ihnen ein gutes Gefühl.

Online-Redaktion:
Welche Voraussetzungen müssen sie mitbringen?

Azoulay: Man braucht gar keine Voraussetzungen, die Idee ist, dass jeder, der mitmachen möchte, auch wenn er nicht viel Zeit hat, mitmachen kann. Wir haben digitale Tools entwickelt, um die Kürzel auf den Verwaltungsakten zu verstehen und sie richtig einzugeben. Diese kann man auf unserer Webseite abrufen. Auch bieten wir Lehrkräften zusätzliches Material an, damit sie die Indizierung flankieren können. Uns geht es darum, dass wir so viele Schulen wie möglich erreichen und den Lehrer*innen so viel Arbeit wie möglich abnehmen. Wir begleiten sie auch dabei, wenn sie sich zum Beispiel dem Schicksal einer von ihnen gewählten Person aus ihrem Umkreis nähern wollen.

Online-Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie seit dem Start gemacht, wie ist die Resonanz?

Azoulay: Die Erfahrungen sind überwältigend. Es wurden im ersten Jahr 2,5 Millionen Datensätze indiziert. Das hätten wir nie erwartet. Corona hat dabei sicher eine sehr wichtige Rolle gespielt. Wir hatten das Pilotprojekt im Januar 2020 in Hessen gestartet und ungefähr 20 Schulen erreicht. Anfang dieses Jahres haben wir beschlossen, das Crowdsourcing auf breitere Beine zu stellen und der Gesamtöffentlichkeit anzubieten. Das Echo bei den Medien war sehr groß, und bald wird es noch eine Schulkampagne geben, die bundesweit umgesetzt wird. Sie ist noch nicht gestartet, aber es haben sich schon jetzt 60 Schulen gemeldet, die mitmachen wollen.

Online-Redaktion: Warum ist ein Archiv über die Opfer des Nationalsozialismus heute noch wichtig?

Azoulay: Zum einen ist es wichtig, die Dokumentation physisch aufrechtzuerhalten, weil es immer mehr revisionistische Stimmen gibt, die behaupten, dass es die Verbrechen so nicht gegeben habe. Es geht um historische Wahrheit: Die Verbrechen haben stattgefunden, und man kann sie nicht weg oder ungenau reden. Zum anderen interessiert uns das Thema Vermittlung, und diese ist heute umso wichtiger, weil in unserer Gesellschaft nationalistische und intolerante Züge zunehmen. Antisemitische Hassverbrechen hat es vor 20 Jahren in Europa kaum gegeben, und jetzt nehmen sie wieder deutlich zu. Deshalb ist es relevanter denn je, die richtigen Vermittlungswege zu finden. Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen, denn die Zeit vergeht und die junge Generation hat nur noch sehr wenige Bezugspunkte zu dem Thema. Das Gute und Wichtige an dem Archiv ist deshalb, dass über die Biographien, die Einzelschicksale der individuelle Zugang zur großen Geschichte möglich ist.



Floriane Azoulay ist seit 2016 Direktorin der Arolsen Archives. Die Menschenrechtsexpertin aus Frankreich wurde vom Internationalen Ausschuss (IA) der Arolsen Archives zur Leiterin der Institution ernannt. In den vergangenen fünf Jahren ihrer Amtszeit hat sie die Institution neu aufgestellt, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und Digitalisierung in allen Bereichen umgesetzt. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in dem Brückenschlag zwischen der historischen Bedeutung und dem Wert der Sammlung für die heutige Gesellschaft.

Zuvor leitete Floriane Azoulay die Abteilung für Toleranz und Antidiskriminierung des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Organizations for Cooperation and Security in Europe, OSZE) - eine zwischenstaatliche Organisation mit 57 Mitgliedstaaten.

Floriane Azoulay hat einen Master in Sozialwissenschaften der EHESS in Paris, einen Master in Management der ESCP Europe und einen Bachelor-Abschluss in Philosophie der Universität „La Sorbonne“ in Paris.






Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 08.03.2021
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