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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 28.07.2011:

Eine zweite Chance

Das Projekt "Keine(r) ohne Abschluss" verbessert Abschlusschancen von Jugendlichen
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Bildrechte: Keine(r) ohne Abschluss

Schulabbrecher und Schulabgänger ohne Abschluss besitzen meist geringe Chancen auf einen Berufseinstieg. Um dies zu ändern, führte das rheinland-pfälzische Bildungsministerium 2009 das Projekt "Keine(r) ohne Abschluss" ein. In einem zusätzlichen 10. Schuljahr und speziellen Klassen mit vielen Praxiselementen versuchen die Jugendlichen, den Abschluss zu erwerben. Die ersten Erfahrungen sind ermutigend.


„Es gibt viele bildungspolitisch wichtige Themen, aber wenn man mich fragte, welches mir als das dringlichste erscheint, würde ich das Senken der Zahl von Schülerinnen und Schülern, die ohne Abschluss unsere allgemein bildenden Schulen verlassen, nennen“, so die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen. Es ist unbestritten, dass Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher in der Regel kaum eine Chance auf einen Berufseinstieg haben. In Rheinland-Pfalz belief sich die Anzahl junger Menschen, die die Schule ohne berufsqualifizierenden Abschluss beenden, nach Angaben des Statistischen Landesamts im Jahre 2010 auf 5,8 Prozent. Dies entspricht etwa 2.600 Jugendlichen. Zwar liegt diese Zahl unter dem Bundesdurchschnitt und sinkt, aber „2.600 Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss sind immer noch 2.600 zu viel“, meint Johannes Jung, stellvertretender Abteilungsleiter im Bildungsministerium.

Aus diesen Gründen entschied sich das rheinland-pfälzische Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur (MBWWK) im Jahr 2008, als trotz aller Bemühungen der Anteil von Schülerinnen und Schülern ohne Abschluss noch bei über sieben Prozent lag, das Schulprojekt "Keine(r) ohne Abschluss" (KoA) einzuführen. Die Idee: Statt Jugendliche, bei denen das Erreichen der Berufsreife fraglich erscheint, ohne Abschluss in ein Berufsvorbereitungsjahr an eine Berufsschule zu schicken, möchte man ihnen mit Hilfe eines "zusätzlichen" 10. Schuljahrs innerhalb des allgemein bildenden Schulsystems zu einem Abschluss verhelfen.

Berufsorientierung und Praxisbezug im Vordergrund
In diesem besonderen 10. Schuljahr werden maximal 20 Schülerinnen und Schüler, die sich – auch mit dem Einverständnis ihrer Eltern – dazu bereit erklären, in einer eigens dafür eingerichteten Klasse zusammengefasst. In dieser KoA-Klasse nehmen Berufsorientierung und Praxisbezug einen hohen Stellenwert ein. Die Lehrkräfte verbinden in ihrem Unterricht allgemeinbildende mit berufsorientierenden Inhalten. Gemeinsam mit außerschulischen Kooperationspartnern wie Arbeitsagenturen, Kammern und Unternehmen erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler Qualifikationen, die sie auf die Berufswelt vorbereiten. Dabei stehen neben den fachlichen auch die außerfachlichen Kompetenzen wie Pünktlichkeit, Sorgfalt und Zuverlässigkeit im Fokus der Förderung. "Keine(r) ohne Abschluss" bezieht die Eltern verstärkt ein, zum Beispiel in Form von erweiterten Elternabenden mit Lehrkräften oder den Beraterinnen und Beratern der Arbeitsagenturen. So können die Eltern ihre Kinder auf dem Weg zu einem erfolgreichen Schulabschluss bestmöglich unterstützen.

Im Schuljahr 2009/2010 startete "Keine(r) ohne Abschluss" als Pilotprojekt an zwei Realschulen plus. Die Schulen in Ramstein-Miesenbach im Landkreis Kaiserslautern und in Ransbach-Baumbach im Westerwaldkreis hatten sich auf die Ausschreibung des Landes beworben und waren vom Ministerium ausgewählt worden, da sie bereits eine breite Palette von berufsvorbereitenden Initiativen und Aktionen vorweisen konnten.

Die Erich-Kästner-Realschule plus in Ransbach-Baumbach verfügt zum Beispiel über gute Erfahrungen im Bereich der Berufsorientierung. Dazu gehören Berufswahlunterricht, eine Lernpartnerschaft mit einem Kaufhaus in Koblenz, das Anlegen von Berufswahlportfolios ab Klasse 7, Betriebspraktika, Tagespraktika, Kooperationen mit Firmen und Bewerbungstrainings mit außerschulischen Experten. Darüber hinaus werden Berufswahlpaten, Fachleute aus der Arbeitswelt, welche die Schülerinnen und Schüler bei der Suche nach einem Arbeitsplatz begleiten, eingesetzt. Kooperationspartner der Erich-Kästner-Realschule plus sind die Arbeitsagentur Montabaur, die Handwerkskammer Koblenz, die Interessengemeinschaft für Industrie, Dienstleistung, Einzel- und Großhandel und Handwerk sowie die Kirchen.

Herausforderung für die Schulen
Doch die Einführung der reinen Berufsklasse war auch für eine Schule mit solch reicher Erfahrung an berufsvorbereitenden Elementen eine neue Herausforderung. „Von den Schülerinnen und Schülern, die sich für die KoA-Klasse beworben haben, war zwar keiner verhaltensauffällig“, erklärt Schulleiter Gerhard Leisenheimer, „aber klar war auch, dass die Schülerinnen und Schüler ohne diese zusätzliche Förderung einer sehr ungewissen Zukunft entgegengegangen wären.“

Es ist politisch gewollt, dass es sich bei beiden Pilotschulen und den mittlerweile insgesamt fünf teilnehmenden Schulen um Realschulen plus handelt. Bei der Einführung dieser Schulform hatte das Bildungsministerium betont, dass insbesondere hier das Augenmerk auf eine „noch bessere Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung“ gelegt werden solle.

Die Realschulen plus bieten bewährte Inhalte aus den Hauptschulen wie beispielsweise den Praxistag und das Fach Arbeitslehre und kombinieren dies mit dem Fach „Praxis in der Schule“ aus den Dualen Oberschulen sowie den in den Regionalen Schulen und Realschulen verankerten Wahlpflichtbereichen zu drei verpflichtenden Wahlbereichen. Mit den Bereichen „Technik und Naturwissenschaften“ sowie „Hauswirtschaft und Sozialwesen“ und „Wirtschaft und Verwaltung“ wird dabei ein breites Spektrum abgedeckt.

Kein Zufall: Realschulen plus und Ganztagsschulen
Ausgehend von den konzeptionellen Grundlagen des "Keine(r) ohne Abschluss"-Schuljahrs entwickelten die Schulen eigene spezifische Konzepte, die die schulischen Besonderheiten und Rahmenbedingungen vor Ort aufgreifen und berücksichtigen. Zwei Klassenlehrer, Fachlehrer und außerschulische Kräfte aus der Pädagogik, der Wirtschaft, der Kommune oder der Kirche arbeiten mit den Jugendlichen gemeinsam im Team am Erreichen ihres Ziels. Durch individuelle Förderung, praxisbezogene, fächerübergreifende Lernaufgaben, Elterneinbindung und Förderung der Teamkultur werden die Anstrengungen der Jugendlichen unterstützt.

Dass es sich dabei um Standorte mit Ganztagsschulen handelt, ist für Bildungsministerin Doris Ahnen ebenfalls kein Zufall: „Hier wusste man, dass es auch anderer Berufsgruppen bedarf, um die Gesamtpersönlichkeit eines Kindes zu bilden. Im Rahmen der Ganztagsschule soll die an den Stärken der Schülerinnen und Schüler orientierte, individuelle Förderung ansetzen. Die verpflichtende Ganztagsschulstruktur bietet zusätzliche Chancen, soziale Kompetenzen, die im Arbeitsleben erwartet werden, zu betonen und fächerspezifische Schwächen aufzuarbeiten."

Ursprünglich war bei "Keine(r) ohne Abschluss" nur ein Praxistag in der Woche vorgesehen, an welchem die Schülerinnen und Schüler in den Betrieben mitarbeiten sollten. Die Realschule plus in Ransbach-Baumbach weitete dies dann allerdings auf drei Tage aus, denn „ansonsten hätte sich das für die Schülerinnen und Schüler nicht viel anders als früher angefühlt, und die Betriebe freuen sich auch, wenn die Jugendlichen nicht nur einmal in der Woche anwesend sind", erläutert Gerhard Leisenheimer.

"Kein Korsett übergestülpt bekommen"
In einem Interview vor Projektbeginn betonte Doris Ahnen: „Es wird der Nachweis gebracht werden müssen, dass es uns mit ‚Keiner ohne Abschluss’ besser gelingt, Jugendliche zur Ausbildungsreife zu bringen – sonst würde sich der Weg nicht lohnen.“ Schnell zeigten sich Erfolge: Von den 35 Schülerinnen und Schülern des Pilotjahrgangs 2009/2010 in Ransbach-Baumbach und Ramstein-Miesenbach erreichten 30 den Hauptschulabschluss. Mittlerweile sind 21 in einer Berufsausbildung oder betrieblichen Beschäftigung.

Zum Schuljahr 2010/2011 gingen daher drei weitere Schulen an den Start: die Realschulen plus aus Bad Sobernheim, Bad Bergzabern und Lauterecken-Wolfstein. „Mich reizte besonders, dass wir kein Korsett übergestülpt bekommen, sondern selbst entscheiden können, wie wir vorgehen“, erklärte Ludwin Michels, Schulleiter der Realschule plus im Alfred-Grosser-Schulzentrum in Bad Bergzabern.

Die Umsetzung von "Keine(r) ohne Abschluss" wird von einem Team des Fachbereichs IV – Soziologie der Universität Trier unter Leitung von Prof. em. Dr. Roland Eckert im Zeitraum von Mai 2009 bis Dezember 2012 wissenschaftlich begleitet. Die Ergebnisse aus der Praxis werden unter anderem in einem Kompendium aufbereitet und den nachfolgenden Schulen zur Verfügung gestellt. Die Zusammenarbeit zwischen dem Bildungsministerium und der Universität Trier ist mittels eines Kooperationsvertrags geregelt. Die der Universität Trier zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel werden dabei zu jeweils 50 Prozent durch das Land Rheinland-Pfalz und den Europäischen Sozialfonds getragen.

Alle Beteiligten befürworteten Fortsetzung des Projekts
Ein besonderer Schwerpunkt der wissenschaftlichen Begleitung ist die empirische Forschung zu den Biografien der Schülerinnen und Schüler in den Projektklassen, um weitergehende Schlussfolgerungen im Hinblick auf zukünftige Unterstützungsmaßnahmen ziehen zu können. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interviewten zu diesem Zweck Schülerinnen und Schüler. „Man erhofft sich natürlich auch Erkenntnisse darüber, wodurch die Schwierigkeiten der Jugendlichen in der Schule bedingt sind", erläutert Rektor Leisenheimer.

Die Soziologin Natalie Smilek und die Diplompädagogin Annelie Cremer von der Universität Trier evaluierten die Maßnahmen darüber hinaus mit Fragebogen sowie Gruppen- und Einzelinterviews mit den Jugendlichen, den Eltern, den Lehrerteams und den Betrieben. Ihre Zahlen belegten die positiven Auswirkungen des Projektes im ersten Pilotjahr: Sämtliche Gruppen sahen KoA und seine Auswirkungen in deutlichen Mehrheiten positiv. Eine Fortsetzung befürworteten alle befragten Gruppen.

Für eine Schülerin wie die 18 Jahre alte Larissa, die im Schuljahr 2009/2010 die KoA-Klasse in der Realschule plus in Ransbach-Baumbach besuchte, war dieses Projekt ein kleiner Rettungsanker. Sie erreichte den Hauptschulabschluss und absolviert derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Kindertagesstätte, in welcher sie ihr Praktikum abgeleistet hatte. Ihr Berufswunsch Erzieherin ist in greifbare Nähe gerückt. Ohne "Keine(r) ohne Abschluss" wäre dies zweifelhaft gewesen: „Ich hätte noch mal zwei Jahre Berufsschule dranhängen müssen – und ob ich da einen Abschluss geschafft hätte, weiß ich nicht. Und das Praktikum in der Kindertagesstätte in Selters mit dem anschließenden Freiwilligen Sozialen Jahr wäre wohl auch nicht zustande gekommen. Für mich ist das optimal gelaufen.“

Autor(in): Ralf Augsburg
Kontakt zur Redaktion
Datum: 28.07.2011
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