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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.08.2003:

"Meine Sorgen lasse ich vor der Tür"

Donata Elschenbroich im Gespräch mit Nancy Hoenisch
Das Bild zum Artikel
Quelle: "Bildung mit Demokratie und Zärtlichkeit"

Elschenbroich: Gibt es eine andere Altersgruppe, mit der du auch gern zusammen gearbeitet hättest?

Hoenisch: Ältere Menschen sind mir sehr nah. Aber ich finde, diese jungen Kinder brauchen mich. Ich habe denen etwas zu geben. Es war immer ein Ziel in meiner Seele, etwas zu tun, was unsere Welt ein bisschen besser hinterlässt. Wenn ich nicht mehr so viel Geduld habe, später, arbeite ich vielleicht mit älteren Menschen zusammen.

Elschenbroich: Hast du jetzt, da du älter wirst, eher mehr oder eher weniger Geduld?

Hoenisch: Beides. Ich spüre mehr Geduld als in jüngeren Jahren. Aber die physische Kraft nimmt ab, das merke ich am Abend. Physisch nimmt es mich mit.

Elschenbroich: Was findest du besonders attraktiv an dieser Altersgruppe?

Hoenisch: Die Naivität. Die geht oft schon früh verloren. Vierjährige sind noch in einer Fantasiewelt. Das Fernsehen bringt Kindern eine Kultur bei, die für sie zu alt ist. Da kommen manchmal Fünfjährige mit BH und Ohrringen, sie laufen herum wie Erwachsene und reden Unsinn, als wären sie vergewaltigt worden. Das hat in den dreißig Jahren meines Berufslebens sichtbar zugenommen. Vielleicht habe ich deshalb von den Fünfjährigen zu den Vierjährigen gewechselt, es ist so erfreulich mit ihnen. Sie sind wie echter Ton, wie frisch aus der Erde geholt. Es macht Spaß, mit diesem Ton zu töpfern. Aber ich kann auf die Dauer nicht gegen das Fernsehen ankommen.

Elschenbroich: Woran erinnern sie sich, wenn du sie später wiedersiehst?

Hoenisch: Sie erinnern sich zum Beispiel daran, wie ich einmal Lungen und andere Innereien  mitgebracht habe...

Elschenbroich: Fällt dir bei den ehemaligen Kindern etwas auf, das nicht überleben, sich später nicht entfalten konnte?

Hoenisch: Junge Kinder brauchen vorbehaltlose Anerkennung und Liebe. Wenn sie das einmal gespürt haben, ändert das etwas in ihrem Leben. Das ist wie ein Samen: Jemand hat mich geliebt, ich bin etwas wert. Diesen Samen lege ich gern. Ich spüre das, wenn ich sie zu Bett bringe beim Mittagsschlaf. Gerade die "bullys", die starken Jungens, die brauchen es am meisten. Als Erstes müssen sie sich anerkannt fühlen. Vorher können sie überhaupt nichts lernen und sind immer nur damit beschäftigt, Liebe zu bekommen. Wenn aber die Basis vorhanden ist, dann fangen sie an zu lernen. In den ersten sechs Wochen wird ihnen klar: ich akzeptiere euch so, wie ihr seid. Danach führe ich sie ins Lernen. Es ist für mich leichter als für manche Eltern. Nicht alle Kinder sind Wunschkinder. 

Elschenbroich: Du hast dich für diesen Beruf entschieden und studiert. Gibt es auch Eltern, von denen du lernen kannst?

Hoenisch: Ich versuche, sie nicht in die Defensive geraten zu lassen. Wir haben einen "Elterngarten", da können sie zeigen, was sie können, und ich frage die Eltern, wie sie mir helfen können.

Elschenbroich: Wie regeneriert sich die Geduld in deinem Beruf? Was bekommst du zurück?

Hoenisch: Die Gesichter! Wie sie sich morgens auf  unser Begrüßungsritual freuen und auf die Schule! Meine Probleme lasse ich vor der Tür. Ich gehe in meine Gruppe wie in eine andere Welt. Bei persönlichen Sorgen, mit meinen eigenen Kindern gab es fünf schwierige Jahre, habe ich mich immer wieder auch in meine Arbeit vertieft und mich intensiv fortgebildet. Das war für mich ein Ausweg. Ich trage auch Probleme von hier abends mit nach Hause. Aber ich vergesse sie dann beim Kochen - etwas mit den Händen tun, nicht denken! Ich habe auch kein Fernsehen.

Elschenbroich: Verstehst du da die Kinder noch? Müsstest du nicht ihrer Kinderkultur nah sein?

Hoenisch: Ich sage dem Kind: Ich habe kein Fernsehen. Mich interessiert nicht, was da kommt. Aber was du gesehen hast, das interessiert mich brennend. Erzähl mir davon!

Elschenbroich: Was ist es, was das Fernsehen nicht geben kann und was du ihnen stattdessen gibst?

Hoenisch: Sie müssen Gefühl für einander lernen, Wörter finden für das, was sie gerade spüren. Wie fühlst du dich? Wir machen Listen von solchen Wörtern, regelrechte Vokabellisten Die Gefühle von anderen anzuerkennen, das kann kein Fernsehen bieten.

Elschenbroich: Vielen deiner Kinder geht es nicht so gut wie anderen Kindern. Wie gehst du mit dieser Ungerechtigkeit um?
Hoenisch: Das ist mit den Kindern doch nicht anders als in der ganzen Welt! Meine Kinder haben in ihrer Entwicklung etwas, wodurch sie unter 25 Prozent des Altersniveaus liegen. Wir helfen ihnen, dass sie eine faire Chance bekommen, mit den anderen mitzukommen.

Elschenbroich: Erzieherinnen in Deutschland könnten sagen: Die hat's leicht mit nur 12 oder 15 Kindern. Wir haben 20, da geht nichts mehr...

Hoenisch: Meine Risiko-Kinder brauchen natürlich kleinere Gruppen. Ich kann mit 15, allerhöchstens 17 Kindern arbeiten. Kinder haben meist in Dreiergruppen Konflikte. Drei mal drei, da wachsen die Probleme exponentiell - da wird man nur noch Verhaltensmanager, nicht Lehrerin. Mich fasziniert zum Beispiel auch mal eine Lunge, ein Hirn mit ihnen zu sezieren, damit sie lernen, Ekel zu überwinden. Das geht nicht in einer Großgruppe.

Elschenbroich: Ein ungewöhnliches Lernziel für den Kindergarten: "Ekel überwinden."

Hoenisch: Manchmal besuchen mich Eltern und erzählen: Mein Kind studiert Naturwissenschaft, weil das Interesse bei dir entstanden ist. Ich baue so etwas vor allem im Sommercamp auf. Ekel vor Spinnen zu überwinden, zum Beispiel. Und dann genau hinschauen wollen. Wie die Kinder bin ich immer wieder ein Anfänger: Ich muss Spanisch lernen, weil wir so viele spanische Kinder haben. Ich lerne aber auch anderes von meinen Kindern. Ich lerne Freude zu haben, meine Fantasie zu entdecken. Ich habe keine Angst, mich lächerlich zu machen, auch das lerne ich von ihnen.

Elschenbroich: Wie war's in deiner eigenen Kindheit?

Hoenisch: Wir waren fünf,  ich war das zweite Kind. Ich bin nicht in den Kindergarten gegangen. Nur einen Tag! Ich bin blamiert worden wegen einer Kleinigkeit und wollte da nie wieder hin.  Mein Interesse an Mathematik in der Elementarpädagogik ist entstanden, weil ich selbst damit solche Probleme in der Schule hatte. Ich habe es gehasst. Mein Zeichnen wurde dagegen sehr unterstützt, mein Vater hat das bei mir gelobt, das hat eine Richtung gesetzt, er war für mich doch der intelligenteste Mensch der Welt!

Elschenbroich: Wie kamst du nach Europa, was hat dich da interessiert?

Hoenisch: Mein Vater. Er war selbst nach dem Studium nach Europa gegangen und hat davon immer geschwärmt. 1962 bin ich in Berlin gelandet. Berlin war damals für mich das Zentrum der Welt, politisch fand dort alles statt. Irgendwann war dann da die Kennedy-Schule gerade eröffnet worden - zweisprachig, wunderbar! Die Fotografin Elisabeth Niggemeyer hat über 3000 Fotos von meiner Arbeit gemacht. Dass unser Buch dann so ein Erfolg wurde, war eine Überraschung. Ich musste überall Vorträge halten und herumreisen. Nicht so leicht für mich, ich bin schüchtern. Ich habe immer behauptet und meine auch jetzt, dass jeder so etwas tut oder tun kann wie ich. Manche sagen, Erzieherinnen brauchen nicht so viel Ausbildung, da werden sie nur akademisch. Hauptsache, sie lieben die Kinder.

Elschenbroich: Aber du hast studiert, studierst immer noch weiter. Wie geht das zusammen?

Hoenisch: Während meines Berufslebens habe ich mich vor allem in Richtung Mathematik und Naturwissenschaften weitergebildet. Und in den letzten Jahren bauen mein Mann und ich zusammen an einem Blockhaus in North Virginia. Das schärft auch meinen Blick fürs Bauen mit den Kindern. Vielleicht studiere ich später noch Architektur...

Aus: Nancy Hoenisch, Elisabeth Niggemeyer: Bildung mit Demokratie und Zärtlichkeit. Lernvergnügen Vierjähriger.
Beltz Verlag, Weinheim, Berlin und Basel 2003. 138 Seiten.
ISBN 3-407-56220-9.

Wir danken Dr. Donata Elschenbroich und dem Beltz- Verlag für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck des Textes.

 

Einige Hintergründe zur Vorschulerziehung in den USA (.pdf)

Autor(in):
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.08.2003
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