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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 17.03.2003:

"Es kann nicht am Pass liegen"

Lehrer müssen in der Sprachförderung besser ausgebildet werden
Das Bild zum Artikel
Prof. Hans Reich

Bildung PLUS: Stichwort zweisprachiger Unterricht. Wo liegt der Vorteil, wenn italienische oder türkische Kinder neben Deutsch gleichzeitig ihre Muttersprache lernen. Gibt es Wechselwirkungen?

Reich: Soweit die Sprachpsychologie etwas dazu sagen kann, ist das ein klares Ja. Die menschliche Sprachfähigkeit entspricht nicht irgendwelchen Gefäßen, die man nach Belieben auffüllen kann, sondern eher der Muskelkraft: Je mehr und vielfältiger man bestimmte Dinge übt, desto gesünder für das Ganze. Die Konzentration auf Deutsch - bei geringen Kenntnissen in dieser Sprache - muss zwangsläufig zu einer Retardierung der kindlichen Entwicklung führen, weil das Kind nicht in der Höhe seines intellektuellen Potenzials angesprochen wird.

Bildung PLUS: Ist zweisprachiger Unterricht überhaupt realistisch? Schließlich kann eine Grundschule nicht für jedes Kind muttersprachlichen Unterricht anbieten?

Reich: Da sind natürlich Grenzen vorhanden. Das Allerwichtigste für mich wäre, dass man schon mal mehr zweisprachige Lehrer ausbildet und einstellt, und zwar nicht als Sprachlehrer, sondern als zweisprachige Mathe- oder Physiklehrer. Außerdem müssen für die interkulturelle Bildung in viel stärkerem Maße die neuen Medien genutzt werden, die ein großes Potenzial für den Unterricht bieten.

Bildung PLUS: Ein Blick auf die Schulabschlüsse von Migranten zeigt, dass Spanier und Griechen andere Einwanderer weit hinter sich gelassen haben. Warum? Gibt es kulturelle Unterschiede im Bezug auf Bildung und Integrationsleistung?

Reich: Es kann nicht am Pass liegen. Da spielen eine Menge komplizierter Dinge mit, die an den nationalen Unterschieden mitwirken: Selbstbewusstsein, die Verbindung zur Herkunftssprache, die Orientierung nach Deutschland, Aspirationen der Eltern, die soziale Lage oder auch die selektive Wirkung der Migration. Das Beispiel der Spanier nimmt eine Sonderstellung ein, weil Spanisch erstens wieder eine angesehene Sprache in der Welt ist, der spanische Staat in Deutschland für zweisprachige Angebote sorgt und auch die spanischen Eltern sehr europäisch orientiert sind und einen großen Wert auf die Schulerfolge ihrer Kinder legen.

Bildung PLUS: Welche Rolle spielen die Eltern der Migranten?

Reich: Ich lege den ausländischen Eltern immer wieder ans Herz, dass sie mit ihren Kindern sprechen sollen. Direkte, persönliche Zuwendung im Gespräch ist die Grundlage jeder Sprachförderung. Dagegen ist es zweitrangig, ob man in der einen oder anderen Sprache diese Zuwendung erfährt. Außerdem muss ein Bewusstsein für Kommunikation geschaffen werden. Die Eltern müssen den Kindern eine positive Grundeinstellung zur Zweisprachigkeit mitgeben.

Bildung PLUS: Die Berliner Sprachstandserhebung "Bärenstark" hat gezeigt, dass auch deutsche Kinder in ihrer Muttersprache Förderbedarf haben. Was muss für diese Kinder getan werden?

Reich: Dass es einen Bedarf bei deutschen Kindern gibt, steht außer Frage. Alle Lehrer sollten in der Aus- und Weiterbildung lernen, Sprache als Instrument ihres Unterrichts in einer förderlichen Weise einzusetzen. Ein sorgsamer Umgang mit der deutschen Sprache seitens der Lehrer wäre für mich die wichtigste Grundlage zur Sprachförderung aller Kinder. Dazu kommt dann noch der spezielle Sprachförderbedarf, der mit einem Plus an Stunden oder durch zusätzliche Lehrer abgedeckt werden muss. Das ist für deutsche Kinder nicht anders als für Kinder mit Migrationshintergrund.

Bildung PLUS: Auf der Suche nach dem richtigen Konzept karrt man deutsche und ausländische Kinder in die jeweils anderen Stadtviertel oder will Ausländerquoten und Deutsch-Tests einführen. Was halten Sie von diesen Maßnahmen?

Reich: Diese Dinge werden ja als Wunderrezepte verkauft und da ist Skepsis geboten, denn isoliert bringen sie überhaupt nichts. Ein positiver Nutzen setzt die Einbettung in ein pädagogisches Konzept voraus. Die Stadt Krefeld hat vor vielen Jahren ein bilinguales Unterrichtsmodell eingeführt. Das war mit bussing verbunden und hat funktioniert, weil die Lehrkräfte, die Schulen und die wissenschaftliche Begleitung dahinter standen. Bussing per se schafft überhaupt nichts als Ärger an den Schulen und bei den Eltern. Das gleiche gilt für Deutsch-Tests. Nur wenn sie ein Instrument in der Hand der Erzieherinnen und der Lehrkräfte sind, die selbst Sprachförderung betreiben, können sie nützliche Hinweise geben.

Bildung PLUS: Die Bundesintegrationsbeauftragte Marieluise Beck fordert flexible Schuleingangsphasen, um der individuellen Entwicklung der Kinder gerecht zu werden. Begrüßen Sie diesen Vorschlag?

Reich: Das ist weit vorausgedacht und setzt ein völlig anderes Bildungssystem voraus. Die Schüler gehen erst dann eine Stufe weiter, wenn sie intellektuell so weit sind. Die Realisierung dieser Idee setzt aber einiges voraus. Zum Beispiel die Verschränkung der Curricula der beiden Bereiche. Das ist eine Generationenaufgabe. Ich kann mir eine solche Verschränkung zwischen Elementar- und Primarbereich sehr gut vorstellen. Es wäre auf kurze Sicht aber sicher sinnvoller auf die Qualifizierung der pädagogischen Kräfte und die bessere Kooperationsfähigkeit der Institutionen zu setzen.

Bildung PLUS: Woran mangelt es denn in der Aus- und Weiterbildung?

Reich: Die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte haben einen hohen Stellenwert und die Inhalte der interkulturellen Förderung müssen dort erst noch eingebracht werden, denn sie sind leider meist noch nicht vertreten. Bei der Vielfältigkeit der Sprachsituationen müssen die Lehrkräfte unbedingt ein schärferes sprachdiagnostisches Bewusstsein entwickeln.

Bildung PLUS: Was können Kindertagesstätten, wenn sie keine bildungsfreie Zone mehr sind, den Kindern vermitteln?

Reich: Sie können Kommunikationsgelegenheiten schaffen. Allein die Zusammensetzung der Kindertagesstätten ist ja schon interkulturell. Es ist eine große Aufgabe der Erzieherinnen, die Kinder ins Gespräch miteinander zu bringen und die verschiedenen Lebenswelten erlebbar zu machen. An diesem Punkt müsste auch die Deutschförderung ansetzen, um so viel wie möglich in den Kommunikationssituationen unterzubringen. Diesem Vorhaben sind natürlich gewisse Grenzen gesetzt. In Kindertagesstätten, in denen über 70 Prozent Migranten sind, können diese Grenzen nur durch eine Aufstockung des Personals überwunden werden.

 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 17.03.2003
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