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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 27.07.2006:

"Die Beschäftigung mit der frühen Kindheit braucht eine universitäre Ausbildung"

Die Universität Bozen bietet deutschsprachige Erzieherinnenausbildung an
Das Bild zum Artikel
Prof. Dr. Gerwald Wallnöfer

Bildung PLUS: In den 90er Jahren wurde die Lehrerinnen- und Kindergärtnerinnenausbildung in Italien reformiert. Beide Studiengänge dauern jetzt vier Jahre, zwei Jahre studieren die angehenden Erzieherinnen und Lehrerinnen gemeinsam. Welche Vorteile sind damit verbunden?

Wallnöfer: Zunächst hat das inhaltliche Vorteile, d.h. Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen bekommen sowohl in grundlegenden Wissenschaften als auch in Praxisfragen eine gemeinsame Grundlage. Wir wissen, dass die Übergangsphase zwischen Frühpädagogik und Schule für die Kinder einen einschneidenden Übergang darstellt. Es ist wichtig, dass beide Berufsgruppen voneinander wissen, wie sie arbeiten und worauf sie ihr Schwergewicht legen, um den künstlichen Schnitt in der Lernbiographie der Kinder anders zu gestalten. Ein anderer Aspekt hat mit der Entwicklungsmöglichkeit der Berufsgruppen zu tun: Erzieherinnen müssen Zugang zu allen Stufen des tertiären Bildungsbereichs, also Hochschule und Universität, erhalten und damit einen direkten Zugang zu den Forschungsressourcen bekommen.

Bildung PLUS: Welche Schwerpunkte sollen beiden Berufsgruppen in der Grundausbildung vermittelt werden? Welche Rolle spielen dabei die Naturwissenschaften, die in Deutschland noch ein Randgebiet in Kindergarten und Grundschule bilden?

Wallnöfer: Uns ist es wichtig, in der Grundausbildung gemeinsame Grundlagen aus Lernfeldern zu vermitteln, die die menschliche Entwicklung und menschliche Lernformen umfassen, wie die Erziehungswissenschaften, die Psychologie, die Soziologie sowie alle Bereiche, die sich mit der Unterstützung und Begleitung von Lernprozessen der Kinder beschäftigen. In den Naturwissenschaften setzen wir uns mit der Vermittlung von Lerninhalten in verschiedensten Lernbereichen auseinander und achten darauf, dass in den Laboratorien auch neue Materialien entwickelt werden. Genauso wie Kinder sich ja nicht schlagartig oder sprunghaft entwickeln, geht es auch in der Entwicklung von didaktischen Modellen darum, Beständigkeit herzustellen, um sicherzustellen, dass die verschiedenen Angebote aufeinander abgestimmt sind.

Bildung PLUS: Die Universität Bozen gibt es seit acht Jahren. Was ist das Besondere ihres Konzeptes? Was war das Schwierige an dieser Pionierarbeit, denn es gab ja bis dahin weder eine akademische Erzieherinnenausbildung in Italien, Österreich und Deutschland?

Wallnöfer: Das ist richtig. Es war ein riskantes Unterfangen, weil wir von Anfang an nicht wussten, wie diese Ausbildung akzeptiert wird. Wir haben sehr viel Energie darauf verwandt, um Fragen zu klären wie beispielsweise: wie gehen wir mit den Tutorien im Praktikum um, wie wird das Studium von den Studierenden selbst angenommen, wird es sich inhaltlich und auch auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen? Wir wissen inzwischen mehr darüber und wir sehen jetzt, dass es sich sehr wohl durchsetzt. Und es gibt noch eine Besonderheit unseres Modells: Wir sind ja eine dreisprachige Universität und legen deswegen großen Wert auf interkulturelle Aspekte und auf internationalen Austausch. Unsere neuesten Praktikumsplätze haben wir zum Beispiel nach Singapur verlegt. Wir versuchen, unsere Studierenden in andere Länder zu vermitteln, damit sie sich austauschen können und die internationalen Trends mitbekommen.

Bildung PLUS: Welche Rolle spielt die praktische Ausbildung im Rahmen des Studiums?

Wallnöfer: Eine recht große. Wir bieten Praxis vorbereitende Veranstaltungen an wie Seminare, Übungen, Laboratorien und Lernwerkstätten. Die Praktika selbst verteilen sich über die vier Studienjahre. Wir haben dafür erfahrene Praktikerinnen an der Universität angestellt, die vom Kindergarten freigestellt wurden und mit uns die Praktika gestalten. In den Einrichtungen sorgen die Tutorinnen für die Praktikantinnen. Jede Tutorin nimmt maximal zwei Praktikantinnen pro Praktikumsphase auf. Alle Phasen werden gründlich vorbereitet, begleitet und nachbereitet. Für uns ist die Qualität der Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung in Kombination mit der Praktikumsstelle ganz entscheidend, damit man die Erfahrungen systematisch aufarbeiten kann.

Bildung PLUS: Welche Erfahrungen haben Sie in diesen acht Jahren mit dem Studiengang Bildungswissenschaften und mit der Praxis gemacht?

Wallnöfer: Es wäre verständlich gewesen, wenn es Widerstände in der Praxis gegeben hätte, dass Praktizierende, die schon 20, 30 Jahre arbeiten, befürchten, jetzt nicht mehr gut genug zu sein. Diese Problematik haben wir gesehen und ernst genommen: Wir haben Tutorinnen ausgebildet, laden regelmäßig Praktikerinnen ein, bieten Fortbildungen an. Wir öffnen die Universität und ihre Einrichtungen für die Praxis und haben immer großen Wert darauf gelegt, dass unsere Studierenden angemessen und entsprechend respektvoll mit der Praxis und älteren Praktikerinnen umgehen. Wir wissen durch unsere engen Kontakte mit dem Praxisfeld, dass die Ausbildung sehr gut angenommen wird. Befürchtungen, dass eine neue, junge, akademisch gebildete Berufsgruppe entsteht, die sich nicht gut in die tagtägliche Praxis integriert, sind inzwischen abgebaut. Ich glaube, das Bewusstsein, dass das Praxisfeld neue Impulse braucht, war ausreichend vorhanden, um diese Ausbildung entsprechend implementieren zu können. Dies bestätigt auch die große Nachfrage nach berufsbegleitenden Studienangeboten. Wir haben die berufsbegleitenden Studiengänge, die zum gleichen Abschluss führen wie die Vollstudiengänge, ursprünglich als einmaliges Angebot für Interessierte gedacht. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es zu einem Erfolgsmodell wurde. Viele motivierte Erzieherinnen wollen diese Mehrbelastung auf sich nehmen, weil sie in dem Lebensalter zwischen 30 und 40 noch einmal Neues angehen wollen. Das ist natürlich eine optimale Kombination, 10, 20 Jahre Praxiserfahrung und dann diese zusätzliche Ausbildung. Das bringt auch der Ausbildung sehr viel Positives, weil die universitären Lehrer mit diesem fundierten Praxiswissen konfrontiert werden und durch den Austausch sehr viel für die Weiterentwicklung dieses Berufsfeldes entsteht.

Bildung PLUS: Erstmals wurde mit dem Studiengang in Bozen eine deutschsprachige Kindergärtnerinnenausbildung an der Hochschule eingerichtet. Wird der Studiengang auch von Studierenden aus Deutschland besucht?

Wallnöfer: Wir haben Studierende aus Deutschland, die im Rahmen der europäischen Studentenaustauschprogramme zwei Semester bei uns verbringen. Wir haben wenige Studierende, die sich für ein komplettes Studium bei uns entscheiden. Wir sind interessiert am Studentenaustausch und möchten auch den Anteil ausländischer Studierender bei uns erhöhen, weil wir damit Erfahrungsaustausch und Internationalisierung fördern. Es gibt aber nach wie vor Schwierigkeiten in der Kooperation mit Deutschland, weil die Ausbildungssysteme so grundverschieden sind.

Bildung PLUS: Auch in Deutschland wird über eine Akademisierung der Erzieherinnenausbildung diskutiert, erste Ansätze sind vorhanden. Ist es Ihrer Ansicht nach notwenig, dass Kindergärtnerinnen grundsätzlich eine akademische Ausbildung erhalten?

Wallnöfer: Ich habe den Eindruck, dass Akademisierung in Deutschland anders als in anderen Ländern einen negativen Beigeschmack hat. Man zweifelt an ihrer Sinnhaftigkeit. Für mich ist es überhaupt keine Frage, dass die Beschäftigung mit der frühen Kindheit eine ganz fundierte Forschung, Begleitung und dementsprechend auch eine universitäre Ausbildung braucht. Es geht nicht ausschließlich um die Ausbildung von Erzieherinnen, sondern es geht um die Weiterentwicklung dieses Forschungsfeldes und dieses Berufsfeldes.

Bildung PLUS: Könnte das italienische Modell der "Doppelausbildung" auch für Deutschland Vorbildcharakter haben?

Wallnöfer: Die Übertragbarkeit von Bildungssystemen schafft immer Probleme. Ich bevorzuge den Ansatz, dass man ausgehend von der Analyse der bestehenden Struktur und der bestehenden Bedürfnisse Modelle entwickelt. Ich halte nicht so viel davon, ein Muster, eine Organisationsform unreflektiert über andere Realitäten zu stülpen. Nach dem was ich vom Bildungswesen in Deutschland gesehen habe, gehe ich aber davon aus, dass eine Reform in Deutschland dringend notwendig ist, und ich bin davon überzeugt, dass es eine Umkehrung im Denken braucht. Ich vergleiche das gern mit einer Pyramide, die derzeit einfach falsch herum steht. Es gibt in Deutschland eine hohe Konzentration an Ressourcen in den späteren Bildungsjahren und zu wenige Investitionen in die grundlegende Phase, die ersten Jahre, die für die Bildungsbiografie wirklich entscheidend sind.


Prof. Dr. Gerwald Wallnöfer ist seit 1993 Mitglied der Planungsgruppe zur Errichtung der Freien Universität Bozen. Seit 2001 ist er Dekan und Ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Fakultät Bildungswissenschaft der Freien Universität Bozen. Vorher war er Vertragsprofessor an der Universität Bologna.

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 27.07.2006
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