Leibhaftige Kommunikation II: spielerische Ahmung und die Folgen für den Unterricht - Unterrichtsmaterial online bei Elixier

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In diesem Beitrag geht es um leibhaftiges Kommunizieren als Ursprung und Voraussetzung unserer Kommunikation und damit auch des Unterrichtens. Im Folgenden wird eine psychologisch-phänomenologische Konkretion angeführt. Der Fachartikel enthält Hintergrundinformationen zum Thema, die im Schulalltag und im Unterricht von Bedeutung sind.

Anbieter:

Lehrer-Online | Eduversum GmbH, Taunusstr. 52, 65183 Wiesbaden

Autor:

Dr. Dirk Kutting

Lange Beschreibung:

In diesem Fachartikel geht es um theoretische Grundlagenkenntnisse rund um das Thema "Leibhaftige Kommunikation" und warum wir spielerisch ahmen. Dabei wird auch ein Unterrichtsbezug des Themas hergestellt. Dieser Artikel enthält Hintergrundinformationen und eignet sich als Ergänzung zu dem Arbeitsmaterial "Rituale im Schulalltag: Begrüßung und Unterrichtsstart" sowie der Unterrichtseinheit "Methoden-Training 'Angstfrei vortragen'" . In diesen Materialien, die ein Coaching sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrkräfte sind, geht es um die Umsetzung im Schulalltag mit praktischen Tipps. In der Reihe außerdem erschienen ist  "Leibhaftige Kommunikation I: Warum wir kooperieren" . Es gibt Begriffe, die in der Pädagogik vernachlässigt oder gründlich vergessen wurden. Bei manchen steht die Frage im Raum, ob sie je gekannt wurden. Aber das mag irrelevant sein, wenn das, was der Begriff meint, wenigstens praktisch vorhanden ist, sein Gehalt im leibhaften Erleben und Handeln seinen Platz hat und uns umgibt. "Ahmung" Für Friedrich Georg Jünger ist das Wort "Ahmung" ein pädagogischer Zentralbegriff: "Der Bereich der Erziehung umfasst die Abbildung der Ahmung. Ein Pädagoge, der das nicht weiß, weiß nichts" (Jünger: 66). Friedrich Georg Jünger entfaltet den Begriff im Zusammenhang einer Betrachtung des Spiels. Er teilt das Spiel in drei Gattungen: Glücksspiele, Geschicklichkeitsspiele und Spiele der Ahmung. Die ersten beiden Gattungen sind selbstverständlich. Uns fällt als Beispiel für die erste Gattung sofort das Brettspiel "Mensch ärgere dich nicht!" ein, bei welchem der Zufall regiert und für die zweite Gattung vielleicht das Seilspiel "Teddybär, Teddybär, dreh' dich um!", bei welchem schon seit Generationen Kinder motorische und rhythmische Fertigkeit schulen. Bei der dritten Gattung müssen wir überlegen. Jünger verweist als Beispiel auf die Selbstvergessenheit des Kindes beim Puppenspiel. Für den Verfasser dieses Artikels entstand diese Selbstvergessenheit beim Spielen mit Matchboxautos. Er konnte sich allein in die Welt eines erwachsenen Mannes hineinfantasieren und hatte seine absoluten Lieblingsautos, die immer die bevorzugten Marken des Vaters waren. In der Fantasie pflegte er Umgang mit wirklichen Autos und wirklichen Fahrern, die an wirklichen Rennen teilnahmen; aber was heißt hier Fantasie alles spielte sich in der Realität seiner kindlichen Welt ab (vgl. Jünger: 11ff.). Den Ernst des Lebens spielen Jünger macht darauf aufmerksam, dass es in der Ahmung immer nachahmend vorahmend zugeht. Das Kind taucht in das Körperschema einer anderen Person ein, ahmt diese nach und antizipiert vorahmend eine künftige Rolle oder Aufgabe. Im Spiel wird geahmt, was in ferner Zukunft "Ernst des Lebens" sein möchte. Es ist leicht vorstellbar, welche Folgen es hätte, wenn Kindern keine Rollenbilder, in die sie experimentell und selbstvergessen eintauchen können, mehr vorgestellt und vorgelebt werden, weil es keine Rollensicherheit bei den Erwachsenen mehr gibt. Wie kann man anderes als Stereotypen, Klischees und (billige) Konventionen der medialen Welt abbilden, wenn es keine nachahmenswerten Rollenvorbilder gibt? Jedoch gilt auch: Die Offenheit für das ahmende Spiel müsste gleichwertig die Überschreitung zugeschriebener Rollenbilder und -festlegungen wahrnehmen und so einen Spielraum für nicht-klischeehafte Freiheit eröffnen. Denn genauso wie es nach Tomasello (vgl. Tomasello 2010: 12) Kooperationsnormen gibt, auf gegenseitigem Respekt fußende Interaktionen mit Gleichgestellten, gibt es auch Konformitätsnormen, nach denen es darum geht, ein sozial wertvolles Mitglied der Gemeinschaft zu sein und nicht aus dieser ausgeschlossen zu werden. Das ahmende Spiel kann in einer offenen Gesellschaft den Konformitätsdruck auflösen, wenn es plural perspektivisch wahrgenommen wird. Auswirkung der Ahmung auf die Sprachförderung Aber es geht weiter: Ohne Ahmung ist eine Sprachförderung unvorstellbar. Die Aneignung von Sprache beruht auf Ahmung. Es ist spannend zu sehen, dass die phänomenologische Beobachtung von Kindern ganz ohne Experiment zu denselben Ergebnissen kommt wie die evolutionsbiologische Forschung Tomasellos. Geteilte Intentionalität zeigt sich im Spiel wie im Experiment. Sprachentwicklung in der Ahmung gelingt, wenn es unmittelbare Begegnung, reden und hören, austauschen, nachfragen, Mut machen, einen Gedanken ausdrücken, erzählen, lachen, singen, wenn es leibhafte Kommunikation gibt. Entwicklung bei ausbleibender Ahmung Was findet stattdessen statt? Alles Mögliche wird zwischen uns und das Kind gestellt. Viele Gegenstände schiebt unsere medial vermittelnde Welt zwischen uns und das Kind. Im Lockdown kam dann auch noch die Zoomkonferenz hinzu. Die dazwischen gestellten Dinge entfernen uns voneinander, sie schieben die Kinder weg voneinander und auch von uns. Hierbei kann eine wandelnde Ahmung, die in der Auseinandersetzung mit anderen das Eigene entwickelt, nur schwer in Gang kommen. Sie kann auch hier dazu verleiten, die dazwischen gestellten Dinge, Stereotypen, Klischees und (billige) Konventionen zu übernehmen. Es wird jedoch immer die freie spielerische Ahmung geben, die der Entwicklung der Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen gerade dadurch dient, dass sie andere Menschen, Bilder, Rollen imaginiert und integriert. Es ist zu hinterfragen, ob die Schule Raum gibt für ein freies Spiel der Ahmungen, einem experimentellen Probehandeln verschiedener Rollen, Muster und ja, auch Identitäten. Der Raum der Ahmung könnte Raum für die Persönlichkeitsentwicklung sein. Friedrich Georg Jünger schließt: "Wer etwas anerzieht, der erzieht nicht, sondern hindert die eigene Bewegung des Kindes. Das Kernstück und der Prüfstein der Erziehung sind, dass dem Kind ein reines, ungestörtes Abbilden der Ahmung ermöglicht wird" (Jünger 1959: 68f.). Ein Ziel dieses Beitrags könnte sein, dass der dreidimensionale analoge Raum der Begegnung zurückerobert wird. Leiberfahrung und Welterfahrung Die Gedanken zur Ahmung stehen theologisch-philosophisch betrachtet in einem romantisch-phänomenologischen Begründungszusammenhang. Hier wurde am deutlichsten darüber nachgedacht, wie wir uns selbst und anderen begegnen und wie wir uns selbst in der (Außen-)Welt finden und sich uns die (Außen-)Welt erschließt. Das Erkennen eines anderen Wesens und die Selbsterkenntnis bedingen sich gegenseitig. "Alles, was ist, steht nicht nur in einer dynamischen Beziehung zu anderen Dingen, sondern auch zu sich selbst" (Eillenberger 2018: 50). Machen Sie ein Experiment: Schließen Sie die Augen. Lassen Sie die Finger der rechten Hand über den Handrücken Ihrer linken Hand streichen. Machen Sie einen Moment Pause. Dann lassen Sie die Finger der linken Hand über den Handrücken der rechten Hand streichen. Machen Sie einen Moment Pause. Reiben Sie nun die Handflächen leicht gegeneinander. Überlegen Sie: Was berührt? Was wird berührt? Inwiefern ist die Fähigkeit, sich selbst berühren zu können, die Voraussetzung dafür, andere zu berühren und "verstehen" zu können? Inwiefern ist unsere Leiberfahrung immer eine Welterfahrung? Und inwiefern ist unsere Welterfahrung immer eine Leiberfahrung? Es kann gefolgert werden: Die Empfindung ist eine doppelte. Wir wechseln zwischen den Rollen: berührend/berührt, aktiv/passiv, Subjekt/Objekt, Außensicht/Innensicht. Meine "innere" Leiberfahrung beinhaltet die Erfahrung meiner "Außenseite". Das ist vergleichbar mit der Fremderfahrung anderer Menschen und Dinge. Leibhaftes Erleben bedeutet anderes (die Außenwelt) erfahren zu können, weil meine Selbsterfahrung in sich schon eine Außenperspektive beinhaltet: Ich erlebe und betrachte mein Erleben. "Mein leibliches Dasein in der Welt ist von jeher intersubjektiv und sozial. Gerade weil ich keine reine Innerlichkeit bin, sondern ein leibliches Sein, das außer sich lebt, das sich selbst transzendiert, kann ich anderen, die in derselben Weise existieren, begegnen und sie verstehen" (Zahavi 2007: 75). Das Spannende daran ist, dass wir in der Schule anderen Menschen nicht etwas sagen, also Worte als akustische Zeichen mitteilen, sondern lebendig-leibhaft in Kontakt kommen. Die Schülerinnen und Schüler können uns nur verstehen, weil sie so sind wie wir und sich wie wir zugleich wahrnehmend und erlebend im selben Raum befinden. Wir sind alle berührende berührte Hände miteinander. Wir können einander Hände reichen, auch ohne einander anzufassen. Unterrichtsbezug Die Schülerinnen und Schüler bekommen eine "Ahnung" von den Lehrkräften und den Gegenständen des Unterrichts. Ahnung ist die erste Form des Verstehens, ohne sie geht gar nichts. In der Ahnung leibhafter Präsenz bleiben wir uns gegenseitig nicht fremd. Die Ahnung ist die Überwindung des Äußeren, weil wir das Gegenüber nicht mehr nur als Außen sehen, sondern auch auf sein Inneres schließen können. Denken Sie an die Wahrnehmung Ihrer Hand und die Frage, was berührt und was berührt wird. Es geschieht gegenseitig, aufeinander bezogen. Vor aller Kommunikation und Reflexion tun wir einander präkommunikativ kund. Wir offenbaren einander und bleiben dennoch füreinander ein Geheimnis. "Wo das Innere vollständig mitteilbar oder verstehbar wäre, hörte es als Inneres im Äußeren auf zu sein; wo das Innere sich in keiner Weise kundtun könnte, verginge es in sich selber" (Hogrebe 1996: 72). Jeder Unterricht bedeutet eine Kopplung von Welt, sinnlichem Erleben und körperlicher Bewegung für Lehrende und Lernende. Unterricht macht immer vor aller Mitteilung Unsichtbares sichtbar. Das gemeinsame leibhafte Erleben beim Tanz um den Gegenstand des Interesses. Schön wäre es, wenn es so ist. Vielleicht reicht fürs Erste schon dieses Bild für einen anderen Blick auf das Geschehen des Unterrichts. Literaturverzeichnis Eillenberger, Wolfram (2018). Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie. 19191929. Stuttgart: Klett-Cotta. Hogrebe, Wolfram (1996). Ahnung und Erkenntnis. Broullion zu einer Theorie des natürlichen Erkennens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Jünger, Friedrich Georg (1959). Die Spiele. München: List. Tomasello, Michael (2010). Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp. Zahavi, Dan (2007). Phänomenologie für Einsteiger. Paderborn: Fink. Weiterführende Literatur Kutting, Dirk (2021). Bühne frei. Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele. Göttingen: V&R.

Bildungsebene:

Sekundarstufe I

Frei zugänglich:

nein

Kostenpflichtig:

ja

Lernressourcentyp:

Arbeitsmaterial

Lizenz:

Frei nutzbares Material

Sprache:

Deutsch

Themenbereich:

Schule fachunabhängige Bildungsthemen sonstige fachunabhängige Bildungsthemen
Berufliche Bildung Berufliche Bildung allgemein Berufswahl, Berufsvorbereitung, Berufsberatung

Geeignet für:

Lehrer