Leibhaftige Kommunikation I: warum wir kooperieren - Unterrichtsmaterial online bei Elixier

h t t p s : / / w w w . l e h r e r - o n l i n e . d e / u n t e r r i c h t / s e k u n d a r s t u f e n / f a e c h e r u e b e r g r e i f e n d / a r t i k e l / f a / l e i b h a f t i g e - k o m m u n i k a t i o n - i - w a r u m - w i r - k o o p e r i e r e n /

In diesem Fachartikel geht es um leibhaftiges Kommunizieren als Ursprung und Voraussetzung unserer Kommunikation und damit auch des Unterrichtens. Es werden der evolutionsbiologische Ursprung leibhafter Kommunikation erläutert sowie praktische Konsequenzen und Möglichkeiten für die Arbeit in der Schule zusammengefasst.

Anbieter:

Lehrer-Online | Eduversum GmbH, Taunusstr. 52, 65183 Wiesbaden

Autor:

Dr. Dirk Kutting

Lange Beschreibung:

In diesem Beitrag geht es nicht um den Unterrichtsinhalt "leibhaftig kommunizieren", sondern um leibhaftiges Kommunizieren als Ursprung und Voraussetzung unserer Kommunikation und damit auch des Unterrichtens. Ergänzend zu diesen Hintergrundinformationen können Lehrkräfte auf praktische Konsequenzen und Möglichkeiten für die Arbeit in der Schule zurückgreifen, welche in dem Arbeitsmaterial "Rituale im Schulalltag: Begrüßung und Unterrichtsstart"  Berücksichtigung finden. Grundlegende Motive menschlicher Kooperation Kinder sind von Geburt an hilfsbereit und kooperativ , lernen aber im Laufe ihres Heranwachsens, eher selektiv zu kooperieren, und beginnen, den sozialen Normen ihrer Gruppe zu folgen. Dies hat Michael Tomasello in Studien mit Kindern und Schimpansen herausgefunden. Schon einjährige Kinder unterbrechen ihr Spiel, wenn zum Beispiel eine Person mit einem Tablett in beiden Händen den Raum verlassen will und öffnen dieser die Tür. Diese Vorgänge sind keine Folge der Sozialisation, sondern natürlich und sie beruhen nicht auf sprachlicher Mitteilung ("Bitte öffne die Tür!"), sondern werden vom Kind non-verbal, nämlich gestisch, gelesen. Das nennt Tomasello "geteilte Intentionalität". Dazu gehört ein rekursives Erkennen geistiger Zustände ("Was geschieht mit dir, was hat das mit mir zu tun?"). Daraus folgert Tomasello, dass die grundlegenden Motive geteilter Intentionalität Helfen und Teilen sind: "Wenn sie bei kommunikativen Interaktionen zum Tragen kommen, erzeugen sie die drei grundlegenden Motive menschlicher kooperativer Kommunikation: das Auffordern (Hilfe verlangen), das Informieren (Hilfe in Form nützlicher Information anbieten) und das Teilen von Gefühlen und Einstellungen (soziale Bindungen durch die Erweiterung des gemeinsamen Hintergrunds herstellen)." (Tomasello 2011: 341) Mimik und Gestik als Voraussetzung für den Spracherwerb Eltern, denen Szenen am Sandkasten vor Augen stehen, in denen sich um Eimer und Schippe gezankt wird, oder wenn das eine Eis nicht ausreicht oder partout nicht ins Bett gegangen werden will, werden vom natürlichen Altruismus und der Kooperationsbereitschaft ihres Nachwuchses kaum überzeugt sein. Doch genau das hat Tomasello in seinen Untersuchungen herausgefunden und mehr noch: Tomasello behauptet, dass es ohne mimische und gestische Wahrnehmung und Kooperation, ohne geteilte Intentionalität also, überhaupt keine verbale Sprachentwicklung gibt. Überspitzt formuliert ist das Lesen von Mimik und Gestik sowohl Voraussetzung von Spracherwerb als auch der Entwicklung eines "Wir-Gefühls" . Wir können über das Hören eines fremdsprachigen Radiosenders (ohne Vorkenntnisse) nicht die Fremdsprache lernen, wir können aber wohl im Urlaub im Ausland mit Händen und Füßen reden und uns mit der Zeit besser und besser verständigen. Zeigegesten und Richtungen Grundlegend sind Zeigegesten , um die visuelle Aufmerksamkeit anderer zu lenken. Eine im Unterricht häufig gebrauchte Geste ist sicher der erhobene Zeigefinger. Phänomenologisch betrachtet ist der Verweisungscharakter des Zeigefingers von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern sehr unterschiedlich. Das Fingerheben des oder der Lernenden sagt: "Ich weiß etwas!" Es verweist auf sich selbst. Der Zeigefinger der Lehrperson zeigt auf jemanden oder auf etwas. Er weist auf etwas (oder jemanden) hin. Er hat einen Richtungssinn. Diese menschliche Fähigkeit unterscheidet uns vom Tier. Hund und Katze können der Richtung des Fingers nicht folgen; bestenfalls folgen sie dem Finger. Sie werden aber nie dem Vogel folgen, auf den wir am Himmel deuten. Sie können kein Ding in der Verlängerungslinie des Fingers erfassen. Die Zeigegeste schafft einen gemeinsamen Raum der Wahrnehmung gemeinsamer Gegenstände und eröffnet Kommunikation. Evolutionsbiologisch dient anscheinend auch die Verkleinerung unserer Pupillen demselben Zweck: Nur weil es das Weiß der Augen gibt, können allein mit den Augen anderen Menschen Richtungen gezeigt werden. Die Pupillen der Tiere können wohl in Richtungen schauen, aber mit den Pupillen anderen keine Richtung zeigen, wie Menschen das tun. Tomasello entwickelt das Gedankenexperiment, dass nicht-sprachliche Kinder auf einer einsamen Insel entweder nicht vokalisieren oder nicht gestikulieren können, und kommt zu dem Schluss, dass nur die gestikulierenden Kinder einander vor einem heraufziehenden Sturm warnen könnten. Er folgert, "dass stimmliche Konventionen kommunikative Bedeutung ursprünglich nur annahmen, weil sie auf dem Rücken von natürlich sinnvollen Gesten transportiert bzw. mit diesen zusammen redundant verwendet wurden." (Tomasello 2011: 350) Perspektiven im Pluralismus der Wahrnehmungen Sprache ist leibhaftig situiert. Das "Wir-Gefühl" schafft gegenseitige Abhängigkeit. Man kann nur gemeinsam einen Tisch aus dem Wohnzimmer tragen. Kinder lernen, andere wie sich selbst zu betrachten, und sehen sich als einer unter vielen (Tomasello 2010: 44). Dieses Lernen beruht in erster Linie auf Beobachtung und dem Lesen des Verhaltens der anderen. "Obwohl Kognitionswissenschaftler diese Tatsache als völlig selbstverständlich voraussetzen, sind Menschen die einzigen Wesen auf diesem Planeten, die die Welt anhand verschiedener potentieller Perspektiven auf ein und den selben Gegenstand konzeptualisieren, wodurch die sogenannten perspektivischen kognitiven Repräsentationen geschaffen werden. Der springende Punkt ist hier, daß diese einzigartigen Formen menschlicher Begriffsbildung entscheidend von geteilter Intentionalität abhängen, und zwar insofern, als der ganze Begriff der Perspektive einen Gegenstand voraussetzt, auf den wir uns gemeinsam konzentrieren und von dem wir wissen, daß wir ihn teilen, ihn aber aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Perspektivische kognitive Repräsentationen, das ist von größter Wichtigkeit, sind keine Formen menschlicher Begriffsbildung, das mit der Geburt gegeben ist, sondern werden vielmehr von den Kindern konstruiert, wenn sie sich am Prozeß der kooperativen Kommunikation beteiligen im Hin und Her verschiedener Arten von Diskursen, in denen verschiedene Perspektiven bezogen auf gemeinsame Themen ausgedrückt werden, die Teil des gemeinsamen begrifflichen Hintergrunds sind." (Tomasello 2011: 364). Hier ist mit Händen zu greifen, was Unterricht sein kann : eine Versammlung von Menschen, deren Mittelpunkt der jeweilige Gegenstand des Interesses ist. Alle Aufmerksamkeit ist auf die Sache des Unterrichts gerichtet . Es geht darum, die verschiedenen Perspektiven zu teilen. Ein Pluralismus der Wahrnehmung , der gerade nicht dabei stehen bleibt, zu sagen, das könne jede und jeder sehen, wie sie oder er will, sondern der fragt: "Was siehst du?" Ein Pluralismus der Wahrnehmungen, der nach dem Ursprung der je eigenen Perspektive fragt: "Von woher schaust du so auf den Gegenstand?" Ein Pluralismus, der darum auch weiß, dass alle Wahrnehmung perspektivisch ist und daher alle Perspektiven an einem Tisch sitzen und keine als schiedsrichtende Instanz über dem Tisch. Und schließlich ein Pluralismus der Wahrnehmungen des je einzelnen Gegenstandes, der er selbst ist und bleibt, egal, wie nah wir ihm gemeinsam im Unterricht kommen. Nur weil die Gegenstände des Unterrichts nicht auf den Begriff zu bringen sind, bleiben sie von dauerndem Interesse unserer Anschauung. Das Gemeinsame pluraler Perspektiven ist, dass jede von ihnen offen für andere ist und die eigene schlechthin unverfügbar sich einem selbst erschlossen hat. Literaturverzeichnis Tomasello, Michael (2010). Warum wir kooperieren. Berlin: Suhrkamp. Tomasello, Michael (2011). Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Weiterführende Literatur Kutting, Dirk (2021). Bühne frei. Ein Auftrittscoaching für Leib und Seele. Göttingen: V&R.

Bildungsebene:

Sekundarstufe I

Frei zugänglich:

nein

Kostenpflichtig:

ja

Lernressourcentyp:

Arbeitsmaterial

Lizenz:

Frei nutzbares Material

Sprache:

Deutsch

Themenbereich:

Schule fachunabhängige Bildungsthemen sonstige fachunabhängige Bildungsthemen
Berufliche Bildung Berufliche Bildung allgemein Berufswahl, Berufsvorbereitung, Berufsberatung

Geeignet für:

Lehrer