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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 07.07.2000:

"Keine Vorbilder. Ich hab mein eigenes Leben"

Ausländische Azubis über ihre Erfahrungen

"Keine Vorbilder. Ich hab mein eigenes Leben"

Sie heißen Yusuf, Erol, Gürcan, Christoph und Nectaria. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, England und Griechenland. Sie sind in Deutschland aufgewachsen und gehören zu der Gruppe von jungen Migranten, die in Sachen Bildung eine schlechtere Ausgangsposition als ihre deutschen Altersgenossen haben. Diese fünf haben einen Schulabschluss und einen Ausbildungsplatz bei der Alunorf GmbH. Die Online-Redaktion des Forum Bildung sprach mit ihnen über Berufsschule, doppelte Staatsbürgerschaft und die deutsche Sprache.

Mit über 200 Bewerbungen ist Nectaria die Spitzenreiterin unter den fünf Azubis. Ein Jahr musste sie "Urlaub machen", um sich einen Ausbildungsplatz zu suchen. Und dann kam die Zusage von Alunorf, dem größten Aluminium-Walzwerk Europas. Die Flut von Bewerbungen auf jeden einzelnen Ausbildungsplatz macht sie für die Absagen verantwortlich. Auch bei Alunorf, mit einem ausländischen Anteil an Auszubildenden von 40%, kommen im gewerblichen und kaufmännischen Bereich pro Jahr weit über hundert Bewerbungen an. Und nur jeweils zwanzig werden genommen. "90 % bleiben auf der Strecke", sagt Ausbildungsleiter Peter Pulvermacher leicht resigniert. Auch er weiß, dass es für diese sehr schwer werden wird. Nicht jeder hat soviel Erfolg wie Nectaria und ihre Azubi-Kollgen. Doch die Brisanz des Themas - über 30% der türkischen Jugendlichen zwischen 25 und 30 Jahren haben keine abgeschlossene Berufsausbildung - -sehen die fünf ebenfalls in ihrer privaten Umgebung. Freunde und Bekannte, die keinen Ausbildungsplatz bekommen und dann das Gefühl haben "in Deutschland nicht willkommen zu sein". Die Konsequenz? "Da kapselt man sich eben ab", erklärt Gürcan mit einem Achselzucken.

Zweisprachig aufgewachsen

Viele der ausländischen Azubis von Alunorf sind zweisprachig aufgewachsen. Der Ausbildungsleiter Peter Pulvermacher schüttelt den Kopf: "Sprachschwierigkeiten sind heute im Betrieb kein Thema mehr. Vor ein paar Jahren gab es das noch, dass wir Azubis hatten, die erst zur Ausbildung nach Deutschland kamen". So ein Fall ist Yusuf. Vor sechs Jahren kam er aus der Türkei nach Deutschland. Einfach war es nicht. Er ging zwei Jahre in eine Vorbereitungsklasse, um deutsch zu lernen und machte dann seinen Hauptschulabschluss. Heute absolviert er bei Alunorf eine Ausbildung zum Energieelektroniker. Die Azubis schmunzeln nur, wenn sie an die Schmelzöfen denken, auf denen noch die Bedienungsanleitungen auf deutsch und türkisch stehen - für sie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Doch dass die deutschen Sprachkenntnisse bei Kindern von Migranten abnehmen, merken die Alunorf-Azubis auch außerhalb des Betriebs: "Ja, früher war das besser", bestätigt der 23jährige Gürcan, denn "früher mussten die Eltern deutsches Fernsehen sehen, weil es noch keine Schüsseln gab, und das machte sich auch an der deutschen Sprache bemerkbar."

Sorgenkind Berufsschule

Der Blick zurück in die Schulzeit macht den fünf keine Kopfschmerzen. Die meisten gingen in einen deutschen Kindergarten, auf die Grundschule und danach auf die Hauptschule. Nein, andere Probleme als die deutschen Klassenkameraden habe man nicht gehabt. Industriemechaniker Erol wechselte von der Hauptschule auf die Realschule und wieder zurück. Es sei aber nicht zu schwer gewesen, meint er lächelnd, sondern es seien andere Interessen gewesen, die ihn vom Lernen abgehalten haben. Nur beim Stichwort Berufsschule werden alle wütend: "Die Berufsschule ist eine Katastrophe. Deutsch erst im zweiten Jahr, Englisch und Mathe überhaupt nicht und als angehende Kaufleute arbeiten wir nicht mal an PCs", fällt Christoph, der bei Alunorf eine kaufmännische Ausbildung macht, sein vernichtendes Urteil. Es gebe in der Berufsschule zwar die Prüfung in Mathe, das Fach selbst wird in der Schule nicht angeboten - nur als Alibi-Anhängsel an anderen Fächern. Peter Pulvermacher versucht den Missstand so zu erklären: "Es gibt Lücken in Mathe, die schon in den grundbildenden Schulen entstehen, und diese Lücken sind die Berufsschulen nicht in der Lage zu schließen. Um sich keine Blöße zu geben, wird das Fach einfach abgeschafft". Das Sorgenkind Berufsschule betrifft aber alle gleich - Deutsche wie Ausländer.

Besser als doppelte Staatsbürgerschaft

Yusuf, Erol, Gürcan, Christoph und Nectaria haben für eine erfolgreiche Integration in Deutschland auch kein Patentrezept, fühlen sich zudem oft unverstanden, weil sie in zwei Welten leben und nirgends wirklich daheim sind. Profi-Ausländer seien sie, wirft einer in die Runde. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht ist für sie keine Lösung und trifft bei ihnen deshalb nicht auf Begeisterung: "Leute, die sagen, ihr müsst euch für eine Nationalität entscheiden, können das nicht nachvollziehen, wie das für uns ist, weil wir sind ja nicht die Bürger eines Landes, sondern Bürger von zwei Ländern", regt sich Gürcan auf. Und für Christoph beginnt die Diskriminierung im Öffentlichen Dienst, "denn ich kann zum Beispiel nicht Beamter werden. Beamter ist ein Staatsdiener, und man muss ja kein Deutscher sein, um dem Staat zu dienen." Dass türkische, griechische und italienische Polizisten, Richter und Lehrer nicht nur frische Farbe in das deutsche Beamtentum bringen würden, sondern der Integration insgesamt weit förderlicher wären als eine doppelte Staatsangehörigkeit, da sind sich alle einig. Mit den deutschen Kollegen im Betrieb gibt es überhaupt keine Probleme. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: "Ich verbringe mit meinen Kollegen acht Stunden am Tag und sehe die öfters als meine Eltern", sagt Gürcan. Und weil sie zudem im Team arbeiten, sind sich alle Azubis sicher, dass im Betrieb die Welt heiler ist als draußen. "Aber", so schränkt Christoph ein, "in der Firma passt man auf, was man sagt. Da sagt einer vielleicht zwei oder dreimal was gegen Ausländer und dann ist er weg." In der Freizeit braucht man sich dann mit seinen politischen Ansichten nicht mehr zurückzunehmen. Und ebenso selbstbewusst wie sie fremdenfeindlichen Äußerungen die kalte Schulter zeigen, erteilen sie auch eventuellen Vorbildern aus den eigenen Reihen eine Absage. Denn, so Gürcan, "ich hab mein eigenes Leben".

 

 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 07.07.2000
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