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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 07.08.2008:

Das Unfassbare fassbarer machen

Master über Holocaust und Toleranz in einem noch jungen Studiengang in Berlin

Wie kann man den Holocaust im Schulunterricht vermitteln? Wie das Unfassbare des millionenfachen Judenmordes durch Deutsche fassbar machen? Wie erreicht man heutzutage Schüler der vierten Nachkriegsgeneration, die keine persönliche Beziehung zu den Tätern, Opfern, Mitläufern und Zeitgenossen mehr haben? Zeitzeugen, die den Kindern und Jugendlichen von ihren Erlebnissen erzählen können, werden immer seltener. Viele Lehrer dagegen haben Sorge, ihre Schüler nicht richtig zu erreichen und moralisierend zu wirken. Dabei ist das Interesse für den Holocaust bei Schülern nach wie vor groß. Es gilt jedoch, neue Wege der Vermittlung zu finden. Dieser Aufgabe widmet sich ein in Deutschland bislang einmaliger Studiengang am „Lander Institute for Communication about the Holocaust and Tolerance“ in Berlin.

Das deutsch-amerikanische Touro College
„Wir brauchen ein Institut, dass sich Gedanken darüber macht, wie man auch ohne Zeitzeugen mit der Geschichte umgeht“, erklärt der erste Dekan und Leiter der NS-Dokumentationsstelle „Topographie des Terrors“, Andreas Nachama, den Gründungsgedanken des Touro College. Zudem müsse man sich auf neue Zielgruppen einstellen, denn Kinder aus Migrantenfamilien benötigen einen anderen, eigenen Zugang zu diesem Thema. Die internationale Herkunft der Studenten kann dafür hilfreich sein. „Internationalität ist für uns kein Modewort, sondern eine gelebte Tatsache“, meint Sara Nachama, Direktorin des Instituts. Der Masterstudiengang am privaten deutsch-amerikanischen Touro College wurde 2006 entwickelt, der Studienbetrieb im Wintersemester 2007/2008 aufgenommen. Er richtet sich an Hochschulabsolventen der Geschichte, Politikwissenschaft oder verwandter Fächer. Ziel des auch europaweit einzigartigen (Aufbau-)Studiums ist die Vermittlung von geschichtswissenschaftlichen Kenntnissen und Vermittlungskompetenzen mit dem Schwerpunkt Holocaust, insbesondere für Dokumentationssausstellungen und -publikationen sowie für die mediale Umsetzung in Film, Video oder Audio. Dazu können neue Ideen zur Auswertung von Interviews mit Zeitzeugen genauso gehören wie Vorschläge für ein Schulbuch, das in Comicform von der Zeit des Nationalsozialismus berichtet.

Trotz Antisemitismus Kürzung des Unterrichts über den Holocaust
Dass Aufklärung auch in heutiger Zeit Not tut, zeigt die Tatsache, dass Umfragen zufolge 10 bis 25 Prozent aller Deutschen über antisemitisches Gedankengut verfügen. Auch unter manchen muslimischen Einwanderern gibt es Vorbehalte gegen Israel mit antijüdischen Ressentiments. Dennoch kürzt nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ bspw. das Bundesland Bayern mit Beginn des Schuljahres 2009/2010 den Oberstufenunterricht über die Zeit des Nationalsozialismus und damit auch über den Holocaust erheblich. Nur noch sieben Stunden sind für dieses Kapitel im Geschichtsunterricht vorgesehen. Das scheint nicht nur mit dem oft gehörten Argument zusammenzuhängen, man müsse verstärkt geschichtliche Themen aus der Erinnerungs- und Lebenswelt der Schüler selbst behandeln. Denn zum „Leben in der entstehenden Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts“, das zweifellos länger zurückliegt als der Holocaust, sind ganze 14 Stunden Unterricht vorgesehen und damit noch einmal vier Stunden mehr als zum Nahost-Konflikt.

Das Thema Holocaust ist kein „alter Hut“
Eine Studie der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung in München offenbart eine Schere: Einerseits fühlen sich manche Lehrer dem Thema nicht gewachsen, auch weil sie sich selbst mit nicht sofort einlösbaren Ansprüchen überfordern. Sie wollen Fakten vermitteln, gleichzeitig aber auch zur Toleranz erziehen und rechtsradikalem Denken und Antisemitismus vorbeugen. „Sie packen alles in dieses Thema – das ist zuviel“, meint dazu Robert Sigel, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bayerischen Landeszentrale, in einem Interview mit der Zeitschrift „Focus“. Zudem sei „frontale Überzeugungsarbeit“ der falsche Weg, den Holocaust vermitteln zu wollen. Dabei finden Schüler das Thema nach wie vor wichtig und können sich mit den Opfern auch emotional identifizieren. „Wir konnten feststellen, dass das Thema Holocaust für die Jugendlichen – entgegen einem häufig geäußerten Vorurteil – kein ,alter Hut’ ist. Sie sind alle sehr neugierig und interessiert, quer durch alle Schichten und kulturellen Prägungen“, weiß Sigel zu berichten. Manche Kinder mit Migrationshintergrund zeigten sogar mehr Verständnis, weil sie und ihre Familien selber Intoleranz, Rassismus, Völkermord und Vertreibung erlebt haben. Entscheidend ist, die Schüler selbst mit einzubeziehen, zum Beispiel wenn Schülerteams die Biographien einzelner Häftlinge aufarbeiten. Der Besuch von KZ-Gedenkstätten ist eine weitere, viel zu selten genutzte Möglichkeit, aus dem abstrakten Bereich historischer Zahlen herauszukommen. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann (SPD) plant deshalb, Schüler zum Besuch von KZ-Gedenkstätten zu verpflichten, wie er in einer Rede während einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung im Juni dieses Jahres verlauten ließ. Für diejenigen, die den Verbrechen der deutschen Geschichte nur Gleichgültigkeit entgegenbrächten, könne die „schockartige Konfrontation mit den Tatorten in Auschwitz, Buchenwald, aber auch in Bernburg und Prettin nur nützlich sein“.

Comics über Hitler und Auschwitz?
Einen besonderen Weg der pädagogischen Holocaust-Vermittlung gehen seit Beginn 2008 einige Schulen in Berlin. Das Berliner Anne-Frank-Zentrum hat dort damit begonnen, den Comic-Band „Die Suche“ über KZ, Krieg und Tod im Unterricht der siebten bis zehnten Klasse zu testen. Die Geschichte des holländischen Zeichners Eric Heuvel über das holländische Mädchen Esther ist angelehnt an das Schicksal der Anne Frank, die als 15-Jährige im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde und besonders durch ihr Tagebuch einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte. Comics mit ihrer klaren und einfachen Bildersprache können ein probates Mittel sein, die Lebens- und Leidensgeschichten von Juden und anderen Verfolgten des Nationalsozialismus den Schülern ganz nahe vor Augen zu führen. Denn bei herkömmlichem Fakten- und Frontalunterricht reagierten die Schüler oftmals mit einer Blockadehaltung, wie Thomas Heppner, Leiter des Anne-Frank-Zentrums, im Februar 2008 im Online-Portal des „SchulSPIEGEL“ feststellte. Die Kinder und Jugendlichen schalteten dann schon auf Durchzug, wenn sie das Wort „Auschwitz“ nur hörten. Historisch fundiert ist die Bildergeschichte, weil ein Team aus Holocaust-Experten jedes einzelne Bild und den dazu gehörigen Text vorab genau geprüft hat.

3 000 Euro pro Semester für den zweijährigen Masterstudiengang
Solche Holocaust-Experten mit Schlüsselkenntnissen in den neuen Medien könnten eben Absolventen des „Lander Institute for Communication about the Holocaust and Tolerance“ sein – Absolventen wie die 35-jährige Christina Winkler oder der 30-jährige Guy Band. Die Slawistin Winkler wurde durch ihren Aufenthalt in Russland zu diesem Studium motiviert. In Wolgograd habe sie in Gesprächen mit Einheimischen häufig unverhohlenen Antisemitismus erfahren, berichtete sie in der „WeltOnline“ vom Oktober 2007. Am liebsten würde sie nach Abschluss ihres Studiums in einem Jahr deshalb wieder in Russland arbeiten. Der Israeli Guy Band wiederum hat in Israel Geschichte studiert und in verschiedenen Bildungseinrichtungen gearbeitet. „Bei uns wird der Holocaust hauptsächlich aus der Opferperspektive gelehrt“, sagt er. Für ihn ist darum von besonderem Interesse, wie sich die Menschen in Deutschland mit den Gräueln des Nationalsozialismus auseinandersetzen. „Ich möchte lernen, wie man ein Thema aus verschiedenen Perspektiven entwickelt und es sich aus politischer, geschichtlicher oder auch pädagogischer Sicht erarbeitet.“ Diesen umfassenden Ansatz in einem zweijährigen, praxisbezogenen Masterstudiengang lässt sich das Institut am Touro College 3 000 Euro pro Semester kosten. Auch Stipendien sind möglich. Absolventen können – wie die Homepage des College verspricht – in neuen Berufsfeldern wie Medienprojekten zur Holocaustvermittlung, aber auch in traditionellen Bereichen wie in Gedenkstätten, Museen, Archiven, in Rundfunk, Fernsehen, Printmedien, in Bildungseinrichtungen und Universitäten zum Einsatz kommen. Am Ende des Studiums einen „Master“ in „Tolerance“ zu haben, mag zwar noch etwas ungewohnt klingen, wird sich aber bestimmt bezahlt machen. Individuell und gesellschaftlich.

 

Autor(in): Arndt Kremer
Kontakt zur Redaktion
Datum: 07.08.2008
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