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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 17.07.2008:

Eine kleine Stadt in der großen

Die Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale
Das Bild zum Artikel
Historisches Waisenhaus, Foto von Reinhard Hentze.

Nicht viele Stiftungen in Deutschland können von sich behaupten, vor über 300 Jahren gegründet worden zu sein – und dann auch noch zwei Geburtsstunden erlebt zu haben. Bei den Franckeschen Stiftungen zu Halle ist beides der Fall. Im Jahr 1698 als pietistisches Sozial- und Bildungswerk von August Hermann Francke gegründet, wurde die Stiftung nach Kriegsende von der DDR-Regierung enteignet, doch 1992 nach der deutschen Wiedervereinigung neu belebt. Seitdem arbeiten in dem historischen Gebäudekomplex der Stiftungen mitten im Zentrum von Halle in Sachsen-Anhalt über 40 kulturelle, pädagogische, wissenschaftliche und soziale Einrichtungen. Darunter sind vier Schulen, drei Kindertagesstätten, das Deutsche Jugendinstitut, die Kulturstiftung des Bundes und Teile der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Franckeschen Stiftungen bilden also eine kleine Stadt in der großen Stadt: lebendig und belebend.

Größer als das Stiftungskapital waren der Wille und das Engagement des Stifters: Eine Spende von gerade einmal vier Talern und sechzehn Groschen stand 1695 dem 32-jährigen Pfarrer und Professor August Hermann Francke (1663–1727) zur Verfügung, um eine Armenschule in Glaucha bei Halle zu eröffnen. Doch Francke ließ sich nicht beirren. Der Grundstein für die Glauchaschen Anstalten, wie die Frankeschen Stiftungen damals hießen, war gelegt. Noch im selben Jahr begann er, elternlose Kinder bei sich aufzunehmen und zu unterrichten. Mit dem Privileg des Kurfürsten von Brandenburg (1698) entstanden ein Waisenhaus, mehrgliedrige Schulen und die Cansteinsche Bibelanstalt, die heute im Cansteinschen Bibelzentrum fortlebt. Überhaupt gehen viele moderne Institutionen und Errungenschaften auf die Glauchaschen Anstalten zurück, so die Realschule und das erste Lehrerseminar in Deutschland sowie Millionen deutschsprachiger Volksbibeln. Franckes Tatendrang war getragen von einer evangelisch-pietistischen Grundüberzeugung, welche den persönlichen Gottesglauben mit frühen aufklärerischen Idealen in den Vordergrund rückte. Bis heute fühlt sich die Stiftung diesem „christlichen Geist“ verpflichtet, wie es in der Satzung heißt. Man wolle „Menschen aller Schichten aus dem In- und Ausland eine umfassende Bildung und die Fähigkeit zum sozialen Handeln vermitteln“. Die Franckeschen Stiftungen sind mittlerweile wieder eine Einrichtung von nationalem Rang mit zahlreichen internationalen Kooperationen, die sich an den weltweiten Verbindungen der Francke-Schüler im 18. Jahrhundert von Jerusalem bis ins indische Madras orientieren. Im und rund um das „Lange Haus“, der größten Fachwerkkonstruktion Europas, lehren, lernen und arbeiten mitten im Zentrum von Halle über 4000 Menschen. Auch die 100 Veranstaltungen jährlich – von Ausstellungen, Konzerten, Kinderfesten bis hin zu Vortragsreihen und Wissenschaftskonferenzen – stellen unter Beweis, wie lebendig diese kleine Stadt ist.

In der Zeit zurückgehen: Geschichtsträchtiges und Sehenswürdiges
Der Tagesablauf der Stiftungen ist von dem Bewusstsein der langen Tradition nicht zu trennen. Schritt für Schritt stößt man in dem Gebäudekomplex, der auf der Bewerberliste des UNESCO-Weltkulturerbes steht, auf Geschichte. Zu den besonderen Attraktionen, die besucht werden können, zählt sicherlich das Historische Waisenhaus mit der angegliederten Kunst- und Naturalienkammer als ältester deutscher Museumsraum. Früher beherbergte das Waisenhaus unter anderem Schlaf- und Unterrichtssäle, eine Buchhandlung, eine Apotheke und Druckerei. Heute bildet es das „kulturelle Herzstück der Franckeschen Stiftungen“, wie es auf der Homepage heißt. Ausstellungen und Konzerte, wissenschaftliche und kulturelle Veranstaltungen finden hier einen passenden Ort. In der Mansarde des ehemaligen Waisenhauses beherbergt die im 18. Jahrhundert von August Hermann Francke zu pädagogischen Zwecken angelegte Kunst- und Naturalienkammer über 3000 Schätze: Naturalien, Kuriositäten und Artefakte – eine barocke Wunderwelt, die Einblicke in vergangene Zeiten bietet. Sehenswert ist auch die Historische Bibliothek der Stiftungen mit ihren 50 000 Büchern, teils wertvollen antiquarischen Dokumenten. Im Francke-Kabinett im Erdgeschoss wiederum lässt sich anhand von Texttafeln, Dokumenten, Modellen, Objekten und einem Videofilm das Leben und Werk August Hermann Franckes und die lange Geschichte der Stiftungen nachvollziehen.

Mit der Zeit gehen: Jahresprogramm widmet sich dem Thema Zeit
Unter dem Motto „Zeit.Los: Unser Umgang mit der Zeit“ steht das kulturelle und wissenschaftliche Jahresprogramm der Franckeschen Stiftungen 2008. Es geht um die Frage, ob die stetige Beschleunigung unseres Alltags dazu führen muss, die Werte der Entschleunigung neu zu entdecken. So nimmt man sich im Kinderkreativzentrum „Krokoseum“ in einem Kinderkunstprojekt „Zeit zum Wundern, Staunen und Selbermachen“, während ebenfalls dort am 27. Juli die Kinder der zunächst simpel anmutenden Erklärung von Albert Einsteins „Zeit ist das, was man auf der Uhr abliest“ genauer auf den Grund gehen. Dann geht es um die Uhr als Zeitmesserin und Zeiträuberin. Das im Jahr 2000 gegründete „Krokoseum“ im Sockelgeschoss des Historischen Waisenhauses bietet Kindern bis zu 12 Jahren Raum, Kultur zu erleben. Es beinhaltet Kultur-, Museums-, Kunst- und Medienpädagogik, Schul- und Familienangebote, Ferienprogramme sowie thematisch orientierte Projektarbeit und Ausstellungen.

Wissenschaftlich Interessierte kamen und kommen auf der bereits am 4. Juli 2008 angelaufenen „Langen Nacht der Wissenschaften in Halle“ und der „Nacht der Kirchen“ auf ihre Kosten. So wird am 23. August in einer Vortragsreihe in der St. Georgs-Kapelle die Lebenszeit am Beispiel christlicher Rituale wie Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung vor dem Hintergrund der Frage nach der Verbindung von Reformation und Pietismusbeleuchtet. Weitere Programmpunkte stehen im September an.

Zwischen den Zeiten gehen: Bildungsprojekte und Begegnungen für Jung und Alt
In der Schülerakademie „Denk mal: Geschichte!“, die vom 18. bis 23. August stattfindet, erleben Schülerinnen und Schüler ab der 8. Klasse, dass die Beschäftigung mit Geschichte nicht bedeutet, endlos Daten und Namen zu lernen. Viel wichtiger ist es, Fragen zu stellen, Antworten zu finden und Zusammenhänge zu erkennen. In der einwöchigen Akademie gilt es, alte und neue Dokumente zu untersuchen, auf Exkursionen zu gehen und mit pädagogischer Betreuung in Teamarbeit eine eigene kleine Projektgeschichte zu schreiben. Thema sind dieses Mal die Denkmäler in Halle: An wen oder was erinnern sie und warum?

Dass Jung und Alt trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Geschichte haben, die das Leben schreibt, ist im „Haus der Generationen“ zu erfahren. Das Haus, das sich an der Bundesinitiative der Mehrgenerationenhäuser orientiert, bringt Kinder, Jugendliche und Senioren zusammen. Hier begegnen sich Jung und Alt, lernen miteinander und unterstützen sich gegenseitig. So richten sich die Informations-, Beratungs-, und Fortbildungsangebote des „Familienkompetenzzentrums für Bildung und Gesundheit“ in der Dachetage des Generationenhauses an alle Generationenvertreter im Umfeld der Stiftungen, insbesondere an Familien sowie Fachleute, die mit Familien arbeiten.

Die Kinder der evangelischen Montessori-Schule Halle und die Bewohner des Altenheims der Paul-Riebeck-Stiftung lernen und leben im Generationenhaus nach der Sanierung zweier Gebäude unter einem Dach – ein in Deutschland bisher einzigartiges Projekt. Gewünscht ist „eine enge Symbiose von Jung und Alt“. Die Kinder profitieren von den Senioren, indem die Älteren ihr Wissen zu Themen weitergeben, die gesellschaftlich eher tabuisiert werden, nichtsdestotrotz aber Kinder beschäftigen, wie zum Beispiel Altern, Krankheit und Sterben. Die Senioren profitieren wiederum von den Kindern, indem sie deren neue Sichtweisen erfahren und sich von ihnen beleben lassen. So kann bspw. der selbstverständliche Umgang der jungen Generation mit neuen Medien wie Internet die Scheu auch bei den Älteren abbauen.

Bildungsprojekte für Jung und Alt sind da nur ein, aber ein besonders wichtiger Teil des Programms der Franckeschen Stiftungen, die sich „der Verantwortung für die Rettung und dauerhafte Erhaltung des Gebäudeensembles und der historischen Sammlungen“ verpflichtet fühlen, aber auch „die Ideen und Traditionen ihres Gründers in die Zukunft führen“ wollen. Insgesamt wolle man „dem materiellen wie auch dem ideellen Erbe gerecht werden“. Noch einmal sei daran erinnert: Mit nur vier Talern und sechzehn Groschen Startkapital hatte August Hermann Francke vor über 300 Jahren den Grundstein gelegt für eine Stiftung, die heute über 40 Einrichtungen beherbergt. Nicht immer bringt so wenig so viel hervor.

Autor(in): Arndt Kremer
Kontakt zur Redaktion
Datum: 17.07.2008
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