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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 01.02.2007:

Vom "Stubenhocker" zum aktiven Jugendlichen

Ein Projekt zur Vorbeugung von Übergewicht bei Jungen
Das Bild zum Artikel
Projektleiter Dr. Uwe Berger

Bildung PLUS: Im Februar startet das Projekt TOPP - Teenager ohne pfundige Probleme. Welche Ziele verfolgt das Projekt?

Berger: Das Ziel des Projektes ist, Jungen dazu zu motivieren, sich von einem eher passiven, zurückgezogenen Jugendlichen, der sich möglicherweise schon in dem Teufelskreis befindet, zu dick zu sein, gehänselt zu werden, sich zurückzuziehen und dadurch noch weniger Kontakt zu anderen zu haben, zu einem aktiven Jugendlichen zu entwickeln, der am Leben teilnimmt und mit anderen zusammen etwas unternimmt. Um das zu erreichen, muss der Schüler erst einmal für das Thema interessiert werden, sein Bewusstsein und Selbstbewusstsein müssen verändert werden. Dies geschieht am besten, wenn man in der Schule insgesamt die entsprechenden Strukturen und ein Klima dafür schafft, sich mit dem Thema "Bewegungs- und Essverhalten" auseinanderzusetzen.

Bildung PLUS: Mit welchen Methoden soll dieses Bewusstsein für das eigene Bewegungs- und Essverhalten geschaffen werden?

Berger: Im Projekt werden das Ess- und Bewegungsverhalten der Schüler auf unterschiedliche Weise angesprochen. Wir wollen ihnen vermitteln, dass es weniger darum geht, ausschließlich mehr Sport zu betreiben, sondern dass es viel wichtiger ist, die Alltagsbewegung zu steigern und sich an Spielen zu beteiligen. Die Jungen sollen einen umfassenderen Blick dafür bekommen, was alles zur Bewegung dazugehört. Bewegung wird heute gesamtgesellschaftlich unterschätzt und gerade Jugendliche bewegen sich immer weniger. Dem möchten wir entgegenwirken und aufzeigen, dass man auch mit wenigen Mitteln, also zum Beispiel indem man das Fahrrad anstatt den Schulbus nimmt, schon viel erreichen kann. Auch abnehmen kann man nicht mit kurzfristigen Diäten oder dadurch, dass man mal einen Tag keine Süßigkeiten isst, sondern indem man langfristig eine gesunde und natürliche Ernährung anstrebt.

Die Didaktik von TOPP ist angelehnt an das Projekt Primärprävention Magersucht (PriMa), das wir mit Mädchen der sechsten Klassen seit 2004 machen. Auf Postern werden Situationen dargestellt, die als Gesprächsaufhänger im Unterricht dienen. Dazu gibt es für die Lehrkräfte so genannte Manuale, in denen beschrieben ist, was zu jedem Poster, zu jeder Unterrichtseinheit gemacht werden kann. Also, was auf dem Poster dargestellt ist, was das bedeutet, wie man damit umgehen oder wie man damit anders umgehen kann. Es gibt auch ausgearbeitete Spielvorschläge, zum Beispiel Rollenspiele, in denen Situationen in spielerischer Form erlebbar werden, wie beispielsweise zu dem Thema Hänseln oder auch beim Erlernen der Ernährungspyramide. Es geht uns nicht nur darum Wissen zu vermitteln, sondern die Kinder sollen im eigenen Erleben merken, worum es geht.

Bildung PLUS: Wieso richtet sich TOPP ausschließlich an Jungen?

Berger: Wir führen schon seit zwei Jahren an Thüringer Schulen Projekte zur Gesundheitsförderung im Bereich Essverhalten und Bewegungsverhalten durch. Der Schwerpunkt lag bisher auf dem Bereich Essstörungen bei Mädchen. Aufgrund der Tatsache, dass wir mit den Mädchen in der sechsten Klasse zu Magersucht und später in der siebten Klasse in dem Projekt Torera über Bulimie, Fressanfälle und Adipositas Programme durchgeführt haben, ist der Wunsch entstanden, auch etwas für die Jungen zu tun. Die sind von Essstörungen zwar nicht so betroffen, aber doch von Gewichtsproblemen. Daher werden wir ab September das Projekt Torera so anbieten, dass auch die Jungen einbezogen sind. Es ist aber wichtig, Jungen und Mädchen zunächst Raum zu geben, bestimmte Dinge unter sich anzusprechen und zu bearbeiten. Alle drei Projekte, PriMa, TOPP und Torera, sind also Teil eines Gesamtpaketes für Schulen, die etwas zur Förderung der Gesundheit im Bereich des Ess- und Bewegungsverhaltens tun wollen.

Bildung PLUS: Wie entstand die Idee zu den Projekten?

Berger: Es gab im Jahr 2004 eine Ausschreibung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zum Thema Präventionsforschung. Weil wir am Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie schon länger das Thema Essstörungen bearbeitet haben, kamen wir auf die Idee, ein Präventionsprojekt zu diesem Thema ins Leben zu rufen, um uns an der Ausschreibung beteiligen zu können. Auf der Suche nach Kooperationspartnern hat das Thüringer Kultusministerium großes Interesse gezeigt. Unabhängig von der Ausschreibung waren sie schon länger auf der Suche nach Präventionsmöglichkeiten für Essstörungen bei Mädchen. Wir waren uns einig, dass wir ein Projekt schaffen wollten, das auf Nachhaltigkeit setzt und qualitätsgesichert ist. Wir wollten keine externen Experten an die Schulen holen, die Aufklärung betreiben, sondern die Lehrer an den Schulen selbst befähigen, das Präventionsprojekt durchzuführen. Dieses Konzept und unsere erfolgreiche Pilotstudie führten im zweiten Anlauf dazu, dass unsere Projekte PriMa und Torera seit Juli 2006 für drei Jahre vom BMBF gefördert werden und wir die beiden Diplompsychologinnen Christina Brix und Bianca Bormann mit der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation im Rahmen ihrer Promotionen beauftragen konnten. Mit dem Konzept für TOPP gelang es, ein Promotionsstipendium für eine weitere Psychologin einzuwerben. Melanie Sowa war bereits an der Evaluation von PriMa maßgeblich beteiligt und ist nun für die Konzeption, Durchführung und Evaluation von TOPP mitverantwortlich.

Bildung PLUS: In welchem Umfang wird das Projekt an den Schulen angeboten?

Berger: Entweder in neun Doppelstunden oder als Projektwoche. Das Projekt enthält hohe Übungsanteile wie Rollenspiele und Hausaufgaben, die mindestens die Hälfte der Projektzeit erfordern. Es gibt drei Einheiten zum Thema Ernährung, drei Einheiten zum Thema Bewegung und drei Einheiten zum Thema Gruppendynamik, Verhalten untereinander. Wir gehen - auch durch die Vorgespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern - davon aus, dass die Jungen in diesem Alter ein starkes Bedürfnis danach haben, sich in der Gruppe zu orientieren. Wer hat das Sagen, wie geht man miteinander um, was sind Regeln des Umgangs, was darf man, was darf man nicht. Die Gruppendynamik scheint bei Jungen stärker ausgeprägt zu sein als bei Mädchen und dafür muss man ihnen einen Raum außerhalb des normalen Unterrichts geben. Nur wenn sie unter sich sind, können sie solche Dinge ausmachen.

Bildung PLUS: Haben Sie positive Erfahrungen mit dem Projekt PriMa gemacht, die Sie sich auch von TOPP erhoffen?

Berger: Ja, durch unsere Evaluation des Projektes PriMa konnten wir feststellen, dass wir sehr positive Erfolge erzielt haben. Sowohl was die Wirkung des Projekts angeht, als auch bei derdie Durchführung durch die Lehrer sowie hinsichtlich des Materials. Das hätten wir nicht erreicht, wenn wir die Mädchen lediglich auf das Thema aufmerksam gemacht hätten. Ausschlaggebend für den Erfolg waren die Übungen und die Tatsache, dass wir die Lehrkräfte dazu befähigt haben, das Projekt selbst durchzuführen. Dies hat unsere umfassende Evaluation, d. h. die mündlichen und schriftlichen Befragungen der Lehrkräfte und Schülerinnen eindeutig ergeben. Um die Wirkung des Projekts zu überprüfen, gab es in der Anfangsphase einen achtseitigen, größtenteils standardisierten Fragebogen für die Mädchen, den sie ausgefüllt haben, bevor das Projekt losging, unmittelbar danach und noch einmal nach drei Monaten. Wir wollten herausfinden, was sich in Bezug auf ihr Selbstwertgefühl, in Bezug auf ihr Essverhalten, ihr Wissen, ihre Einstellung und die Zufriedenheit mit ihrer Figur positiv oder auch negativ verändert hat und vor allem, ob es sich aufgrund des Projektes verändert hat oder ob es sich in diesem Alter sowieso verändert hätte. Deshalb haben wir nicht nur die am Projekt beteiligten Mädchen befragt (insgesamt über 500 Mädchen aus 20 Thüringer Schulen im Schuljahr 2004/2005), sondern parallel dazu noch einmal 500 Schülerinnen von Schulen, die nicht am Projekt teilgenommen haben. Bei TOPP wird es etwas schwieriger sein, Effekte des Programms nachzuweisen, weil sich Parameter wie "Fitness" schlechter messen lassen. Daher werden wir hier neben den Fragebögen auch einen Fitness-Test einsetzen und sind aufgrund unserer guten Erfahrungen mit den Mädchen optimistisch, auch bei den Jungs positive Veränderungen zu erreichen.

Bildung PLUS: Wie werden die Lehrkräfte auf die Aufgaben vorbereitet?

Berger: Die Lehrkräfte werden einen Tag lang im Thüringer Kultusministerium von zwei Lehrerinnen (Jutta Beinersdorf und Margrit Lüdecke) weitergebildet, die ihnen das Projekt erklären und zeigen, wie sie in der Schule mit dem von uns entwickelten Manual arbeiten können. Die beiden Lehrerinnen sind seit Beginn des Projektes PriMa 2004 mit jeweils einer Viertelstelle vom Thüringer Kultusministerium freigestellt, um die methodisch-didaktische Beratung für das Projekt zu übernehmen. Wir wollten bewusst nicht, dass diese Aufgabe von externen Experten getragen wird, sondern von Lehrkräften, die genügend Erfahrung haben und wissen, was mit den Schülerinnen und Schülern möglich ist und was nicht, was wie viel Vorbereitung erfordert und wie das Material gestaltet sein muss, damit es im Unterricht verwendet werden kann. Darüber hinaus führen wir an jeder Schule vor Projektbeginn einen Elternabend für Eltern, Lehrer und ältere Schüler zum Thema Essstörungen, Dick- und Dünnsein, Bewegungsmangel usw. durch.

Das Unterrichts-Manual für die Lehrer, das von uns entwickelt wurde, ist mittlerweile 100 Seiten stark. Jede Einheit ist auf ungefähr zehn Seiten genauestens beschrieben: Was ist auf dem Poster dargestellt, was hat es für eine Bedeutung, welche Fragen kann man dazu stellen und wie bindet man das Thema im Unterricht ein. Auch die Übungen und Rollenspiele werden aufgezeigt. Dazu gibt es eine CD und eine DVD, die sich die Lehrer zur Vorbereitung ansehen können, und die sie auch im Unterricht mit einsetzen können. Wir haben versucht, die Vorbereitung für das Thema möglichst interaktiv und mit einer größtmöglichen Medienvielfalt zu gestalten.

Bildung PLUS: Werden die Projekte nach erfolgreicher Evaluation dauerhaft an Thüringer Schulen angeboten?

Berger: Das Projekt PriMa ist jetzt schon in dieser Phase. Wir haben das Pilotprojekt 2004 durchgeführt und die Evaluation erfolgreich abgeschlossen. Das Ziel des Kultusministeriums ist es, das Projekt an alle Schulen zu bringen, wobei die Teilnahme trotzdem freiwillig bleiben soll. Die weitere Verbreitung der Programme wird auch davon abhängen, ob wir Partner zur Finanzierung der Materialien finden. Bei PriMa hat die Kaufmännische Krankenkasse Erfurt durch den Druck von 500 Manualen entscheidend zur Verbreitung beigetragen. Darüber hinaus erstellen wir jetzt neue Materialien in Kooperation mit dem Heidelberger Präventionszentrum, um möglichst noch in diesem Jahr die Projekte auch deutschlandweit Schulen anbieten zu können.


Projektleiter Dr. Uwe Berger, Dipl.-Psych., Jahrgang 1962, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie des Uniklinikums der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Strauß. Er leitet unter anderem die Projekte Primärprävention Magersucht (PriMa), Primärprävention Bulimie, Fress-Anfälle und Adipositas (Torera) und TOPP-Teenager ohne pfundige Probleme und ist Geschäftsführer der Thüringer Ess-Störungsinitiative e.V. (ThEssi e.V.). Studium der Psychologie in Trier, Diplom 1993. 1994 bis 1998 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialpsychologie in Münster und Jena, Promotion 1998. Weiterbildung in ärztlichem Qualitätsmanagement. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitsförderung und Prävention im Bereich Ess- und Bewegungsverhalten.

Autor(in):
Kontakt zur Redaktion
Datum: 01.02.2007
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