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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 12.01.2006:

"Wir brauchen einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel..."

Ein Modellprojekt in Hessen soll Wege freimachen, damit Studieren und Forschen mit Kind langfristig zum Normalfall werden
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Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe

In Deutschland ist Kinderlosigkeit in Akademikerfamilien besonders hoch. Inzwischen gibt es aber zahlreiche Anstrengungen, Hochschulen und Universitäten familiengerecht auszugestalten. Die Hessenstiftung "Familie hat Zukunft" und der Lehrstuhl für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft der Universität Gießen haben ein Modellprojekt zur Vereinbarkeit von Studium und Familie initiiert. Bildung PLUS sprach darüber und über die Frage, wie realistisch familiengerechte Hochschulen sind, mit Prof. Uta Meier-Gräwe und Dr. Ulrich Kuther.


Bildung PLUS: In Hessen wurde 2005 das Modellprojekt "Studieren mit Kind" gestartet. Was war der Auslöser oder Anlass für dieses Projekt und was soll mit diesem Projekt erreicht werden?

Meier-Gräwe: In unserer Gesellschaft wird zunehmend die hohe Kinderlosigkeit als Problem für die künftige Entwicklung wahrgenommen. Kinderlosigkeit verteilt sich aber nicht gleichermaßen über alle Bildungsgruppen. Sie tritt überproportional gerade bei denjenigen Frauen und auch Männern auf, die ein hohes Bildungsniveau besitzen, von denen man mit einiger Sicherheit sagen kann, dass sie gute Berufsperspektiven haben und Kindern gedeihliche Bedingungen des Aufwachsens bieten könnten. Von einer Gesellschaft, die ansonsten im internationalen Wettbewerb keine Ressourcen einbringen kann außer ihrem Humanvermögen, muss diese Entwicklung durchaus zu denken geben. Das ist auch Anlass gewesen für das Modellprojekt, was übrigens "Studieren und Forschen mit Kind" heißt, da es sich sowohl mit der Studien- und Lebenssituation von Studierenden als auch mit der Arbeitssituation des wissenschaftlichen Nachwuchses an Universitäten und Fachhochschulen befasst.

Kuther: Anlass für das Projekt ist die Tatsache der hohen Kinderlosigkeit von Akademikern. Derzeit bleiben etwa 40 Prozent von ihnen kinderlos, wobei jedoch 80 Prozent den Wunsch nach einer eigenen Familie äußern. Dies wurde bereits als gesellschaftliches Problem erkannt, welches Folgen für die ohnehin schon negative demographische Entwicklung der Gesellschaft hat. Deshalb ist es für uns ein erklärtes Ziel, hier einen "Mentalitätswechsel" herbeizuführen. Es soll jungen Menschen ermöglicht werden, bereits während des Studiums Kinder zu bekommen. Hier will das Projekt gezielt bei der Elternschaft im Studium ansetzen und die Vorteile dieses biographischen Zeitfensters herausstellen. Studieren und Forschen mit Kind soll künftig der Normalfall werden.


Bildung PLUS: Ein Grund für die hohe Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen und Akademikern sind mangelnde Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, insbesondere für Kleinkinder. Wie kann das angesichts leerer Kassen in Kommunen und Hochschulen geändert werden?

Kuther: Ein Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten könnte an bestehende Konzepte anknüpfen, welche auf einer Kosten- und Aufwandteilung basieren. Gemeint sind Einrichtungen, die von Elterninitiativen getragen werden, von Land und Kommunen gefördert werden und von der Hochschule Räume zur Verfügung gestellt bekommen. Fehlt jedoch hierfür das Geld, sind Tageselternbörsen eine gute und häufig flexiblere Alternative. Auch Elternnetzwerke, bei denen sich Betreuungsgemeinschaften bilden, wären sicher hilfreich. Jedoch sind neben diesen formellen Netzwerken auch informelle aus dem Familienkreis und der Nachbarschaft sehr wichtig, um neue Ressourcen zu mobilisieren und den bestehenden Institutionen unter die Arme zu greifen.


Bildung PLUS: Die Hessenstiftung will vor allem kommunale Akteure für das Projekt mobilisieren. Wie sieht das konkret aus und welche Ergebnisse gibt es bereits?

Kuther: Die Hessenstiftung ist auch Gründungsmitglied des lokalen Bündnisses für Familie in Gießen. In Zusammenarbeit mit der Stadt und anderen lokalen Partnern werden Maßnahmen für das Studieren mit Kind entwickelt und erprobt. Denn einer Stadt wie Gießen, welche die höchste Studierendendichte Deutschlands hat, kommt eine besondere Verantwortung für junge Familien zu.


Bildung PLUS: Im November 2005 fand eine Tagung statt, auf der Zwischenergebnisse der Längsschnittstudie "Studieren und Forschen mit Kind" vorgestellt und diskutiert wurden. Welche Erkenntnisse und Lösungsansätze vermittelte die Studie?

Meier-Gräwe: Wir haben im ersten Anlauf Studierende und Angehörige des wissenschaftlichen Mittelbaus, aber auch Expertinnen und Experten befragt, die mit dem Alltag von Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses mit Kindern zu tun haben. Die Befragungen bezogen sich auf den Hochschulstandort Gießen, weil Gießen die Stadt mit der höchsten Dichte an Studierenden in Deutschland ist. Dabei kristallisierte sich für mehr oder weniger alle als ein Riesenproblem heraus, eine angemessene und qualitativ gute Kinderbetreuung hinzubekommen, um eben das Studium nicht unterbrechen zu müssen bzw. die wissenschaftliche Arbeit fortsetzen zu können. Aber auch die finanzielle Situation von studierenden Eltern ist teilweise sehr problematisch und viele, die Kinder haben, müssen ja nicht nur studieren, sondern auch jobben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, was auf eine Dreifachbelastung hinaus läuft.

Ein weiterer Aspekt, der uns aufgefallen ist: In den Universitäten und Fachhochschulen wird das Thema Kinder auch auf Seiten des Lehrkörpers bis heute mehrheitlich überhaupt nicht mitgedacht. Es gibt da zwar rühmliche Ausnahmen, aber in der Regel werden Universitäten und Fachhochschulen als Elite- oder Ausbildungseinrichtungen gesehen, wo man sich mit der Kinderfrage nicht wirklich auseinandersetzt, sondern davon ausgeht, dass man das irgendwie privat regelt. Jetzt sieht man aber, dass es so nicht funktioniert. Viele der Professoren, die selber noch klassische Lebensmodelle leben, wollen diese Veränderungen im Bildungsbereich nicht wahrhaben, die den Frauen höhere Bildungschancen in unserer Gesellschaft eröffnen. Unterschwellig werden andere Lebensmodelle, die eine zeitgleiche Vereinbarkeit von Beruf und Familie zum Inhalt haben, tendenziell immer noch skeptisch betrachtet.

Bei dem Modellprojekt geht es nicht nur um eine wissenschaftliche Bestandsanalyse der Ist-Situation. Vielmehr zielt er darauf ab, dass wir mit den Studierenden selbst und mit Angehörigen des wissenschaftlichen Mittelbaus herauszufinden, wie Studierende und Forschende mit Kind im Alltag wirksam unterstützt werden könnten. Eine solche Maßnahme soll dann mit Mitteln der Hessenstiftung finanziert und in ihrer Wirkung evaluiert werden. Welche Maßnahme das sein wird, ist gerade in der Diskussion und wird abgestimmt mit Vorhaben, die Universität und Fachhochschule im Rahmen des Auditierungsprozesses "Familiengerechte Hochschule" planen.

Wir haben uns alles, was landesweit zu Thema "Studieren mit Kind"  läuft, angesehen. Das war Bestandteil des Modellvorhabens. Unser Projekt ist allerdings stark bezogen auf die Stadt Gießen, verbunden mit der Überlegung, dass es nicht allein ein Problem der Universität oder der Fachhochschule ist, sondern dass auch die Stadt an einer familiengerechten Infrastruktur interessiert sein muss, um qualifizierte Leute in dieser Stadt zu halten. Dazu haben wir jetzt auch das Bündnis für Familie gegründet und versuchen, verschiedenen Aktivitäten am Standort Gießen miteinander zu vernetzen. Die Ergebnisse des Projekts werden dann aber auch für andere Hochschulstandorte von Nutzen sein.


Bildung PLUS: Am 14. Februar findet eine weitere Tagung statt die "Promovieren mit Kind - Forschung und Familie vereinbaren" zum Thema hat. Welche Ziele werden mit dieser Veranstaltung verfolgt?

Kuther: Im Allgemeinen soll es darum gehen, wie Elternschaft und Berufseinstieg sowie die postgraduale Phase bestmöglich zu vereinbaren sind. Auf der Tagung werden in Workshops die Wünsche von Doktorand/innen formuliert und es werden erste Projektideen entwickelt. Themenkomplexe sind hierbei u. a. "Soziales Networking" und "Kinderbetreuung und Finanzierung".


Bildung PLUS: Das, was bisher als Notfall betrachtet wurde, soll künftig in Gießen der Normalfall sein: Studieren mit Kind. Wie realistisch ist dieser "Normalfall" und mit welchen zeitlichen Dimensionen rechnen Sie? Reichen materielle Unterstützung und bessere Voraussetzungen aus, oder brauchen wir nicht auch einen "Kulturwandel"?

Meier-Gräwe: Das ist ein sehr hoher Anspruch und ich sehe das genauso wie Sie, dass man tatsächlich an mehreren Stellschrauben zugleich drehen muss. Vor allem brauchen wir einen tiefgreifenden Mentalitätswechsel in unserer Gesellschaft, die Kinderfrage im Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten, etwa der rasanten Bildungsbeteiligung von Frauen. Es reicht jedenfalls nicht, eine Kindereinrichtung zu schaffen oder ein paar Wickeltische bereit zu stellen. In den Köpfen der Lehrenden, in der Universitätsleitung, aber auch bei den kommunalen Akteuren muss das Thema der Verknüpfung von Ausbildung, Qualifizierung und Familiengründung verankert sein. Im Grunde gilt es, bei allen Maßnahmen, bei allem, was an den Hochschulen stattfindet zu fragen, wie familienfreundlich ist unsere Hochschule im Alltag? Es müssen also wirklich "dicke Bretter" gebohrt werden, deshalb kann keine zeitliche Dimension genannt werden.

Kuther: Ein "Kulturwandel" braucht Zeichen. Dies kann schon bei kleinen Dingen, wie Wickeltischen, Spielecken und Kindermenüs in der Mensa anfangen. Natürlich benötigen wir auch umfangreichere Maßnahmen, wie flexiblere Kinderbetreuung und umfangreiche Informations- und Beratungsangebote. Jedoch stehen wir erst am Anfang, es benötigt sicherlich noch einige Jahre Zeit, bis Studieren und Forschen mit Kind vom Notfall zum Normalfall wird. Wir sind überzeugt, dass unser Modellprojekt hier einen Anstoß für andere Universitäten und lokale Bündnisse gibt, die Vereinbarkeit von Studium und Familie weiter voranzutreiben.


Uta Meier-Gräwe, Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen, 1993-1998 Bundesvorsitzende von Pro Familia, Mitglied der Sachverständigenkommission für den 7. Familienbericht der Bundesregierung, Forschungsschwerpunkte: Familien- und Genderforschung, Haushaltswissenschaften, Zeit- und Ernährungssoziologie

Dr. phil. Ulrich Kuther, geb. 1963, studierte Katholische Theologie und ist seit 2002 bei der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie in Bensheim tätig. Seit 2004 ist er innerhalb der Stiftung für die Geschäftsführung der "hessenstiftung - familie hat zukunft" bevollmächtigt.

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 12.01.2006
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