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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 27.10.2005:

"Wissen kann ich mir dann immer noch aneignen"

Ingrid Timm ist Lehrerin des Jahres und setzt auf die Vermittlung von Werten
Das Bild zum Artikel
Ingrid Timm, Lehrerin des Jahres 2005

Bildung PLUS: Sie arbeiten an der Wiesbadener Kellerskopfschule Naurod und sind kürzlich zur "Lehrerin des Jahres" gewählt worden. Ein Grund für die Jury dürfte auch gewesen sein, dass der Lehrerberuf für Sie nicht nur der Wissensvermittlung dient...

Timm: Natürlich ist Wissen wichtig, aber noch viel wichtiger ist es, den Menschen in seiner Gesamtheit zu formen. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler sollen bestimmte Werte für ihren weiteren Lebensweg lernen. Sie sollen tolerant, respektvoll und kritikfähig sein, und auch genug Rückgrat haben, um für ihre Meinungen einzustehen. Darüber hinaus versuche ich, ihnen die ein wenig in Vergessenheit geratenen Umgangsformen wie Höflichkeit und Respekt beizubringen. Ich bin überzeugt, dass in ihrem späteren Leben weniger Probleme auftreten, wenn sie diese Werte verinnerlicht haben. Wissen kann ich mir dann immer noch aneignen.

Bildung PLUS: Da schwimmen Sie ja ein bisschen gegen den Trend. Viele Lehrer kritisieren ja, dass zu viel Erziehungsarbeit in der Schule abgeladen wird. Sehen Sie das auch so?

Timm: Nein. Natürlich kann man darüber klagen, was die Schule alles können soll, aber die Entwicklung kehrt man so auch nicht um. Wenn ich meinen Beruf ernst nehme und auch mit den Schülerinnen und Schülern auskommen will, kann ich vor diesen Aufgaben nicht die Augen verschließen und sagen, das geht mich nichts an.

Bildung PLUS: Sie sind Lehrerin an einer Haupt- und Realschule. Brauchen Sie da andere Fähigkeiten als eine Gymnasiallehrerin?

Timm: Es ist schon ein gewisser Unterschied da. Dieser Unterschied liegt, wenn man mal vom Fachlichen absieht, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Viele Hauptschüler haben einfach schon zu viele frustrierende Erfahrungen in der Schule gemacht und sind in der Hauptschule an einem persönlichen Tiefpunkt angekommen. Die müssen erst einmal wieder psychologisch aufgebaut werden. Dafür wissen sie es aber auch wirklich sehr zu schätzen, wenn man sich für sie engagiert und ihnen etwas bietet - wahrscheinlich mehr als die Kinder, denen alles in den Schoß fällt.

Bildung PLUS: Besonders engagiert sind Sie in einem sehr problematischen Bereich: dem Übergang von der Schule in den Beruf. Was tun Sie denn für ihre Schülerinnen und Schüler?

Timm: Ich versuche die Schüler in Betrieben unterzubringen, die ihren Interessen entsprechen. Meistens kriegen wir es auch hin, dass die Schüler vorher mindestens zwei Praktika machen, um so Einblicke in das reale Arbeitsleben zu erhalten. Durch diese Praktika, Betriebsbesichtigungen und Gespräche bekommen sie auch die Chance, Berufe zu vergleichen, die Auswahl einzugrenzen und so einem Idealberuf näher zu kommen. Ich versuche ihnen bei der Berufswahl zu helfen, weil ein junger Mensch meiner Ansicht nach in einem Beruf, den er bewusst gewählt hat und auch gerne macht, bessere Leistungen bringt als jemand, der einfach irgendetwas macht.

Bildung PLUS: Wie hoch ist denn dann ihre Vermittlungsquote?

Timm: In meiner letzten Klasse sind alle, die eine Ausbildung anfangen wollten, untergekommen. In unserer Schule ist der Arbeitskreis Schule/Wirtschaft auch sehr aktiv und das zahlt sich aus. In unserer Freizeit treffen wir uns mit Unternehmern, schauen uns Betriebe an und wissen deshalb sehr genau, wer sucht und was gesucht wird. Wir überlegen uns dann, welcher Schüler oder welche Schülerin besonders gut in das Stellenprofil passen würde.
Wenn man Schüler mehrere Jahre lang in einer Klasse hat, dann kennt man die und weiß auch, mit welchen Berufen sie zum Beispiel nicht glücklich werden würden. Und wenn ein Praktikum nichts für sie war, ist mir das wesentlich lieber als die Vorstellung, dass sie später eine Lehre abbrechen.

Bildung PLUS: Schule kann heute nicht mehr nur innerhalb der Schulmauern stattfinden. Wie finden die zwei Welten, die draußen und die drinnen, zueinander?

Timm: Man muss Kontakte zu den Unternehmen knüpfen und Führungskräfte in die Schulen einladen, damit sie mit den Schülern sprechen, ihnen Tipps geben und eine realistische Vorstellung von der Arbeitswelt vermitteln. Aber es geht nicht nur um die Wirtschaft. Die Schülerinnen und Schüler sollen auch kulturell aktiv sein. Sie sollen mal ins Theater oder in die Oper gehen, in Museen, Bibliotheken und einfach mal draußen die Luft schnuppern, die nicht direkt mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun hat. Ich war mit meinen Schülern zum Beispiel schon mit einem Trainer in einem Fitnesscenter oder wir waren Bogenschießen. Diese Freizeitaktivitäten sind aber nicht dazu da, sie fit zu machen für das Arbeitsleben, sondern vor allem dazu, Vertrauen zu schaffen zwischen Lehrer und Schüler.

Bildung PLUS: So viel Engagement ist wahrscheinlich nicht der Standard unter deutschen Lehrerinnen und Lehrern. Inwiefern sind Sie eine Einzelkämpferin?

Timm: Ich bin bestimmt keine Einzelkämpferin. Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land, die ihrem Beruf sehr engagiert nachgehen. Die hatten halt nur nicht das Glück, so aktive Schüler zu haben, die sie für die Wahl zum "Lehrer des Jahres" vorgeschlagen haben. Es wundert mich nur ein wenig, dass ich die erste Realschullehrerin bin, die diese Auszeichnung bekommen hat. Meistens sind es ja Lehrerinnen oder Lehrer aus dem Gymnasium. Das ist eigentlich sehr schade, denn wir haben vor allem im Grundschulbereich so viele engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die leider deshalb keine Chance auf diese Auszeichnung haben, weil Grundschüler nicht unbedingt die Zeitschrift Stern lesen. Wahrscheinlich ist dies aber nicht zu ändern, weil es natürlich schon richtig ist, dass Schüler Lehrer vorschlagen sollten. Ich verstehe meine Auszeichnung deshalb stellvertretend für alle anderen engagierten Lehrerinnen und Lehrer.


Ingrid Timm ist Lehrerin für Englisch, Politik und Wirtschaft, Erdkunde sowie Geschichte an der Wiesbadener Kellerskopfschule Naurod, einer kombinierten Haupt- und Realschule. Die engagierte Lehrerin übt ihren Beruf schon seit 35 Jahren aus.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 27.10.2005
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