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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 26.09.2005:

Braucht Deutschland eine Pädagogik der Inklusion?

Von der Pädagogik der Ressourcenverschwendung zur Pädagogik der Inklusion - noch ein weiter Weg

Ordnung muss sein, heißt es. Und ein typischer Ausdruck für Ordnung in Deutschland ist das gegliederte Schulsystem und die Praxis, Kinder und Jugendliche, die auffällig sind und nicht den Erwartungen entsprechen, im Schulsystem nach unten durchzureichen. So landen Kinder mit Migrationshintergrund, Schülerinnen und Schüler mit Rechtschreibproblemen oder Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bevorzugt auf Haupt- oder auch auf Sonderschulen.

Viele sind der Auffassung, die Ordnung durch das gegliederte Schulsystem müsse sein. Doch nicht wenige Menschen sehen auch, dass Deutschland sich mit dem gegliederten System nicht nur eines der teuersten, sondern auch eines der selektivsten Schulsysteme der Welt leistet.

Im Unterschied zu anderen Ländern wird in Deutschland eher wenig "sonderpädagogischer Förderbedarf" diagnostiziert. Sind in Deutschland gerade fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen, gibt es in Ländern wie Finnland 18 Prozent und in Island rund 14 Prozent Schüler mit "sonderpädagogischem Förderbedarf". Und während die meisten dieser Kinder in Finnland im Klassenverband individuell gefördert werden, landet die Mehrheit der deutschen Kinder und Jugendlichen mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" in Sonderschulen. Die pädagogischen Einrichtungen am unteren Ende der Bildungsskala werden häufig auch "Restschulen" genannt. Kriterien für die Auslese sind, das haben die internationalen Schülerleistungsstudien wie PISA gezeigt, der soziokulturelle Hintergrund und der Migrationshintergrund, aber auch alle anderen Arten von Unterschiedlichkeit.

Unbehagen an der Vielfalt
Auslese müsste nicht sein, sie hat aber in Deutschland eine lange Tradition. Nach Andreas Hinz, Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik an der Universität Halle-Wittenberg, lassen sich hierzulande fünf Arten des Umgangs mit Unterschiedlichkeit ausmachen.

1. Unterschiedlichkeit ist unerwünscht. Andersartigkeit steht hier unter dem Verdikt des Ausschlusses. Dabei werden Kinder und Jugendliche mit bestimmten Merkmalen, die sie vom Normalmaß abheben, ausgegrenzt.

2. Absonderung oder Segregation (lateinisch: segregare - absondern). "Bei der Segregation werden alle Kinder und Jugendlichen nach bestimmten Kriterien - vorrangig nach Leistung, aber wie mit PISA nochmals bestätigt wurde, auch nach sozialem Milieu - in je eigenen Institutionen gruppiert", so Andreas Hinz. Hierbei wird die Unterschiedlichkeit der Schülerschaft nicht geleugnet, aber kanalisiert. Die Segregation erfordert ein gegliedertes Bildungssystem mit Gymnasien, Realschulen, Hauptschulen und Sonderschulen.

3. Kennzeichnend ist das Moment der Integration. Bei der integrativen Pädagogik werden Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen an allgemein bildenden Schulen unterrichtet. An diesen Schulen erhalten sie dann sonderpädagogische Unterstützung. Auch hier bleibt eine Zweiteilung bestehen, wonach es auf der einen Seite die Mehrheit der "Normalen" gibt und auf der anderen die Randgruppen. In der Praxis, weniger in der Theorie, sind die Unterschiedlichen einem "Anpassungsdruck" ausgesetzt, so Ines Boban von der Universität Halle-Wittenberg.

4. Wer Unterschiedlichkeit als Normalität erlebt, geht noch einen Schritt weiter. Da die Integrationspädagogik sich in der Praxis immer noch an der Normalität als der Richtschnur orientiert, bräuchte man, so Ines Boban und Andreas Hinz, eine Pädagogik der Inklusion. Erst für eine Pädagogik der Inklusion ist es "normal, verschieden zu sein". Und zwar systematisch auf der Ebene der Beteiligung von Schülerinnen und Schülern, der Eltern, der außerschulischen Partner, der Schulleitung und der Schulentwicklung insgesamt. Alle Merkmale der Unterschiedlichkeit (Heterogenität) wie Geschlecht, Nationalität, Sprache, soziale Schicht, Religion oder Sexualität werden in den Blick genommen. Und Menschen mit Behinderungen werden lediglich als eine von vielen Minderheiten betrachtet.

5. Die Inklusionspädagogik fließt zu einer allgemeinen Pädagogik zusammen. Die Pädagogik der Inklusion ist vor allem in skandinavischen und angelsächsischen Ländern stärker verankert. Doch sie breitet sich auch in Indien, Südafrika, Vietnam aus.

Die Unterschiedlichkeit erforschen
Wer meint, von inklusiver Pädagogik sich nicht mehr anregen lassen zu können, sollte sich die Zeit nehmen, diese Fragen zu beantworten: Werden neue Schüler und Mitarbeiter durch Rituale willkommen geheißen? Wird die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler als Last oder als Chance für das Lernen empfunden? Wird der Unterricht auf die Vielfalt der Schüler hin geplant? Fühlen sich die Schülerinnen und Schüler als Eigentümer ihres Klassenraums? Ist das Schulgebäude barrierefrei?

Vielleicht klingen manche dieser Fragen ungewohnt. Dann könnte das ein Fingerzeig dafür sein, dass der "Index für Inklusion: Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt" eine Bereicherung darstellen könnte. Dabei handelt es sich keineswegs um einen Index verbotener pädagogischer Literatur, wie der Titel "Index" vermuten lassen könnte, sondern vielmehr um ein Material, das Tony Booth und Mel Ainscow in Großbritannien in dreijähriger Zusammenarbeit mit Lehrkräften, Eltern, Schulleitern, Pädagogen und Vertretern von Behinderteneinrichtungen entwickelt haben. Es ist in 20 Sprachen übersetzt und wurde von den Integrationspädagogen Ines Boban und Andreas Hinz ins Deutsche übertragen. Der Index für Inklusion ist mehr als eine Sammlung von Fragenkatalogen zu inklusiver Schulentwicklung. Vielmehr enthält er Schlüsselkonzepte und Methoden, um sich auf den Weg zu einer "Schule für alle" zu machen - einer Schule ohne Lernhindernisse und Barrieren.

Auch in Deutschland ist der Index für Inklusion keine graue Theorie mehr. Bei der Entwicklung von Ganztagsschulen in Sachsen-Anhalt spielt der Index für Inklusion eine große Rolle. Das Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt hat das Zentrum für Schulforschung der Universität Halle-Wittenberg beauftragt, das Ganztagsschulprogramm zu begleiten und zu evaluieren. Die Forscher werden bis zu zehn Ganztagsschulen dabei unterstützen, eine andere Haltung zur Unterschiedlichkeit von Kindern und Jugendlichen einzunehmen. Die Schulqualität wird dabei auch aus Schülersicht näher beleuchtet.

Als eine der ersten Schulen hat die Integrierte Gesamtschule Köln-Holweide den Versuch unternommen, mit dem Index eine Schulentwicklung der inklusiven Art zu beschreiten. Weil die Schülerschaft der Gesamtschule sich in der Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Schule weder durch das Kollegium noch durch die Schülervertretung repräsentiert sah, beschloss sie, die Stimmung in der Schule selbst zu erkunden. Hierzu hat sie in Zusammenarbeit mit der Universität einen Fragebogen zum gemeinsamen Unterricht und zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erarbeitet. Ein Ergebnis der Befragung war: Schülerinnen und Schüler lernen in Integrationsklassen mehr als in Regelklassen.

"Vielfalt ist keine Last, sondern eine Chance"
Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat das Feld der Inklusion für sich entdeckt. "Wir brauchen einen Perspektivwechsel, der über die Integration hinausgeht", begründet Marianne Demmer das Engagement der GEW. In einer Zeit des demografischen Wandels gehe es darum, jedem Kind zu seinem "höchstmöglichen Entwicklungspotenzial" zu verhelfen. Denn wenn weniger Kinder geboren werden, muss die Wissensgesellschaft schon im eigenen Interesse dafür sorgen, dass diese bestmöglich qualifiziert werden. Der pädagogische Ansatz der Inklusion trage dazu bei, dass Kinder und Jugendliche beim Marsch durch die Bildungseinrichtungen nicht entmutigt würden.
Im kommenden Jahr möchte die GEW erste Module für inklusive Pädagogik in der Lehrerbildung vorstellen. Dies wird flankiert durch die Ausbildung von Moderatorinnen und Moderatoren, je ein bis drei pro Land, die Lehramtskandidaten für die Herausforderungen inklusiver Pädagogik öffnen sollen.

Die Pädagogik der Inklusion kann in allen Schulformen sinnvoll eingesetzt werden. Einen günstigen Rahmen für sie bieten Ganztagsschulen. Auch beim Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) kann der Inklusionsansatz nützlich sein. In der Wirtschaft ist der Umgang mit Vielfalt allerdings schon viel selbstverständlicher als an Schulen. Indem Unternehmen die Unterschiedlichkeit der Personals durch Diversity-Managements gezielt einsetzen, entdecken sie: "Vielfalt ist keine Last, sondern eine Chance", so Ines Boban.

Abnehmende Schülerzahlen, Schule im permanenten Wandel, alternde Gesellschaft, Migrationsströme, Europa, Globalisierung - der Pädagogik der Teilhabe in der Schule der Vielfalt könnte die Zukunft gehören.

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 26.09.2005
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