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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 18.08.2005:

"Da geht ein riesiges Potenzial verloren"

Praktikum ist nach wie vor die Speerspitze der Berufsorientierung

Bildung PLUS: Welche Rolle spielen Schülerbetriebspraktika in der Berufsorientierung?

Bergzog: Eine sehr wichtige Rolle, denn 32 Prozent der Jugendlichen gaben bei unserer Studie "Beruf fängt in der Schule an" an, dass das Praktikum bei der Entscheidung für den Berufswunsch ausschlaggebend ist. Damit ist der Einfluss des Praktikums höher als der Einfluss von Eltern, Lehrern und dem Arbeitsamt. Gerade der Einfluss der Lehrerinnen und Lehrer und der Bundesagentur für Arbeit ist überraschend gering. Das lässt den Schluss zu, dass die Schülerinnen und Schüler so nicht nachhaltig erreicht werden können, ihnen der Einfluss zumindest nicht bewusst ist.

Bildung PLUS: Warum klappt es über die klassischen Kanäle nicht?

Bergzog: Der Zeitpunkt ist entscheidend. Oft setzen die Maßnahmen zur Berufsorientierung viel zu spät ein. Die letzten beiden Schuljahre sind definitiv zu spät. Man kann schon früher spielerisch mit dem Thema Arbeitswelt einsteigen. Zudem ist das Angebot oft unattraktiv für die Jugendlichen. Nehmen wir mal als Beispiel das Berufsinformationszentrum, das als erste Anlaufstelle für alle Schülerinnen und Schüler gilt. Nach einem ersten Besuch gehen aber nur noch 25 Prozent der Jugendlichen freiwillig ein zweites Mal dahin. Das spricht dann schon für sich. Es ist ja auch verständlich: Da steht man dann vor einem Berg von Aktenordnern und Computern. Das hilft aber wenig, wenn man nicht weiß, wonach und wie man suchen soll. Die Jugendlichen sind mit der Fülle der Informationen ohne Betreuung überfordert.

Bildung PLUS: Nimmt die Berufsorientierung in allen Schulformen den gleichen Stellenwert ein?

Bergzog: Nein. Die Sensibilität ist an Hauptschulen am größten. Hauptschulen bieten auch die meisten Praktika an. Man kann sagen, dass der schulische Stellenwert von Berufsorientierung insgesamt aufsteigend zum Gymnasium abnimmt. Je schwieriger der Arbeitsmarkt wird, desto wichtiger ist die Orientierung - auch für Gymnasiasten. Doch bei der Frage nach Interessen, Neigungen und Orientierung, darf nicht vergessen werden, dass auch Sekundärtugenden wie Ausdauer, Beharrlichkeit und Sozialverhalten gefördert werden müssen. Denn das sind Kriterien, auf die auch die Unternehmen Wert legen. Es ist ja nicht nur so, dass es keine Lehrstellen gibt, sondern viele Stellen werden nicht vergeben, weil anscheinend qualifizierte Bewerber fehlen.

Bildung PLUS: Auch die Ausbildungsabbrecher tragen sicher nicht zu einem Vertrauensbonus bei den Unternehmen bei...

Bergzog: Tatsächlich werden Lehrstellen mittlerweile oft nicht mehr besetzt, weil Jugendliche zuvor diese Ausbildung abgebrochen haben und kleinere Unternehmen deshalb entnervt aufgeben. Das Ganze kostet ja Zeit und Geld. Ein Drittel der kleinen Unternehmen, die Erfahrungen mit Abbrechern haben, bilden laut einer Emnid-Umfrage nicht mehr aus. Da geht ein großes Potenzial verloren.

Bildung PLUS: Was sind die Gründe dafür, dass Jugendliche ihre Ausbildung abbrechen?

Bergzog: Ein wichtiger Grund liegt im Sozialverhalten. Es sind Konflikte zwischen Ausbildern und Auszubildenden, die oft auch daraus resultieren können, dass die Jugendlichen schlicht und ergreifend falsche Vorstellungen von ihrem Beruf haben. Wenn die Ausbildung keinen Spaß macht, weil man sie sich anders vorgestellt hatte, können Konflikte mit dem Ausbildungsbetrieb vorprogrammiert sein.

Bildung PLUS: Kann man sagen, dass Jugendliche, die ein Praktikum absolviert haben, ihre Lehre eher durchziehen?

Bergzog: Da gibt es zwar keine Untersuchung, aber die Vermittlungsquote ist bei Hauptschulabgängern da höher, wo mehrere, systematisch aufeinander aufbauende Praktika absolviert wurden. Darüber hinaus lässt sich bei unserer Schulabgängerbefragung tatsächlich ablesen, dass es eine hohe Übereinstimmung zwischen Praktikum und dem späteren Ausbildungsberuf gibt.

Bildung PLUS: Wie sprechen sich Schulen und Unternehmen ab?

Bergzog: Die Kommunikation ist ein ganz großes Problem. Nur ein Viertel der Betriebe und Schulen kommunizieren außerhalb der Praktikumszeit. Aber wir wissen, dass dort, wo eine kontinuierliche Kommunikation stattfindet, die Praktika auch strukturierter ablaufen.
Ein zweites Kommunikationsproblem besteht darin, dass die Schulen untereinander kaum kommunizieren. Lehrer sind zum größten Teil Autodidakten, weil es die Berufsorientierung als Studienfach so gut wie nicht gibt. Diese Lehrer müssen an ihrer Schule dann das Rad neu erfinden. Da geht sehr viel Wissen verloren.

Bildung PLUS: Da scheint es ja einigen Nachholbedarf zu geben, denn von einheitlichen Standards zur Berufsorientierung sind wir weit entfernt. Wie würde denn aus Ihrer Sicht eine optimale Berufsorientierung aussehen?

Bergzog: Die wichtigste Säule als Einzelmaßnahme ist und bleibt das Praktikum. Davor müssten aber Eignungs- und Neigungstests, Betriebserkundungen und vieles mehr durchgeführt werden, denn das Praktikum darf keine isolierte Maßnahme sein. Talente, Neigungen und Interessen müssen so früh wie möglich erkundet werden, um dann in einer gezielten, regelmäßigen Kooperation mit der Berufsberatung die passenden Berufsbilder zu finden. Auch beim Praktikum selbst müsste sich einiges ändern: Zum Beispiel sollten die Jugendlichen für ein Praktikum auch eine Bewerbungsmappe einreichen, denn dieses Wissen werden sie später bei der Suche nach einem Arbeitsplatz brauchen. Ein Telefonanruf, wie es bei der Suche nach einem Praktikumsplatz oft geschieht, reicht da eben nicht aus. Praktika müssen professioneller ablaufen - vorher und nachher. Ein ganz großes Manko ist die Nachbereitung - die findet praktisch nicht statt. Der Jugendliche erzählt ein wenig, was er gemacht hat, und das war es dann oft schon.

Bildung PLUS: Die Frage ist, wo eigentlich die richtige Mischung bei den Praktika liegt. Lieber ein Praktikum oder so viele wie möglich?

Bergzog: Der Sinn eines Praktikums kann nicht darin liegen, einen von 350 Ausbildungsberufen auszuschließen. Die optimale Lösung ist es, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht nur ein Praktikum absolvieren, sondern mehrere, die systematisch in den letzten beiden Schuljahren aufeinander aufbauen. Es gibt Schulen, die vier oder fünf Praktika anbieten. Andere Schulen wehren sich dagegen, weil ihnen damit viel Zeit für den Unterricht verloren geht. Doch die Schulen, die massiv auf Praktika setzen, haben sehr gute Erfahrungen gemacht: In Hauptschulen gibt es viele schulmüde Kinder, die dann im Praktikum aufblühen und deutlich motivierter sind. Das hätte der Unterricht wahrscheinlich nicht geschafft. Dabei gehen diese Schulen sehr effizient vor. Manchmal ist das letzte Praktikum schon eine Anbahnung eines Ausbildungsplatzes, zum Beispiel in Form eines Langzeitpraktikums einmal die Woche. Da haben auch die Schülerinnen und Schüler Chancen, die keine ganz so guten Noten haben. Das letzte Praktikum muss einen Bestätigungscharakter und keinen Orientierungscharakter haben.

Thomas Bergzog vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ist zuständig für Bildungsverhalten, Bildungsverläufe und Zielgruppenanalysen. Außerdem ist er Projektleiter der Studie "Beruf fängt in der Schule an", in der die Bedeutung des Schülerbetriebspraktikums untersucht wurde.

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 18.08.2005
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