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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 11.08.2005:

Wissen, wo man steht

Die Berufsorientierung befreit sich von ihrem verstaubten Image

Nicht die Bildung, sondern die Orientierung fehlt: Ein Viertel aller Studierenden und fast genauso viele Auszubildende, vor allem im Handwerk, brechen ihr Studium oder ihren Ausbildungsvertrag vorzeitig ab. Der Grund: Die berufliche oder universitäre Realität hat oft nichts gemein mit den Vorstellungen der Jugendlichen. Auch das Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen ist oft nicht besonders ausgeprägt. Das Pflichtpraktikum und der Besuch im Berufsinformationszentrum können dieses schiefe Bild häufig nicht korrigieren.

Eine der wichtigsten Säulen in der Berufsorientierung ist nach wie vor die Berufsberatung. Die Kritik, sie sei uneffektiv und verstaubt, kann zwar auf prominente Unterstützung in Form der OECD bauen, doch es gibt auch Grund zur Hoffnung. In einer Studie aus dem Jahr 2002 bemängeln die OECD-Autoren, dass die deutschen Berufsberater keinen Wert auf individuelle Beratung legen würden. Bei der Berufsberatung dürften nicht nur Berufsbilder vorgestellt, sondern sollten auch persönliche Wahlmöglichkeiten aufgezeigt werden. Nun kann die Berufsberatung aber nicht ganz so schlecht sein, wenn 70 Prozent der Hauptschülerinnen und Hauptschüler einer Studie der Humboldt-Universität Berlin aus dem Jahr 2003 zufolge die Gespräche mit den Berufsberatern als "nützlich" einstuften. Thomas Bergzog vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) kann sich auch in die schwierige Lage der Berufsberater versetzen: "Da kommen oft Jugendliche zur Beratung, die überhaupt nicht wissen, was sie machen wollen. Überspitzt formuliert kann man sagen dass das für Berufsberater, die teilweise sehr viele Jugendliche zu betreuen haben, zum Stochern im Nebel werden kann." 

Nach wie vor eine wichtige Weichenstellung: Das Schülerbetriebspraktikum
"Beruf fängt in der Schule an" ist der Titel einer Studie des BIBB, die Thomas Bergzog als Projektleiter betreut hat. Hauptdarsteller in dieser Studie ist das Schülerbetriebpraktikum. Dieses ist nach wie vor die zweite wichtige Weichenstellung für das spätere Berufsleben von Jugendlichen. Fast jeder Schüler absolviert zumindest ein Praktikum in seiner Schullaufbahn und neun von zehn Ausbildungsbetrieben bieten Praktikumsplätze an. Dabei treibt die Unternehmen nicht der gesellschaftliche Gemeinsinn an, sondern die effektive Rekrutierung von Nachwuchskräften. Und entgegen der landläufigen Meinung, Praktikanten würden nur Geld, Zeit und Nerven kosten, sind 90 Prozent der Unternehmen mit ihren Praktikanten im Großen und Ganzen zufrieden. Allerdings vermissen sie Pflichtbewusstsein und Eigeninitiative bei den Schülern, die oftmals ihre Eltern bei der Suche nach Praktikumsplätzen vorschicken. Auch die Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf das Praktikum halten ein Viertel der Unternehmen für nicht besonders gut. Aber nicht nur die Praktikanten müssen gut vorbereitet sein, das Gesamtpaket Praktikum muss systematisch geschnürt sein. Thomas Bergzog weist darauf hin, dass der Erfolg für beide Seiten nicht nur vom Praktikum selbst, sondern auch von der Vorbereitung und der Nachbearbeitung abhänge. Einfach mal so reinschnuppern, gehöre definitiv der Vergangenheit an, so der Experte Bergzog. Doch kaum ein Unternehmen und kaum eine Schule hält den Kontakt außerhalb der Praktikumszeit aufrecht. Je größer die Betriebe, desto systematischer die Praktika. Bei kleineren Betrieben bestimmt oft das jeweilige Arbeitsaufkommen die Art der Tätigkeit von Praktikanten. "Natürlich gibt es auch schwarze Schafe, aber diejenigen, die ihre Praktikanten drei Wochen lang Kaffee kochen oder den Hof fegen lassen, sind ganz klar die Ausnahme", meint Thomas Bergzog.

So wichtig die Praktika für den Berufsweg auch sein mögen, die Orientierung müsste viel früher einsetzen. Ein Praktikum könnte viel wirkungsvoller sein, wenn es bewusst und nicht nach Lust und Laune gewählt würde. In der Studie der Humboldt-Universität wünschten sich 70 Prozent der befragten Hauptschülerinnen und Hauptschüler einen Berufstest vor der Berufsberatung, damit sie wissen, wo sie stehen. Doch nur ein Drittel hatte die Chance dazu.

Kompetenztests loten die individuellen Stärken und Schwächen aus
Diese Kompetenz- oder Berufseignungstests sind zwar auch in deutschen Schulen keine Seltenheit mehr, aber in den Genuss kommen immer noch die wenigsten. Das geva-Institut (Gesellschaft für Verhaltensanalyse und Evaluation mbH München) bietet seit zwei Jahren in Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur München, der IHK und der Handwerkskammer für München und Oberbayern den Test "Berufsstart mit Profil" an. Der Berufseignungstest, für Gymnasiasten drei Stunden und Hauptschüler eineinhalb Stunden lang, lotet die individuellen Stärken und Schwächen der Teilnehmer aus. Auch die so genannten "soft skills" wie Verantwortung, soziale Kompetenz und Teamgeist fließen in die Bewertung mit ein. Das individuelle Profil gibt es dann schwarz auf weiß - inklusive der Vorschläge für die berufliche Zukunft. Diese Anregungen benötigen einige Schüler auch dringend, "weil auf diese Art so manche Enttäuschung verhindert wird, denn Wunschdenken und Realität liegen manchmal sehr weit auseinander", erklärt Sabine Bieber vom geva-Institut. Für die Berufseignungstests, die es in verschiedenen Versionen gibt, melden sich sowohl Schulklassen als auch Einzelpersonen an. Vor allem an den Schulen ist das Interesse an dem Test sehr groß. Das liegt auch daran, so vermutet Sabine Bieber, dass der Druck auf die Schulen, sie sollten mehr Jugendlichen den Start ins Berufsleben ermöglichen, wächst.

Das Persönlichkeitsprofil ist nicht nur ein Kompass für die Berufswahl an sich, sondern hat noch andere Vorteile: Es kann eine Bewerbung mit Leben füllen. Tatsächlich haben sich schon mehrere Personalchefs bei Sabine Bieber bedankt, dass sie neben den konturlosen Schulnoten mit dem Persönlichkeitsprofil aussagekräftige Anhaltspunkte für ihre Entscheidung finden. Auch die Arbeitsagentur München hat die Erfahrung gemacht, dass die Teilnehmer der Tests bei Beratungsgesprächen selbstbewusster und zielorientierter auftreten. Die Initiative hat für die Zukunft ambitionierte Ziele: So sollen Sponsoren aus der Wirtschaft die Test-Gebühren für ganze Schulklassen übernehmen und Unternehmen, die freie Ausbildungsplätze melden, sollen via Datenbank gleich die maßgeschneiderten Kandidaten vorgestellt bekommen. Doch noch reagieren viele Unternehmen etwas verhalten auf die neuen Kooperationsangebote.

Unternehmer springen als Mentoren in die Bresche
Doch genau in dieser Verzahnung von Schule und Wirtschaft sowie der besseren Abstimmung zwischen Praktika und Kompetenztests wird die Zukunft der Berufsorientierung liegen. Ein Blick dorthin, wo man schon einen Schritt weiter ist: Im Berliner Netzwerk Hauptschulen, das sich an einem Hamburger Modell orientiert, befinden sich unter anderem so namhafte Unternehmen wie Ikea, Daimler-Chrysler, BMW Motorrad Werk Berlin oder AEG-Signum. Diese stehen Hauptschülern mit Rat und Tat zur Seite. Erst einmal werden in einem ersten Schritt die Teilnehmer in punkto Interessen und Fähigkeiten auf Herz und Nieren geprüft und darauf aufbauend potenzielle Berufsfelder erarbeitet. Die beteiligten Unternehmen übernehmen dann die Rolle der Mentoren, geben Tipps und besorgen eventuell Praktikumsplätze. Über zehn Prozent der insgesamt 116 Teilnehmer haben durch diese Intensivbetreuung einen Ausbildungsvertrag bekommen. "Auch bei den Unternehmen verschwinden durch das Projekt Vorurteile, denn viele Unternehmen wollen ja kaum noch Hauptschüler. Nun können die Schülerinnen und Schüler im direkten Umgang zeigen, was sie drauf haben", meint Siegfried Arnz, früher selbst Schulleiter einer Hauptschule und nun Leiter des Modellvorhabens Eigenverantwortliche Schule bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport in Berlin.


Ein Blick nach Hamburg. Dort setzt das Projekt "KomPro & Lernen" genau an der Schnittstelle ein, an der die Schule selbst noch Dellen in dem Kompetenz-Portfolio der Schülerinnen und Schüler ausbeulen kann.  In der Gemeinschaftsaktion des Landesbetriebs für Erziehung und Berufsbildung und der Behörde für Bildung und Sport in Hamburg gibt es seit dem vergangenen Schuljahr in 33 Klassen von Haupt- und Gesamtschulen einen so genannten Berufswahlpass für Schülerinnen und Schüler. Nach einem Kompetenzfeststellungsverfahren erhalten die Schülerinnen und Schüler einen individuellen Lernplan, mit dem sie in den letzten zwei Schuljahren ihre Defizite ausgleichen können. So übernehmen sie selbst Verantwortung für das eigene Lernen und den eigenen Bildungsweg.
Systematische Praktika, die auf Kompetenztests aufbauen, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft und individuelle Lernpläne - noch sind es nur Experimente, Modellprojekte und regionale Ansätze. Doch die Berufsorientierung scheint ihr Schattendasein aufzugeben und sich auf den richtigen Weg zu machen. 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 11.08.2005
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