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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 06.09.2004:

Freundliche Überwachung

Schul-TÜV aus Schleswig-Holstein macht Schule

Wer sein Auto lieb hat, verliert mitunter den ungetrübten Blick auf die Verkehrsicherheit seines Vehikels. Wer täglich in die Schule geht, dem geht es ähnlich wie dem Autobesitzer, ob er die Schule mag oder nicht: der unverfälschte Blick fehlt. Einen objektiveren Blick auf die Schulwirklichkeit vor Ort verspricht sich Schleswig-Holstein vom Schul-TÜV, dem ersten in Deutschland. Mit ihm sollen die Schulen freundlich überwacht werden.  

Vom Schuljahr 2003/2004 an führt Schleswig-Holstein landesweit Qualitätstests für die Praxis von Schulen durch - von Ratzeburg bis Flensburg, Friedrichstadt bis Kiel. In der Öffentlichkeit sind die Qualitätstests besser bekannt als "Schul-TÜV". Jährlich werden 160 Schulen im nördlichsten Land einer Untersuchung unterzogen. Über 40 Expertenteams machen sich im Zeitraum von sechs Jahren auf den Weg, alle 1000 Schulen in Schleswig-Holstein zu bewerten. "Schleswig-Holstein ist das einzige Land, das den Schul-TÜV flächendeckend eingeführt hat, sagt Jens Oldenburg, Pressereferent im Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur.

Einzelne Schule im Brennpunkt

Doch eigentlich heißt der Schul-TÜV nicht "Schul-TÜV", sondern "Externe Evaluation im Team" (EVIT). Damit signalisiert Schleswig-Holstein: Schulen sind keine technische Gebilde, sondern lebendige Organisationen. Viele Lehrerinnen und Lehrer bekommen Bauchschmerzen, wenn statt vom Qualitätstest vom "Schul-TÜV" gesprochen wird. Es geht um Menschen, nicht um Maschinen. Trotzdem hat sich diese Bezeichnung durchgesetzt. 

Eine Parallele zum Auto gibt es denn doch: Auto steht für Unabhängigkeit und Beweglichkeit. Und da die Schulen in Schleswig-Holstein eigenständiger werden und selbst mehr ihren Weg bestimmen sollen, erscheint dem Kultusministerium eine Überwachung der neuen Selbstständigkeit unerlässlich. Anders als die großen Schulleistungsuntersuchungen wie PISA und IGLU, deren Ergebnisse Konsequenzen für das gesamte deutsche Schulsystem anregen, konzentriert sich EVIT auf die einzelne Schule mit ihrem Schulprogramm.

Professionelles Feedback
EVIT schließt eine Lücke, die entsteht, wenn Schulen sich nur auf die Rückmeldung internationaler Schulleistungsstudien wie PISA oder IGLU verlassen würden. Schulen brauchen "direkte Rückmeldungen zum Erfolg der eigenen Arbeit". Das hat Schleswig-Holstein vom Ausland gelernt, von Ländern, die bei PISA gut abgeschnitten haben.

Mehrere Wochen vor Besuch eines EVIT-Teams haben die Schulen Zeit, sich darauf vorzubereiten, dass ihre Schule auf "Herz und Nieren" geprüft wird. Anhand von Fragebögen für Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern durchleuchten die Besucher, wie die Schule arbeitet. Sie bleiben zwei bis drei Tage lang, nachdem sie zuvor für die Durchführung des Qualitätstests geschult wurden. Schulen werden per Losverfahren ausgewählt oder sie melden sich von sich aus bei der Schulaufsicht. Primus inter pares ist der Vertreter der Schulaufsicht. Vor Ort arbeiten alle Qualitätsexperten allerdings gleichberechtigt.

"Kritische Freunde" für selbstständigere Schulen
Viele Fragen von EVIT zielen auf die Zusammenarbeit zwischen den am Schulleben beteiligten Personen: "Meine Lehrerinnen und Lehrer ... haben mit uns bestimmte Regeln vereinbart, wie wir miteinander umgehen", "...legen viel Wert darauf, dass wir fair miteinander umgehen", "...unterstützen uns, wenn wir an der Schule eine Veranstaltung durchführen wollen". Lehrer als Einzelkämpfer bringen keine Schule voran, dieser Grundsatz schält sich heraus, wenn man die Fragen liest, auf die Schüler, Lehrer und Eltern antworten sollen. EVIT geht von einem Verständnis von Schule aus, dass erfolgreicher Unterricht und gute Schulkultur die Zusammenarbeit von allen den Menschen voraussetzt, die am Schulleben teilnehmen, also Schülern, Lehrern Eltern. Vielfältige Kontakte und nicht Kontaktarmut bringen Schulen voran. 

"Durch die Organisation der Verfahrensabläufe wird deutlich, dass EVIT die Qualität der Arbeit einer einzelnen Schule evaluiert, aber nicht darauf abzielt, die Arbeit von einzelnen Lehrkräften, Schülerinnen, Schülern oder Eltern zu bewerten" - heißt es im Handbuch zu EVIT. Die Experten sind so etwas wie "kritische Freunde". Thomas Riecke-Baulecke, Leiter des IQSH, hofft dass EVIT eine positive Wirkung auf die Schulen ausübt, nämlich "Stärken selbst bewusst darzustellen und Probleme nicht als Versagen, sondern als Herausforderung zu sehen". Der Schul-TÜV ist nicht darauf angelegt, dass offene Rechnungen zwischen Schülern und Lehrern beglichen werden. "Es geht nicht darum, einzelne Lehrer an den Pranger zu stellen", sagt auch Jens Oldenburg. 

Interne Evaluation oder externe Evaluation?
Zum EVIT-Team gehören Vertreter der Schulaufsicht, des Instituts für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein (IQSH) und Rektoren einer ähnlichen Schule. Durch die drei Professionen will Schleswig-Holstein die "Akzeptanz" des Qualitätstests bei den Schulen erhöhen. Darüber hinaus kommt es durch den Erfahrungsschatz dreier Professionen zu einer "mehrperspektivischen Sicht" auf die Schulen, etwa durch die Fähigkeit, den Unterricht systematisch zu beobachten.  

Im Unterschied zur internen Evaluation, die die Schule in Eigenregie durchführt, hat externe Evaluation den Vorteil, dass sie die Schulleitung organisatorisch entlastet. Externe Evaluationsteams haben bessere Vergleichsmöglichkeiten, um die Qualität der schulischen Arbeit zu beurteilen. Die professionell geschulten Schulinspektoren sind unabhängiger als ein Evaluationsteam aus den Reihen des Kollegiums. Andererseits wissen Lehrkräfte im Zuge einer internen Evaluation meistens besser, wo es in der Schule "klemmt". Die Motivation, an einer schulinternen Evaluation teilzunehmen, könnte höher sein, wenn der Qualitätstest nicht "von oben" verordnet wird. Auch kann die Schule die Verantwortung für Verbesserung der Qualität der schulischen Arbeit nicht an eine andere Instanz abtreten. Doch interne und externe Evaluation schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich, wenn sie sinnvoll aufeinander abgestimmt sind.  

Von Luftschlössern und schwierigen Schulen
Der Landeselternbeirat in Schleswig-Holstein vertritt die Auffassung, dass der Schul-TÜV nicht viel bringe, sofern er nicht verbindlich sei. "Schul-TÜV und Verlässliche Grundschulzeiten: Luftschlösser der Ministerin", sagt Heike Franzen, Vorsitzende des Landeselternbeirates für Grund-, Haupt- und Sonderschulen in Schleswig-Holstein zum Vorhaben der Kultusministerin Ute Erdsiek-Rave. Sie zweifelt daran, dass "beratungsresistente Schulen" aufgrund von Empfehlungen der EVIT-Teams Missstände abbauen. Daher setzt sie auf "verpflichtende Maßnahmen" um die Qualität der Schulen und des Unterrichts zu verbessern: eine etwas weniger freundliche Form der Überwachung. Mit ihrer Kontrollfreudigkeit entfernt sich Franzen allerdings vom Geist der Anerkennung, der die PISA-Gewinner auszeichnet.  

Vielleicht übersieht sie, dass das Team immer auch aus Vertretern der Schulaufsicht besteht, die den Prozess der Schulentwicklung nach der Befragung begleiten. Für das Kultusministerium Schleswig-Holsteins stellt der Qualitätstest durch EVIT eine "Weiterentwicklung der Arbeit der Schulaufsicht" dar. Dabei wird die Funktion der Schulaufsicht insofern erweitert, als sie die Ergebnisse der Einzelschule für die Schulberatung gezielt einsetzen kann - ohne erhobenem Zeigefinger.

Keine Einheitsschablone

Könnte beim Besuch der Prüfer in den Schulen eine gute Unterrichtskultur nicht einfach vorgegaukelt werden? Kommt es nicht dazu, dass sich Schulen für den Schul-TÜV eigens liften und schön machen? Jens Oldenburg zufolge nicht. Während des Schul-TÜVs gibt es in den Schulkonferenzen intensive Diskussionen über die Unterrichtskultur. Dabei treten auch unbequeme Wahrheiten ans Licht. Und Oldenburg zweifelt nicht an die Professionalität der EVIT-Experten: "Profis wissen genau, ob der Unterricht vorgespiegelt ist, Unterrichtskultur kann man nicht künstlich herstellen".  

Der Schul-TÜV läuft nicht darauf hinaus, eine Schule nach einem Idealbild zu verwirklichen, denn für "wirksame Schulen gibt es ebenso wie für wirksamen Unterricht keine Einheitsschablone", so steht es im Qualitätshandbuch. Schleswig-Holstein will eine vielfältige Schullandschaft fördern, keine Landschaft mit Einheitsschulen. 

Wie geht es weiter?
Das Ergebnis der Befragungen sind Empfehlungen in Form eines Berichts. Nachdem der Bericht in einer Schulkonferenz ausgewertet wird, können die Empfehlungen dann umgesetzt werden. Nach fünf bis sechs Jahren werden die Schulen des Landes erneut dem Schul-TÜV unterzogen. Doch was passiert in der Zeit dazwischen?

Tatsache ist, dass der Schul-TÜV in ganz Deutschland Schule macht. Die Türen der Klassenzimmer werden endlich geöffnet - für die Qualitätsexperten, die Schulkonferenzen, die Eltern, eben für eine kleine Öffentlichkeit, die Schulöffentlichkeit. Der Traum vieler Schülerinnen und Schüler wird wahr: "Prüf den Prüfer". Und die Lehrer könnten vom Schül-TÜV lernen, dass man prüfen kann, ohne Angst zu verbreiten. Doch am Ende wird sich das Land fragen lassen müssen: Welche konkrete Unterstützung über das Messen hinaus hat es den Schulen anzubieten?

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 06.09.2004
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