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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 29.07.2004:

Das Gute im Bösen

Anlässlich der 60. Wiederkehr des Attentats auf Hitler fand in der Frankfurter Paulskirche eine gelungene Gedenkveranstaltung für Schulen statt.

"Wie siehst Du denn aus?!", schallte es Emil Mangelsdorff entgegen als er der Gestapo in die Klauen gefallen war. Mangelsdorffs Vergehen: Er gehörte der Swing-Bewegung in Frankfurt an, hatte lange Haare und spielte außerdem diese "Negermusik" aus Amerika. Emil Mangelsdorff liebte schon als Zehnjähriger die ungewöhnlichen Klänge aus Louis Armstrongs Trompete. Der Gestapo-Mann ließ nicht locker: "Nun sag schon, wie euer Club heißt". Gemeint waren die "Swingjugendlichen", denen der junge Mangelsdorff zugerechnet wurde. "Ein ungeheures Gefühl der Ohnmacht" beschlich den Frankfurter Saxophonisten. Es folgte eine Art Strafexpedition zur "Wehrertüchtigung ins Lager" und die Abkommandierung an die Ostfront. Emil Mangelsdorff überlebte.

20. Juli 1944 - 13. Juli 2004
Nun, über 60 Jahre später, spielte er am 13. Juli 2004 in der Paulskirche erneut diese Klänge, die den Körper in Schwingungen versetzen. Im Publikum - darunter mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler aus ganz Hessen - ernste und konzentrierte Gesichter. "Was bedeutet uns der Widerstand gegen den Nationalsozialismus heute?" Unter dieser Fragestellung fand am 13. Juli eine Gedenkfeier für Schulen in der Frankfurter Paulskirche und die Preisverleihung im Rahmen des gleichnamigen hessenweiten Wettbewerbs von "Jugend debattiert" statt. Udo Corts, hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst, sowie Dr. Michael Endres, der Vorstandsvorsitzende der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, nahmen den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 auf Hitler zum Anlass für die Gedenkfeier mit Dr. Clarita von Trott zu Solz, Witwe von Adam von Trott zu Solz und dem als "Swingjugendlichen" verfolgten Emil Mangelsdorff. Dr. Klaus von Dohnanyi, der ehemalige regierende Bürgermeister von Hamburg und Sohn des hingerichteten Widerständlers Hans von Dohnanyi, musste krankheitsbedingt der Veranstaltung fernbleiben.

"Wie können wir an die 60. Wiederkehr des 20. Juli 1944 erinnern? Können wir uns vorstellen, ins Gefängnis gesperrt zu werden, nur weil man einen anderen Musikgeschmack hat als die Regierung? Was heißt das überhaupt, Widerstand leisten? Was hieß es damals? Was kann es heute für uns heißen?", fragte Wissenschaftsminister Udo Corts insbesondere das junge Publikum. Es gehe vor allem darum, junge Menschen zum Nachdenken über die Vorbilder des Widerstands anzuregen. Die lichtdurchflutete Paulskirche - bekannt als Wiege der deutschen Demokratie und Ort der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels - war bis auf den letzten Platz besetzt. Keine Spuren von Langeweile auf den Gesichtern der Schülerinnen und Schülern, vielmehr gespannte Aufmerksamkeit.

"Swingheini" trotzt Gestapo
"Die politische Dimension des Widerstands war nicht die Wichtigste", erläuterte Dr. Michael Endres von der Hertie-Stiftung seine Sicht des 20. Juli. Der deutsche Widerstand sei schwach organisiert gewesen: "Wichtig ist die moralisch-sittliche Dimension". Beeindruckt zeigte er sich von der "sehr leidenschaftlichen Beziehung" der Verschwörer vom 20. Juli 1944 zum Gemeinwesen. Endres war wie Wissenschaftsminister Udo Corts erfreut über "das große Echo", das der hessenweite Wettbewerb "Jugend debattiert: Was bedeutet uns der Widerstand gegen den Nationalsozialismus heute?" hervorgerufen hat. 

Wie ist es möglich, dass Menschen in Unrechtsregimen Widerstand leisten und dafür ihr Leben riskieren? Eine erste Antwort darauf gab Emil Mangelsdorff. Als einer der wenigen noch heute lebenden Zeitzeugen und Widerständler im Nationalsozialismus erinnerte er daran, wie ihm "eine Musik, die keine deutsche war, ans Herz gewachsen war". Für diese Musik, die seine Sinne ansprach, stand er kompromisslos ein: "´Swingheini´ nannten ihn die Nazis, drangsalierten ihn, sperrten ihn ein - und schickten ihn dann an die Front. Sie haben ihn nicht klein gekriegt. Er wurde ein berühmter Jazzmusiker", würdigte der hessische Wissenschaftsminister Emil Mangelsdorff in seiner Rede.

"Was bedeutet uns der Widerstand heute?"
Rund 30 Beiträge im Kontext des hessenweiten Wettbewerbs "Jugend debattiert" versuchten ebenso die Frage nach der Bedeutung des Widerstands zu beantworten - allerdings auf die Gegenwart bezogen: "Was bedeutet uns der Widerstand heute?" Die fünf besten Beiträge wurden von einer Jury aus angesehenen Wissenschaftlern und Historikern für einen Preis der Hertie-Stiftung auserkoren. Nun sollten sie - Özlem Tuskin, Schillerschule, Frankfurt am Main (vierter Preis für eine Einzelarbeit), Sebastian Röhm, Grimmelshausen-Gymnasium Gelnhausen (ebenso vierter Preis für Einzelarbeit),  Martina Uffelmann, Ulrich von Hutten-Gymnasium Schlüchtern (dritter Preis für Gruppenarbeit) und Nina Ide, Theodor Heuss-Schule in Homberg/ Efze ( Erster Preis für Gruppenarbeit) - im Rampenlicht von Presse und Publikum ein rhetorisches Florettfechten um die überzeugendste Antwort austragen.

Mit einer kurzweiligen Erörterung des jeweiligen Standpunkts liefen sich die jungen Debattanten warm für die Aussprache in der Gruppe. Dreh- und Angelpunkt war die Frage, welcher Widerstand mehr bringt: der große, eines Stauffenberg, der den Staatsstreich bezweckte oder der kleine Alltagswiderstand jener, die Sand ins Getriebe der Herrschaftsmaschinerie der Nazis warfen, wie der eines Zahnarztes, der Zwangsarbeiter mit Essen versorgte? Sebastian Röhm schlug sich auf die Seite des großen Widerstands, der "Leuchtzeichen" hervorrufe. Er erntete Widerspruch bei allen drei weiblichen Debattantinnen, die dem kleinen Widerstand den Vorzug gaben. Beim Schlussstatement wurde Özlem Tuskin  von ihren Emotionen überwältigt: "Was hier passiert ist", sagte sie unter Tränen, "könnte auch woanders vorkommen. Die Widerstandskämpfer aller Gruppen sollten als Vorbild genommen werden".

Auf Tuskins bewegendes Bekenntnis folgte die Preisverleihung und die eingehende Würdigung der eingereichten Beiträge durch den Historiker Peter Steinbach. Steinbach ist Professor an der Universität Karlsruhe und wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand in Berlin. Das Verbindende aller Arbeiten sah Steinbach darin, dass sie das Vermächtnis des Widerstandes auch 60 Jahre danach bei jungen Menschen lebendig hielten: "Wirklichkeit muss man wahrnehmen und bewerten. Wer sie nicht bewerten kann, kann auch nicht handeln". 

"Millionen Menschen wären gerettet worden"
Nach der Preisverleihung und dem Erhalt der Urkunden durch Minister Udo Corts, Hertie-Repräsentant Michael Endres und der Frankfurter Stadträtin Jutta Ebeling, bekamen die Zweitplatzierten des Wettbewerbs die Möglichkeit zu einem Gespräch mit der Zeitzeugin Dr. Clarita von Trott zu Solz. Heike Welsch, Ann-Kathrin Rahlwes und Jan Schönfeld von der Wöhlerschule in Frankfurt am Main konnten nun nachhaken: Was bedeutet uns der Widerstand gegen den Nationalsozialismus heute? Oder: Wie war es, mit einem Widerstandskämpfer zusammenzuleben? "Sie (die Männer des 20. Juli 1944) sind zu dem gestanden, was sie dachten", so von Trott zu Solz. "Sie haben Menschen gefunden und diesen (Kreisauer) Kreis, der in die Zukunft gedacht hat".

Die Witwe des von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers betonte: "Wenn der Versuch geglückt wäre, dann wären Millionen Menschen gerettet worden". Nach dem missglückten Attentat auf Hitler wurde die Familie von Clarita von Trott zu Solz in Sippenhaft genommen und die Töchter von der Mutter getrennt: "Die Tatsache, dass meine Kinder verschleppt wurden, hat eine Abpanzerung des Gefühls bewirkt".

Ein Blick in die Gegenwart löste bei von Trott zu Solz Sorge und Hoffnung zugleich aus. Menschen, die von Politik nichts wissen wollten, könnten zur Gefahr werden, während andererseits das Engagement etwa von Özlem Tuskin ihr Mut machte. "Doch" - so von Trott zu Solz - "die Probleme kommen jetzt erst in voller Wucht auf uns zu". Sorgen, dass die vergangene Finsternis sich wiederholen könnte, machten sich nach der Gedenkveranstaltung auch Emil Mangelsdorff und seine Lebensgefährtin Monique Mayphale.    

" ...ihr Gewissen war ihr Antrieb, Der 20. Juli und Hessen"
Auf der Ausstellung "...ihr Gewissen war ihr Antrieb. Der 20. Juli und Hessen"
im Foyer der Paulskirche konnten weitere Antworten auf die Kernfrage gefunden werden, was uns der Widerstand heute bedeute. Hier war die ganze Breite des Widerstandes, wie sie Özlem Tuskin als Vorbild vorschwebte, wiederzufinden. Lebensbilder von Frauen und Männern aus Hessen dokumentierten den Widerstand im Militär, der Kirche, im Bürgertum, bei den Sozialdemokraten und Kommunisten. Dort kam auch der "Partisanenprofessor" Wolfgang Abendroth zu Ehren. Abendroth kämpfte als Partisan gegen die Nazis. Nach dem Krieg bekam er den ersten Lehrstuhl für politische Wissenschaften in Hessen - und er war der Vater von Elisabeth Abendroth, die für das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst die Gedenkveranstaltung am 13. Juli 2004 in der Paulskirche organisierte.

Demokratie und Menschenrechte notfalls mit Waffen verteidigen
"Mein Vater fühlte sich als Teil der Arbeiterbewegung, sein Kampf galt der sozialen Demokratie und den Unterdrückten", so Elisabeth Abendroth über die Triebfedern des linken Widerstandes. "Demokratie und Menschenrechte müssen verteidigt werden: mein Vater hat dafür zur Waffe gegriffen".

Beim Rundgang durch die Ausstellung waren auch `kritische´ bzw. befremdliche Töne von Schülerinnen zu hören, so Nadine Lohoff, 19 Jahre, von der Oswald von Nell-Breuning Schule: "Ich fand die Diskussionsrunde nicht kritisch genug. Als Mutter würde ich übrigens keinen Widerstand leisten". Oder Ines Wagner: "Die Deutschen sind Opfer". In Auschwitz, so beide einhellig, hätten sie aber  viel gelernt: "Ich habe dort mehr gelernt, als in einem halben Jahr Schule", betonte Ines Wagner.

Die Jugendlichen heute: zwischen Geschichtsrevision, Nationalstolz und ernst gemeintem Gedenken an große und kleine Widerstandskämpfer? Ein Geschichtslehrer hatte draußen vor der Paulskirche auf die Frage nach dem Geschichtsbewusstsein seiner Schülerinnen und Schüler bereits nachdenkliche Worte gefunden: "Denen rutscht die Geschichte davon, sie interessieren sich nur für den Augenblick. Sie als Journalist werden nach der Gedenkveranstaltung eine Überraschung erleben". Er behielt Recht.    

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 29.07.2004
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