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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 26.04.2004:

Lesen - grenzüberschreitend

Reading Promotion International 2004 - die erste Internationale Konferenz und Ausstellung internationaler Leseförderungsprojekte
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Die amtierende Präsidentin der KMK, Doris Ahnen, weist auf die Möglichkeiten von Ganztagsschulen hin, individuelle Leseförderung voranzubringen.
Bildrechte: Bildung PLUS

Attila Nagy aus Budapest kramt einen Flyer des Disney Book Club hervor, nimmt die Brille kurz ab und reibt sich die Augen. Disney hat Nagys Enkel ein Angebot zur Clubmitgliedschaft gemacht. Das Baby war zum Zeitpunkt der Beglückung durch den Unterhaltungskonzern erst sechs Monate alt und kann natürlich noch nicht sprechen, geschweige denn lesen. Leseförderung nach Disney mag Kindern Spaß machen - doch eine solche Leseförderung hat Nagy nicht im Sinn. "Der Anfang ist entscheidend", sagt Nagy. Ein Anfang allein mit Comics?

So wie Nagy kommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz internationaler Leseförderungsprojekte (Reading Promotion International) vom 21. bis zum 23. April aus ganz Europa nach Mainz am Rhein ins Rathaus. Unter den Ausstellern von Leseförderungsprojekten sind mit Lettland und Polen einige der neuen Beitrittsländer der EU vertreten. So unterschiedlich die Projekte zur Leseförderung in diesen Ländern auch sind, eines ist gewiss: so früh wie möglich wollen sie eine Beziehung der Kinder zum Buch herstellen, die Freude am Lesen wecken. Und sie wollen Wege kennen lernen, wie das Lesen individuell gefördert werden kann. 

Die politische Dimension des Lesens
Spaß und Freude am Lesen mit Comics sind garantiert. Doch das kann nicht alles sein: "Lesen ist eine Basisfertigkeit, ohne die man in unserer Gesellschaft nicht existieren kann", sagt Martin Stein, Gymnasiallehrer auf der Insel Fehmarn. Darüber hinaus ist "Lesen ein Grundrecht" so Hans-Konrad Koch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung zum Stellenwert des Lesens.

Leserinnen und Leser, die sich eine eigene Phantasiewelt schaffen, verkörpern einen Gegensatz zum nationalsozialistischem Kampfspruch: "Du bist nichts, dein Volk ist alles", sagt Georg Ruppelt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Lesen. Leser entziehen sich der totalen Kontrolle, sei es durch repressive Regimes oder durch ausgeklügelte Werbekampagnen. Doch dieses hohe Gut "Buch-lesen" ist derzeit aus der Mode gekommen. Was tun, wenn immer mehr junge Menschen von ihrem "Grundrecht auf Lesen" keinen Gebrauch mehr machen? 

 Bei der internationalen Schülerleistungsstudie PISA mit dem Schwerpunkt "Lesekompetenzen" haben 42 Prozent der Kinder und Jugendlichen angegeben, nicht zum Vergnügen zu lesen. Die Stiftung Lesen hat im vergangenen Jahr die Studie "Leseverhalten der Deutschen im neuen Jahrtausend" herausgegeben. Ihr Ergebnis: Viele lesen zwar nicht weniger, dafür aber seltener, oberflächlicher. Und viele brechen ihre Lektüre ab, wenn sie nicht ihren Erwartungen entspricht. Überhaupt gehört Lesen als alltägliche Beschäftigung vielfach der Vergangenheit an.

"Babies love books"
In den Augen von Attila Nagy gibt es beachtliche Leseförderungsprojekte in England und Deutschland. In England wurde bereits 1925 die Organisation "Booktrust" gegründet. Diese nationale Agentur fördert Aktionen für kreatives Lesen während des ganzen Lebens. Da für Nagy der Anfang entscheidend für die ganze weitere Leselaufbahn ist, bricht er eine Lanze für "Bookstart".

Das Credo dieser Aktion ist: "Eltern sind die ersten und wichtigsten Lehrer ihrer Kinder." Bei diesem Projekt kooperieren die Leseförderer mit Bibliotheken, Verlagen und Gesundheitseinrichtungen. "Bookstart" sorgt dafür, dass jedes neugeborene Kind in Großbritannien eine Bookstart-Tasche erhält mit Büchern für Kleinkinder. Der Direktor von "Booktrust" meint: "Babys love books." Der Besuch von Bibliotheken sei in Folge von "Bookstart" von fünf Prozent auf über 35 Prozent gestiegen.

Eine nationale Initiative wie "Bookstart" schwebt auch dem Geschäftsführer der Stiftung Lesen vor. Diese Stiftung ist u.a. Vorbild für Leseförderung in Ungarn. Dort versuchte man eine vergleichbare Stiftung aufzubauen, bisher ohne Erfolg, wie Nagy meint. Die Stiftung Lesen, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, setzt auch auf die ersten Lebensjahre: "Hier liegt die größte pädagogische Chance", sagt ihr Geschäftsführer, Heinrich Kreibich. 

Lesen gegen soziale Ausgrenzung
Doch Lesen im Kindergarten ist hierzulande unterentwickelt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass manche Kindergärten konfessioneller Träger gut mit Lesestoff bestückt sind. Das Hauptproblem ist nicht nur die schlechte Ausstattung der Kindergärten mit Büchern - an die 50 Prozent der Kindergärten verfügen nicht über einen Anschaffungsetat für Kinderbücher -, sondern auch der niedrige Ausbildungsstand der Erzieherinnen.

Oft kommt beides zusammen. Die Folge: Kindergärten bleiben bildungsferne Einrichtungen. In der erzieherischen Ausbildung käme das Thema Lesen viel zu kurz, sagt Kreibich. England, Finnland und Frankreich seien Deutschland hier weit voraus. "Da brauchen wir noch einige Generationen" - so die Einschätzung von Kreibich zur Zukunft des Lesens an deutschen Kindergärten.

Die Stiftung Lesen unterhält derzeit 35 Projekte zur Leseförderung. Eine wichtige Aktion ist der "Goldene Vorlesebär". Hierbei werden die 100 lesefreundlichsten Kindergärten gesucht. Die Aktion will besonders Eltern ansprechen, deren Kinder noch nicht Bücher lesen. Flankiert wird der "Goldene Vorlesebär" durch das Projekt "Vorlesepaten". Vorlesepaten sind ehrenamtliche Vorleserinnen und Vorleser, die das haben, was vielen Eltern, aber auch Erziehern fehlt: Zeit. Die bundesweit derzeit 3.500 Vorlesepaten sollen zudem eine Brücke zwischen den verschiedenen Generationen bauen. Das Ziel ist es, bis circa 2008 ein dichtes Netz von 10.000 lesefreudigen Vorbildern aufzubauen. 

Leseförderung muss immer auch mit Augenmerk auf das Phänomen der Migration gesehen werden. Die Öffnung Europas für zehn weitere Mitgliedsländer im Osten zeigt: Europa ist ein Bund von Staaten, die sich als Einwanderungsländer verstehen bzw. faktisch zu Einwanderungsländern geworden sind. Und hier hat sich Frankreich als Leseförderer für Kinder mit Migrationshintergrund hervorgetan.

Unter dem einfachen Titel "La Joie par les livres" (Freude durch Bücher) wurde bereits 1965 eine Organisation gegründet, die dem Ministerium für Kultur und Kommunikation angeschlossen ist. "La Joie par les livres" hat die ersten Kinderbibliotheken in Frankreich aufgebaut. Die Organisation scheut auch nicht den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen in sozialen Brennpunkten. 

"Jungen lesen anders. Mädchen auch."
Die Freude am Lesen ist nicht ungeteilt. Nicht nur in Deutschland, sondern wohl in den meisten Ländern lehrt die Erfahrung, dass Jungen weniger lesen. So wollte eine Lehrerin aus Bremen wissen, "warum Jungen weniger lesen als Mädchen" und was man tun müsse, um Jungen dafür zu motivieren. PISA hat bereits vor über drei Jahren ergeben, dass dies ein internationales Phänomen ist. Mädchen lesen mehr und Mädchen lesen mit mehr Verständnis. Jungen läsen weniger, weil die Bücher für sie nicht interessant seien, meinten einige Teilnehmer. Für Jungen gäbe es keine "emanzipatorische Lesekultur" wie für Mädchen. "Pippi Langstrumpf", "Ronja Räubertochter" und "Die rote Zora" - hier würden starke Mädchen dargestellt. 
Da gäbe es Bücher, wo Jungen als Heulsusen dastünden und Mädchen deren Fahrräder reparierten. Starke Mädchen - schwache Jungs?

Für Christine Garbe, Leseforscherin an der Universität Lüneburg, krankt die Leselust bei Jungen daran, dass Kindergärten und Schulen Bücher anbieten, die "überhaupt nicht die Interessen der Jungen treffen". Die Folge: Viele Jungen lesen nicht, sondern kleben vor Monitoren und knallen mit unzähligen Computerspielen das virtuelle Böse ab. Das Bedürfnis nach Helden wird heute von anderen Medien als dem Buch abgedeckt. "Das Heroische finden die Jungen heute in Computerspielen" sagt Garbe. Sie kommt zur der Einschätzung "Jungen lesen anders. Mädchen auch".

Die physiologische Erklärung von Journalistin Bettina Mähler im Hinblick auf dieses Phänomen erhitzte indes die Gemüter auf der Tagung: "Mädchen haben eine andere Gehirn- und Hormonstruktur als Jungen." Daraus leitete sie die "enormen Leistungsvorsprünge" ab, die Mädchen gegenüber Jungen hätten.  

Die Stiftung Lesen hat indes Antworten auf die Jungenfrage gefunden: Sie setzt auf attraktiv gestaltete naturwissenschaftlich-technische Bücher, um Jungen richtig anzusprechen. So wird es demnächst Neuerscheinungen wie "Faszination Technik" oder "Faszination Fußball" geben. Für Nagy gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei Jungen und Mädchen im Hinblick auf das Lesen. Er hält dies allerdings nicht für ein biologisches, sondern für ein kulturelles Erbe.

Kein persönliches Glück ohne Lesen
Für Attila Nagy, Präsident der Ungarischen Lesegesellschaft und Studienleiter an der Nationalen Széchényi-Bibliothek, ist Lesen eine der besten Gelegenheiten, eine Beziehung zwischen Kindern und Eltern, Kindern und Großeltern herzustellen. Seinen eigenen Kindern las er täglich vor und sang auch Lieder: "Es war die glücklichste Zeit meines Lebens", sagt der Siebzigjährige, "und sehr wichtig". Gegen Internet und Fernsehen zu kämpfen, wäre dasselbe wie gegen, Windmühlen zu streiten. Worauf es ankomme: Die Zeit für elektronische Medien zu beschränken und Programme genau auszuwählen. Für den Ungarn waren Thornton Wilders "The Bridge of San Luis Rey" und "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry Sternstunden des Lesens

Er persönlich möchte Vorbild für Leseratten, doch nicht Rattenfänger von Hameln sein. Denn Lesen darf nicht in erster Linie ein Geschäft sein, mit dem sie "unsere Köpfe, unsere Kultur und unsere Seelen kaufen."

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 26.04.2004
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