Suche

Gebärdensprache DGS-Button Leichte Sprache LS-Button
Erweiterte Suche

Ariadne Pfad:

Inhalt

Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 08.04.2004:

Prediger des Friedens, Troubadoure des Todes

Gut durchdachte Musikprojekte können bei Kindern und Jugendlichen in- und außerhalb der Schule die Gewaltbereitschaft nachhaltig zurückdrängen

Treppe zum Himmel oder Fahrstuhl zum Schafott? In Jugendkulturen hat Popmusik eine beinahe mythische Bedeutung: Pop - so glauben viele - könne die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen oder Unheil stiften. Kann Popmusik in der Gewaltprävention tatsächlich die Wunder vollbringen, die viele von ihr erwarten? 

Ein "Troubadour des Friedens" ist Jörg Lehwald, Jg. 1955, aus Erle. Er ist Liedermacher, Lehrer und, wenn man so will, "Prediger" - in einer Person. Und er ist ein Mensch der Betroffenheit. Als der Ex-Schüler Robert Steinhäuser 16 Menschen in einem Erfurter Gymnasium in der Manier eines Action-Helden umbringt, rüttelt das Liedermacher Lehwald auf. Die Welt im neuen Jahrtausend erscheint ihm kalt und gefühllos. Jörg Lehwald möchte etwas Gutes tun. Er geht als Troubardour des Friedens an die Schulen. Jüngst, im März 2004, veröffentlichte Lehwald sein "Friedens-Musik-Projekt" als CD-Rom: Es ist ein gut gemeinter Appell für den Frieden, der deutschlandweit verbreitet werden soll, denn Lehwald möchte, dass seine Botschaften gehört werden. Werden sie?

"Die Zeit der Botschaften, die etwas bewirken wollen, ist wohl vorbei", stellt Liedermacher Lehwald fest. Dennoch nutzt er seine Musik dazu, Botschaften zu verbreiten. Die Leere, in die der Pop und die Rockmusik gefallen sind, wird ausgefüllt durch eine fortschreitende Kommerzialisierung der Musik, so Lehwald. Es ist auch diese geschäftsmäßige Kälte und Seelenlosigkeit im Mainstream der Popmusik, gegen die er sich mit seinem Friedens-Musik-Projekt wendet.

Als Liedermacher wirkt Lehwald wie ein etwas in die Jahre gekommenes Schiff in der Brandung: Die Wellen - HipHop, Dancehal, Reggae oder Techno - rollen auf ihn zu, und prallen auf den Musiker, nur der Lehwald steht, wo er schon vorher war - und verbreitet seine Friedensbotschaft an die Gutwilligen.

Lieder des Hasses, Lieder des Genozids
Die dunkle Seite der Popmusik hat im - schlimmsten Fall - ein mörderisches Gesicht. Vor dem UN-Sondertribunal in Tansania steht derzeit der 49-jährige Sänger Simon Bikindi, der einst ein gefeierter Star in Ruanda gewesen ist, unter schwerer Anklage: Anstiftung zum Völkermord. Als vor genau zehn Jahren Hunderttausende Schlächter mit ihren Macheten und anderem Mordwerkzeug loszogen, um 800.000 Tutsi zu massakrieren, wurden sie dabei von Bikindis Radiohits ermuntert, die mehrmals täglich gesendet wurden und in verklausulierter Form zum Massenmord an der Bevölkerungsminderheit der Tutsi aufriefen.

Auch in rechten Jugendszenen mobilisiert Musik zu Hass und Gewalt: "Musik ist das wichtigste Mittel zur Verbreitung rechtsextremer Propaganda, vor allem unter Jugendlichen" befindet Klaus Farin, Leiter des Archivs der Jugendkulturen im Vorwort des Buches "Reaktionäre Rebellen". Für Farin ist rechte Musik in erster Linie ein "Transportmittel" für rassistisches Gedankengut: "Durch Rechtsrock wird man nicht zum Neonazi, aber rechte Musik ist spannender als irgendwelche Parteiführer-Reden", erläutert Farin. Das Medium Musik hilft Rechtsextremisten dabei, Jugendliche mit ihrer Propaganda zu erreichen, die mit den herkömmlichen Mechanismen der Politikvermittlung nicht ansprechbar wären.

Nicht Landser, sondern Bob Marley
Ohne die Bereitschaft zur Gewalt wäre die rechtsextreme Szene Nichts. Gewaltbereitschaft gehört in "rechten" Kreisen zum "guten Ton". Dabei greift die Musik der Rechten ideologische Versatzstücke rechtsextremistischer Weltsicht auf und trägt mit ihrer so "verpackten" gewaltverherrlichenden Propaganda , subkutan dazu bei, den Jugendlichen den Einstieg in die rechte Szene anzubahnen: "Die rassistischen Stereotype sollen in den Hirnen der Jugendlichen stecken bleiben", fügt Farin hinzu. Musik wirkt dabei glaubwürdiger als das Internet: "Das Internet verkauft nicht Wahrheiten, sondern es ist für die Jugendlichen ein Markt wie jeder Andere", so Farin. Deshalb sei das Internet nicht so effektiv bei der Rekrutierung neuer Mitglieder. Die Medien können aber selber nichts an den Einstellungen der Jugendlichen ändern, "sondern sie können sie nur verstärken", so Farin weiter.

Doch die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen scheint erstaunlich immun gegen die Verführung zur Gewalt zu sein. Laut Shell-Studie lehnen 80 bis 90 Prozent der Jugendlichen die Ausübung jeglicher Gewalt ab: "Nicht Landser" - so Farin - "wollen die Jugendlichen hören, sondern Bob Marley, HipHop, Reggae oder Soul".

Die Karriere einer Friedensbotschaft
In der Erich-Kästner-Realschule in Gladbeck hat man offene Ohren für Lehwalds Friedensbotschaft, für Rock und Pop light. Eine Rückblende: Im Jahr 2002 veranstaltete die Schule Projekttage gegen Gewalt. Mit elf Jugendlichen zwischen 16 und 17 Jahren aus dem Deutsch-Förderkurs diskutiert Liedermacher Lehwald über ihre Ängste, über Liebe, Multikulturalität und die offenbar zunehmende Bereitschaft zur Gewalt. "Die Teens haben endlose Fragen zu Gewalt oder Krieg", so der Barde. Im Rahmen dieser Projekttage entsteht ein Anti-Gewalt-Song der Schüler und Schülerinnen, den Lehwald zusammen mit seinem Gitarristen Andreas Hägler produziert.

Dann schockiert am 26. April 2002 der Amokläufer von Erfurt die Öffentlichkeit, was die CD "Stoppt die Gewalt" mit einem Schlag auch international aktuell macht:
 
"Stoppt die Gewalt! Und reicht euch die Hände!
Macht diesem Schwachsinn doch endlich ein Ende!"

Der Song der Gladbecker Realschule macht Karriere: er beschallt die "Arena" von Schalke 04, schafft es sogar ins Radio. Selbst die UNESCO fragt die "CD des Monats" aus dem Revier nach. "Durch solche Lieder und die Medienaufmerksamkeit bekommen die Kinder und Jugendlichen ein immenses Selbstvertrauen", sagt Lehwald. Dabei kommt es dem Sänger gar nicht auf einen bestimmten Musikstil an: Die Schüler haben die Freiheit, Rocksongs oder Technosounds zu arrangieren, Hauptsache sie transportieren eine Botschaft gegen Hass, Krieg und Gewalt.

"Jugendkulturen sind nicht braun, sondern bunt"
Einen weiteren erfolgreichen Song gegen Gewalt hat Lehwald mit Schülern an der Realschule-Gelsenkirchen arrangiert. "Sag Nein" heißt die CD, die mit rockigem Sound gegen Krieg allgemein zu Felde zieht. "Das Kollegium unterstützt alle Bemühungen für eine gewaltfreie Schule", sagt der Englischlehrer Herbert Fox, der die gesamten künstlerischen Aktivitäten an der Schule für einen Dialog über Gewalt, Krieg und Sozialengagement koordiniert.

Lehwald, der erfolgreich mit Schülerinnen und Schülern arbeitet, kultiviert aber auch eine klare Abgrenzung zu verbreiteten Jugendkulturen:
"Cool zu sein ist heute in und Gefühl
ist mega out, doch ich lauf nicht mit der Meute."

"Die populärste Jugendkultur im Moment ist Hiphop und Reggae", betont Klaus Farin. Natürlich sind HipHopper auch cool, aber sie stehen zugleich für sozialkritische Botschaften und für Toleranz gegenüber fremden Kulturen: "Jugendkulturen sind in der Regel nicht braun, sondern vielfältig und bunt." Dies gilt auch für Ost-Deutschland, wo - Farin zufolge - der Rechtsrock bei den Jugendlichen nicht mehr im Trend ist. Im Aufwind befinden sich der Reggae und HipHop.

Das bedeutet nicht, dass rechtsextreme Einstellungen unter den Jugendlichen nicht verbreitet sind. Im Gegenteil: Es gibt einen breiten Mainstream von rechtsextremen Überzeugungen, die auch zur Entgrenzung von Gewalt führen können.

Praying to the converted?
Was kann die Popmusik, was können Musikprojekte in diesen Fällen leisten?

"Alles, was nach Pädagogik riecht, wird sofort von den Jugendlichen zurückgewiesen", merkt der Musikwissenschaftler und Journalist des Schweizer "Tagesanzeiger" Jean-Martin Büttner aus Bern an. Projekte mit Künstlern oder Musikern an den Schulen - wie die von Lehwald - seien an sich etwas Großartiges: "Doch ich bin mir nicht sicher, ob man die Leute erreicht, die an der Grenze stehen zum Beitritt in gewaltbereite, politische Gruppen", sagt der Autor des Buches "Sänger, Songs und triebhafte Rede".

Schon der Poptheoretiker Diederich Diederichsen, hat auf die paradox erscheinende Realität hingewiesen, dass Jugendliche, die an Rockkonzerten teilnehmen, hinterher mit Baseballschlägern losziehen, um Ausländer niederzuschlagen. "Ich warne vor dem Gut meinen", gibt Büttner zu Bedenken. "Praying to the converted", die Predigt an die Bekehrten, bringe nicht viel.

Gegen die vorschnelle Abgrenzung von den Jugendkulturen wendet sich das Projekt "Culture on the Road" des Archivs der Jugendkulturen, das von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird. "Culture on the road" zieht wie eine Karawane mit Workshops, Projekttagen und Informationsveranstaltungen deutschlandweit an die Schulen, Ausbildungsstätten oder Jugendhäusern.

"Es ist wichtiger, die toleranten und weltoffenen Jugendlichen mit Hiphop, Reggae oder Punk zu stärken, als abstrakt gegen Rechts zu kämpfen", betont Klaus Farin. "Culture on the road" will die Vielfalt der Jugendkulturen dadurch stärken, dass es Kontakte mit den Jugendszenen HipHop, Reggae, Punk oder Techno vermittelt und für eine gewaltfreie Lebenskultur wirbt. Es sollen also diejenigen gestärkt werden, die mit Rechtsrock oder Gewalt nichts zu tun haben wollen.

Dagegen ist die Arbeit mit Jugendlichen, die der Gewalt und der rechten Szene nicht abhold sind, wesentlich mühsamer und vor allem langwieriger: "Kleine Projektchen bringen nicht viel. Die Arbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen muss langfristig angelegt und sie darf nicht verschult sein", sagt Winfried Kneip von der Yehudi Menuhin Stiftung. Kneip hat im Rahmen des Muse-Projektes, das mit Jugendlichen und Musikern in der Gewaltprävention arbeitet, viele Erfahrungen gesammelt: "Musiker sollten mindestens ein Jahr lang - am besten aber drei Jahre - die Kinder begleiten. Nur so ist eine permanente Weiterentwicklung möglich", sagt Kneip. Auch Gabriele Lieber, wissenschaftliche Mitarbeiterin des BLK-Programms `Kulturelle Bildung im Medienzeitalter´ unterstützt solche Projekte, die versuchen, die Kinder und Jugendlichen mit ihrer eigenen Musik anzusprechen und die nicht die "Zeigefingerpädagogik" praktizieren.

Sehr gute Ergebnisse hat auch Elli Forest erzielt: So hat sie im Rahmen ihrer Präventionsarbeit mit extrem gewalttätigen Jugendlichen einen Videoclip gedreht. Die schweren Jungs haben eigene Musik gemacht und Texte zu den Songs geschrieben. Erst die "schrecklichen Texte", die sie dazu geschrieben haben, rüttelten die Jugendlichen wach und haben sie dazu gebracht, sich kritisch mit ihrer eigenen Gewaltbereitschaft zu beschäftigen. Dies berichtete Forrest auf der International Society for Education im August 2002.

Musik, die Schalke 04 und Ghana verbindet
Gewalt ist in Jugendkulturen zwar nicht anerkannt, dennoch spielt sie im individuellen Alltag von Jugendlichen eine wachsende Rolle: "Absolut gesehen, können wir eine deutliche Zunahme der Gewalt auch bei den Mädchen feststellen", sagt Silke Bruhns vom Deutschen Jugendinstitut. Ein Schlüssel zu einer wirksamen Strategie gegen Gewalt ist kontinuierliche Arbeit mit gewaltbereiten Jugendlichen in musikpädagogischen Gruppen.

Offenbar haben die Realschulen in Gladbeck oder in Gelsenkirchen mit ihren langjährigen Musikprojekten, ihren Musikgalas - zu Gunsten von sozialen Projekten in Ghana - eine gute Saat gestreut: "Wir haben ein Klima geschaffen, in dem die Schülerinnen und Schüler sich wohlfühlen", sagt Schulleiter Friedrich-Wilhelm Quabeck aus Gelsenkirchen. Es scheint auch, als habe Lehwald gerade dort Erfolg, wo er glaubwürdig den Friedensbarden verkörpert und nicht den moralisierenden Pädagogen.

Autor(in): Peer Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 08.04.2004
© Innovationsportal

Ihr Kommentar zu diesem Beitrag. Dieser Beitrag wurde bisher nicht kommentiert.

 Weitere Beiträge nach Innovationsgebieten (Archiv).

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion von Bildung + Innovation erlaubt.

Die Redaktion des Online-Magazins Bildung + Innovation arbeitet journalistisch frei und unabhängig. Die veröffentlichten Beiträge bilden u. a. auch interessante Einzelmeinungen zum Bildungsgeschehen ab; die darin zum Ausdruck gebrachte Meinung entspricht nicht notwendig der Meinung der Redaktion oder des DIPF.

Inhalt auf sozialen Plattformen teilen (nur vorhanden, wenn Javascript eingeschaltet ist)

Teile diese Seite: