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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 12.01.2004:

Hessen: Reifekurse für die Grundschule

In nur neun Monaten sollen Vorlaufkurse in Hessen Kinder mit Migrationshintergrund reif für die Grundschule machen

Wenn sie Türkisch spricht, bewegt sich Neslin wie ein Fisch im Wasser. Im Deutschen bewegt sie sich eher wie eine Gestrandete. Sie "spricht nur wenig und meist in Zwei-Wort-Sätzen". Ihr Wortschatz ist "sehr gering". Wenn sie in einem halben Jahr eingeschult würde, fiele ihr der Anschluss im Unterricht sicherlich schwer. Sie wäre nicht in Lage den Erstklässlern zu folgen. Aufgrund der geringen Deutschkenntnisse traut sich Neslin nicht, Kontakte zu knüpfen. 

In neun Monaten um die (Deutsch-)Welt
Neslin ein halbes Jahr später: "Ihr Mitteilungsbedürfnis den Mitschülerinnen und Mitschülern gegenüber ist kaum zu bremsen." Sie erzählt nun in einfachen und kurzen Sätzen - klar und verständlich. Ihr Wortschatz ist angewachsen, sie kann sogar kleine Gedichte aufsagen. Was ist passiert? Neslin hat an einem Vorlaufkurs teilgenommen. Dabei haben sich Neslins Deutschkenntnisse so entwickelt, dass " sie dem Unterricht in einer ersten Klasse mit Sicherheit wird sprachlich folgen können". Neslin hat nun günstigere Startvoraussetzungen. Soweit der Beobachtungsbericht der Handreichung für Grundschulen "Deutschförderung in Vorlaufkursen" des Landes Hessen.

"Deutschförderung in Vorlaufkursen" wird vom Hessischen Kultusministerium als eine Art Wunderwaffe im Kampf gegen Schulversagen von Kindern mit Migrationshintergrund gehandelt, das meist geringen Deutschkenntnissen geschuldet ist. Vorlaufkurse sind Kurse, die neun Monate andauern. Sie wurden im November 2002 eingerichtet. Im Schuljahr 2002/2003 waren es insgesamt 605 Vorlaufkurse. Zwischen 10 bis 15 Kinder sitzen in solchen Deutschförderkursen. Hessen will damit auf dem Gebiet der sprachlichen Frühförderung nicht weniger als "bundesweit Vorreiter" sein. Karin Wolff, die hessische Kultusministerin, ist die Initiatorin der verbindlichen Sprachtests vor der Einschulung. 

Positive Überraschungen tun not. Nach dem "Migrationsbericht Hessen 2002" werden Kinder mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so häufig vom Schulbesuch zurückgestellt wie deutsche Kinder und sie wiederholen mindestens dreimal so oft eine Klasse. Ausländische Kinder sollen nicht mehr aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse ganze Klassen unfreiwillig ausbremsen und auch die eigene Schullaufbahn nicht gefährden.

Nach Vorlaufkursen: 95 Prozent reif für die Grundschule
So hat Hessen alle Kinder mit Migrationshintergrund einem Sprachtest unterzogen. Im Schuljahr 2002/2003 wurden über 5000 Kinder, also rund die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund, für Vorlaufkurse empfohlen. Etwa 4621 Kinder in Vorlaufkursen, das sind 95 Prozent, konnten die Hürde "Deutsch" überspringen. Die restlichen 384 Kinder, die diese Hürde nicht genommen haben, werden im folgenden Schuljahr zur Teilnahme an schulischen Sprachkursen verpflichtet, denn "nur wer Deutsch kann, kommt auch in die erste Klasse" fordert Wolff. Das klingt hart. Doch offenbar stößt das Unternehmen "Vorlaufkurse" bei den Eltern auf große Akzeptanz. Das Ganze kostet das Land Hessen jährlich 40 Millionen Euro. Hessen erwartet, dass die Zahl ausländischer Kinder ohne Schulabschluss sich dank der Vorlaufkurse drastisch verringern werde.

Neslin, nicht aber Hedwig darf Vorlaufkurse besuchen. Auch dann, wenn das deutsche Kind nicht über ausreichend Sprachkenntnisse verfügt, um in der Grundschule von Anfang an dem Unterricht folgen zu können. Der Grund - das neue Schulgesetz: "...Kinder deutscher Herkunft werden auch bei eingeschränkter Sprachfähigkeit in der Lage sein, die Lehrkraft und die Unterrichtssprache zu verstehen", nachzulesen in der Handreichung des Kultusministeriums "Deutsch-Förderung in Vorlaufkursen".

Der Ausschluss deutscher Kinder findet auch im hessischen Schulgesetz seinen Niederschlag. Das Land hat den Erziehungs- und Bildungsauftrag erweitert, Hessisches Schulgesetz § 3 Absatz 13 lautet: "Schülerinnen und Schülern, deren Sprache nicht Deutsch ist, sollen ... durch besondere Angebote so gefördert werden, dass sie ihrer Eignung entsprechend zusammen mit Schülerinnen und Schüler deutscher Sprache unterrichtet und zu den gleichen Abschlüssen geführt werden können." Um dem Gedanken der sprachlichen Förderung Nachdruck zu verleihen, können ausländische Kinder auch zurückgestellt werden. Diese Gruppe wird zur Teilnahme an den schulischen Sprachkursen verpflichtet. 

Was passiert im Vorlaufkurs?
Steckt ein Kind erst einmal in einem Vorlaufkurs wird es die deutsche Sprache handlungsbezogen erlernen, nach dem Motto: Das Kind da abholen, wo es steht: bei seiner kindlichen Erfahrungswelt. Und die dreht sich in Hessen um neun so genannte "Themenkreise". Sie reichen vom einfachen Kennenlernen ("Mein Land liegt am Meer") bis hin zum Einkaufen ("Der Einkaufswagen steht neben der Kasse"). 

Die sprachliche Frühförderung kann allerdings nur dann gelingen, wenn alle Beteiligten zusammenkommen und ihre Erwartungen aufeinander abstimmen. Schließlich spielt die Familie bei Kindern moslemischer und auch slawischer Herkunft bisweilen eine überragende Rolle. Da werden Eltern etwa eingeladen, den Unterricht im Vorlaufkurs zu besuchen. Wenn es sein muss, auch mitzuhelfen. Und die Mütter sind gehalten, dem guten Beispiel ihrer Kinder zu folgen in "Mama-lernt-Deutsch-Kursen".

Zankapfel "Zurückstellung"
Mit Zurückstellungen von der Schule für die Dauer eines Jahres möchte Hessen die "Dringlichkeit der Sprachförderung" verdeutlichen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, der die Eltern zum richtigen Verhalten anhalten soll. Dazu Hessisches Schulgesetz § 58 Absatz Absatz 5, Satz 1: "Schulpflichtige Kinder, die nicht über die für den Schulbesuch erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen, können von der Schulleiterin oder dem Schulleiter nach Anhörung der Eltern für ein Jahr von der Teilnahme am Unterricht zurückgestellt werden." Die zurückgestellten Kinder müssen nicht unbedingt zu Hause bleiben. Das Schulgesetz sieht die Möglichkeit vor, Kinder in Vorklassen zu fördern.

Die Fixierung auf das Erlernen von Deutsch ist nicht für alle das probate Mittel, Kinder mit Migrationshintergrund nachhaltig zu fördern. Nach Ingrid Gogolin, Universität Hamburg und federführende Autorin der Expertise "Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund", greift der Ansatz des hessischen Kultusministeriums zu kurz.

Sie äußert Kritik zu drei Punkten. Erstens "Kein Fördereffekt" sei von der Möglichkeit zu erwarten, Kinder zurückstellen zu können. Zweitens verlange nachhaltige Sprachförderung, dass auch die Zweitsprache schriftlich und mündlich beherrscht werde Der dritte Punkt: Es sei insgesamt illusorisch zu glauben, man müsse später in der Schule nicht mehr fördern, nur weil man es bereits in der Vorschule getan habe.

Die grüne Brille
Auf tönernen Füßen stehe das Konzept des hessischen Kultusministeriums, sagt Priska Hinz. Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende sowie bildungs- und medienpolitische Sprecherin der Fraktion der Grünen im Hessischen Landtag. "Aus grüner Sicht muss die Sprachförderung bereits im Kindergarten einsetzen, im Alter von drei Jahren und über die Dauer von drei Jahren zumindest fortgesetzt werden", sagt Hinz. So sei auch das Problem der Rückstellung nicht mehr so dringlich, weil die Kinder vor der Schulzeit die nötige Reife erlangten. Die Vorlaufkurse bewertet sie als "Schnellschuss", geschuldet der Änderung des Hessischen Schulgesetzes mit der Aufnahme des Rückstellungs-Passus. 

Der Bedarf an vorschulischer Erziehung sei zudem größer als nur die Erziehung zur Sprache: die emotionale, kognitive und soziale Erziehung müsse auch früher gefördert werden. 

Doch auch wer in den Vorlaufkursen mitmachen kann, hat nach Priska nicht nur zu lachen: Kinder würden drei bis vier Mal in der Woche aus der Gruppe im Kindergarten herausgenommen werden, um eigens in die Schule gehen.

So fordert sie eine sinnvollere Verzahnung von vorschulischer und schulischer Bildung. Ein Konzept zur Integration der beiden Welten stünde aus. Zur Zeit mache jeder Kindergarten seine eigene pädagogische Arbeit, nach eigenen pädagogischen Leitlinien, die nicht aufeinander abgestimmt seien. Die Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule müsse verbindlich festgeschrieben werden, findet Hinz.

Vergessen -  die sozial benachteiligten Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, bei denen auch zum Teil Förderungsbedarf besteht, dies hatte unter anderem die Sprachstandserhebung "Bärenstark" in Berlin ergeben. Diese Gruppe fiele ganz aus den Maschen der Sprachförderung Deutsch: "Für die reicht das Geld nicht" so Hinz.

Warum nicht alle Kinder fördern?
Nicht nur in Hessen laufen Vorlaufkurse zur frühen Sprachförderung an. Nordrhein-Westfalen und Berlin zeigen, dass Förderbedarf in Deutsch auch bei Kindern besteht, deren Muttersprache Deutsch ist. Diese beiden Länder unterscheiden nicht nach der Herkunft, sondern schlicht danach, ob Kinder Deutsch verstehen und sprechen oder nicht. Nicht nur die ethnische Herkunft erschwert das frühe Erlernen des Deutschen, sondern andere gesellschaftliche Ursachen, wie Überflutung der Sinne durch Medien, mangelnde Zeit der Eltern für ihre Kinder. Wenn alle Kinder gleichermaßen gefördert werden, besteht auch weniger die Gefahr, dass sich eine Gruppe stigmatisiert fühlt, indem sie zur Sonder-Förderung aus ihrer Gruppe herausgezogen wird.

Sicherlich, es ist ein Erfolg, wenn über 90 Prozent der zu fördernden Kindern nach den Vorlaufkursen, von Anfang an in der Grundschule mithalten können. Doch sollten die verbleibenden 5 Prozent, also immerhin 384 Kindern in Hessen, nicht auch als weiterer Gradmesser für eine erfolgreiche frühe Sprachförderung herhalten? Die Messlatte so hoch zu heben ist möglich, das zeigen Beispiele jenseits der Grenzen Deutschlands. Das Geld, das in die Förderung aller fließt wäre eine Investition in die Zukunft.

 

Autor(in): Arnd Zickgraf
Kontakt zur Redaktion
Datum: 12.01.2004
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