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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 16.10.2003:

"Brücke der Verständigung"

Seit 1998 gibt es in Pirna das erste deutsch-tschechische Gymnasium.
Das Bild zum Artikel
Am Eingang des Gymnasiums
Quelle: Friedrich-Schiller-Gymnasium Pirna

Bildung PLUS: Das Friedrich-Schiller-Gymnasium ist seit 1998 ein binationales Gymnasium mit Internat. Was ist darunter genau zu verstehen?

Weber/ Bartosek: Das Friedrich-Schiller-Gymnasium ist ein Deutsch-Tschechisches Gymnasium mit spezieller Begabtenförderung, einer spezifischen Sprachenausbildung, mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil und vielfältigen musischen Angeboten.
Einmalig in Deutschland ist der binationale-bilinguale Ausbildungszweig, der gemeinsam mit der Tschechischen Republik gestaltet wird. Die gymnasiale Ausbildung tschechischer und deutscher Schüler erfolgt im Rahmen eines anspruchsvollen bilingualen Bildungsganges, der sowohl eine Förderung der Begabung auf der Grundlage der Sprache, als auch im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich darstellt.
Die Schüler beider Länder erlernen die Partnersprache in der 5. und 6. Klassenstufe getrennt in ihren Heimatländern und werden in der Klassenstufe 7 zu einer gemeinsamen binationalen Klasse zusammengeführt.
Etwa 580 Schülerinnen und Schüler lernen und 64 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten hier. Davon kommen in dem binationalen Bildungsgang 88 Schülerinnen und Schüler sowie 18 Lehrerinnen und Lehrer aus der Tschechischen Republik.
Besonders attraktiv ist das gemeinschaftliche Zusammenleben in dem sich unweit der Schule befindlichen Internat, einem sehr großzügig gestalteten und aufwendig sanierten Gebäudekomplex mit besonderem Flair. Darin werden Schüler ab der 5. Klasse aufgenommen. Schule und Internat befinden sich in einer gemeinsamen Trägerschaft, der Großen Kreisstadt Pirna.
Das breite Angebot an außerunterrichtlichen Kursen, Arbeitsgemeinschaften und Freizeitaktivitäten bereichert das Schulleben.
Der älteste Jahrgang des binationalen deutsch-tschechischen Bildungsganges befindet sich in der 12. Klasse. Ziel ist ein Abiturzeugnis, welches in beiden Ländern anerkannt wird.
Die Schule versteht sich mit ihrer pädagogischen Arbeit als eine "Brücke der Verständigung" zwischen Deutschland und Tschechien.
Voraussetzung für die Aufnahme in den bilingualen Profilzweig ist das Bestehen einer alljährlich im Frühjahr - für die tschechischen Kinder in D??ín, für die deutschen in Pirna - stattfindenden Aufnahmeprüfung.
Termine und weitere Einzelheiten zur Aufnahmeprüfung und zum Bildungsgang können jederzeit im Pirnaer Gymnasium - selbstverständlich auch auf Tschechisch - erfragt werden.

Bildung PLUS: Unterricht findet im Friedrich-Schiller-Gymnasium für die Schülerinnen und Schüler in wechselnder Gruppenzusammensetzung und in unterschiedlichen Sprachen statt. Das hört sich nach einem ziemlichen Durcheinander an!

Weber/ Bartosek: Auf den ersten Blick erscheint das vielleicht so, aber bei genauerer Betrachtungsweise lässt sich diese Ansicht sofort entkräften. Der Unterricht ist für die einzelnen Fächer klar strukturiert.
In der 5. und 6. Klassenstufe lernen die aufgenommenen ca. 15 deutschen Schüler im Klassenverband nach einer besonderen, leicht veränderten Stundentafel. Diese integriert neben Englisch als erster Pflichtsprache Tschechisch als Partner- und Profilsprache.
Die tschechischen Schüler lernen ab Klassenstufe 7 Englisch als zweite Pflichtfremdsprache. In der Klassenstufe 10 werden beide Sprachgruppen im Fach Englisch niveaugleich und gemeinsam unterrichtet. Als dritte Wahlfremdsprache kann von Klassenstufe 10 bis einschließlich Kurshalbjahr 12/II Französisch als spät beginnende Fremdsprache gewählt werden.
Der Leitidee des binationalen Bildungsganges folgend, findet gemeinsamer Unterricht in den Klassenstufen 7 bis 10 in den Fächern Sport, Musik, Kunsterziehung, Informatik, Astronomie und Gemeinschaftskunde statt. Gemeinsamer Unterricht erfolgt auch in der Fremdsprache Englisch in Klassenstufe 10. Die Anzahl der im binationalen Klassenverband unterrichteten Stunden nimmt also mit jeder weiteren Klassenstufe zu. Dies resultiert auch daraus, dass in den Klassen 9 bzw. 10 den tschechischen Schülern mit je einer von zwei Stunden im Religions -/ Ethik- und Geschichtsunterricht eine Integration ermöglicht werden soll.
In den Fächern Informatik, Sport und Musik wird die Unterrichtssprache ab Klasse 7 Deutsch sein, ebenfalls in Klasse 10 in Astronomie und in den Klassen 9 und 10 in den Fächern Religion/ Ethik, Geschichte und Gemeinschaftskunde. Anders als in der offiziellen Stundentafel festgelegt, findet der Informatikunterricht mittlerweile durchgängig in den Klassenstufen 7 bis 10 statt.
Das Fach Kunsterziehung wird in tschechischer Sprache unterrichtet.

Getrennter nationaler Gruppenunterricht in der jeweiligen Partnersprache findet bei der Vermittlung der Partnersprache selbst und im bilingualen Schulfach Geographie statt.
Beide nationale Schülergruppen werden in allen weiteren Fächern der Klassenstufe 7 bis 10 in ihrer jeweiligen Muttersprache unterrichtet.
Bis zur Klasse 10 wächst also der Anteil der gemeinsam binational in deutscher Sprache unterrichteten Stunden. In den Jahrgangsstufen 11 und 12 erfolgt der Unterricht bis auf das Fach Tschechisch grundsätzlich in national gemischten Kursen. Die Ausbildung wird auf Grundlage der Oberstufen- und Abiturprüfungsverordnung des Freistaates Sachsen mit der entsprechenden Modifizierung für Gymnasien mit vertiefter Ausbildung durchgeführt.
Die beiden nationalen Schülergruppen wählen die jeweilige Partnersprache als Leistungskurs sowie zwei weitere Leistungskurse eines vorgegebenen Kurswahlangebots. Die Schüler werden ermutigt, die Möglichkeit zur Einbringung einer "Besonderen Lernleistung" in den Abiturprüfungsbereich zu nutzen.

Bildung PLUS: Solche Unterrichtsformen und verschiedene Gruppen und Klassen benötigen sicher einen hohen organisatorischen Aufwand. Welche Voraussetzungen waren dafür nötig?

Weber/ Bartosek: Die Grundlage für dieses Projekt bildet die Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Staatsministerium für Kultus des Freistaates Sachsen und dem Ministerium für Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik über die Zusammenarbeit bei der Umsetzung des binationalen-bilingualen deutsch-tschechischen Bildungsgangsganges am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pirna vom 20. November 1998 mit Zustimmung der Regierungen beider Länder.
Alle am Projekt Beteiligten beweisen hier ihre überdurchschnittliche Einsatzbereitschaft, ein hohes Maß an Belastbarkeit, außerordentliche Kreativität sowie Methodenvielfalt im Unterricht und in der Freizeitgestaltung der binationalen Gruppen.
Auch dank der Zustimmung, Begeisterung und des Verständnisses von Verwaltungen, Behörden, Vereinen, Stiftungen sowie ebenfalls der Bewohner der Stadt Pirna sind die hohen Anforderungen des Projektes lösbar. Innerhalb des Gymnasiums sind natürlich auch die Schulleitung mit dem Schulleiter, der stellvertretenden Schulleiterin, der Projektkoordinatorin, dem Internatskoordinator und dem tschechischen Studienkoordinator ein Garant für die erfolgreiche Umsetzung des Projektes.

Bildung PLUS: Wie bilden sich die Lehrerinnen und Lehrer weiter und wie werden die tschechischen Kolleginnen und Kollegen integriert?

Weber/ Bartosek: Die Lehrerinnen und Lehrer unterrichten entsprechend ihrer Ausbildung bei diesen speziellen Klassen. Für die tschechischen Lehrkräfte erfolgt eine Ausschreibung über das Tschechische Kultusministerium. Diese Lehrer müssen bei Ihrer Bewerbung neben Deutschkenntnissen auch eine Lehrbefähigung für das Gymnasium vorweisen. Sie sollten auch Kompetenzen für eine gestaltete Freizeit und ihre Erziehungsaufgabe als Mentor im Internat besitzen.
Die einzelnen Fachbereiche integrieren ihre tschechischen Kollegen. Sie stimmen Lehrpläne gemeinsam ab unterrichten im Tandem oder bilden als Klassenleiter und stellvertretender Klassenleiter und Mentor im Internat ein binationales Team.
Deutsche und tschechische Lehrer bilden sich entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse und  unter Berücksichtigung der regionalen und überregionalen Weiterbildungsangebote fort. Unterstützung erhalten wir u.a. auch von der TU Dresden, Fachbereich Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, von Stiftungen und Vereinen etc.

Bildung PLUS: Seit fünf Jahren gibt es dieses bilinguale Projekt. Auf welche Ergebnisse können Sie verweisen?

Weber/ Bartosek: Bisher lassen sich noch keine abschließenden Ergebnisse fixieren. Das Ziel ist das Abitur 2004 und unser ältester Jahrgang befindet sich jetzt  im dritten Kurshalbjahr 12/1. Wir sind gespannt, ob alle tschechischen und deutschen Schülerinnen und Schüler dieses ersten Jahrganges erfolgreich sein werden und mit welchen Ergebnissen sie ihre Prüfungen meistern werden. Aber wir sind natürlich optimistisch, denn es gab bisher noch keine leistungsbedingten Abgänge.

Bildung PLUS: Welche Reaktionen gab es bei den deutschen und tschechischen Lehrerinnen und Lehrern auf die Ergebnisse der PISA-Studie?

Weber/ Bartosek: Nicht erst die PISA-Studie beeinflusste unser Schulleben.
Vor etwa einem Jahr wurde an unserem Gymnasium eine Untersuchung des Deutschen Instituts für internationale Pädagogische Forschung Frankfurt (DIPF) durchgeführt. Dabei war das Leitprojekt des DIPF im Bereich der Schulevaluation und der Erforschung von Schulentwicklungsprozessen. Das war also eine Art Qualitätskontrolle und Beratung durch eine unabhängige wissenschaftliche Institution.
Eine anonyme Befragung der Lehrerinnen und Lehrer fand statt, wurde analysiert  und mit den Lehrern ausgewertet. Dabei bekam die Schule durchweg sehr gute Referenzen bescheinigt. Dazu gehörte, dass das Gymnasium mit seinem pädagogischen Konzept Lernen und Freizeit sinnvoll verbindet und vor allem Zeit zur Förderung gibt. Zusätzlich wurden uns vereinzelt Entwicklungsfelder benannt, an denen wir weiter konzentriert arbeiten können.
Die tschechischen Lehrerinnen und Lehrer waren überrascht, wie massiv in Deutschland Politiker und Medien über die PISA-Studie berichteten und welche großen Veränderungen nach vermeintlich nur einer (!) Studie stattfinden sollten.
Die überparteiliche Theodor-Heuss-Stiftung "prüfte" unser Gymnasium im vergangenen Schuljahr ebenfalls. Ziel dieser Stiftung ist es, vorbildlich demokratisches Verhalten, bemerkenswerte Zivilcourage und beispielhaften Einsatz für das Allgemeinwohl zu fördern und anzuregen. Die Theodor-Heuss-Medaillen erhielten, stellvertretend für viele andere, sechs engagierte Schulen. Darunter befand sich auch unser Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pirna, worauf wir natürlich sehr stolz sind.

Bildung PLUS: Gibt es Kontakte oder Partnerschaften zu Schulen mit ähnlichem Profil? Wenn ja, inwiefern sind sie wichtig für Sie?

Weber/ Bartosek: Die Schule pflegt in der Tschechischen Republik langfristige Partnerschaften zu den Gymnasien in D??ín (hier finden die Aufnahmeprüfungen für die tschechischen Schüler statt), in Ústí (Schüleraustausche) und in Liberec, in dessen deutscher Abteilung tschechische Schüler das deutsche Abitur ablegen können.
Angebahnt werden auch vertiefte Kontakte zu einem bilingualen Gymnasium in Prag, weil hierbei gleichartige Entwicklungsfelder bearbeitet werden können.
Zusätzlich bestehen Verbindungen zu dem Deutsch-Französischen Gymnasium in Freiburg. Jedes Jahr fährt unsere 8. binationale Klasse auf Einladung der Brücke/Most-Stiftung Freiburg-Dresden zu einer Exkursion nach Freiburg und besucht die Schule und kann in einen direkten Erfahrungsaustausch treten.

Bildung PLUS: Am Friedrich-Schiller-Gymnasium wird ganztätig unterrichtet. Profitiert die Schule vom Investitionsprogramm der Bundesregierung zum Ausbau von Ganztagsschulen?

Weber/ Bartosek: Das Friedrich-Schiller-Gymnasium nimmt trotz seines Ganztagesangebotes keine Fördermittel vom Investitionsprogramm der Bundesregierung in diesem Zusammenhang in Anspruch.

Bildung PLUS: Das Friedrich-Schiller-Gymnasium befindet sich in historischen Gebäuden mitten in der schönen Altstadt von Pirna, die besonders durch die Darstellung von Canaletto bekannt ist. Welche Bedeutung hat diese Tatsache für die Schülerinnen und Schüler sowie für die Lehrkräfte?

Weber/ Bartosek: Wenn die Elbe wenige Kilometer nach Überqueren der deutsch-tschechischen Grenze  die Stadt Pirna erreicht, dann hat sie bereits ein Drittel ihres Weges von den Quellbächen im südlichen Riesengebirge bis zur Flussmündung absolviert.
Die Menschen beiderseits dieser Grenze pflegten stets mannigfaltige Kontakte zueinander. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Nachbarn hat durch die Auflösung der politischen Systeme, die Öffnung der Grenzen und die Hinwendung zu einem gemeinsamen Europa in den vergangenen zehn Jahren neue starke Impulse erhalten. Gefördert von der Europäischen Union entstand die Euroregion Elbe/Labe.

Aufbauend auf die Erfahrung einer seit 1975 bestehenden Städtepartnerschaft zwischen Pirna und der benachbarten Kreisstadt D??ín, wuchs in Pirna der Wunsch, auf der Grundlage freier Initiative und mit der Unterstützung der Bürger dauerhafte Zeichen für ein gutnachbarschaftliches Zusammenleben in der Region zu setzen.  

Aus dem Anliegen, Zeichen für gute Nachbarschaft zu setzen, entstand eine Vision: Junge Deutsche und junge Tschechen sollten die Möglichkeit erhalten, gemeinsam aufzuwachsen, Schule und Freizeit miteinander zu teilen. Bundesweit einmalig wurde am Pirnaer Friedrich-Schiller-Gymnasium ein binationaler-bilingualer Bildungsgang mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil und vertiefter sprachlicher Ausbildung entwickelt.

Im Zusammenleben lernen sich die Jugendlichen kennen und respektieren, können sich mit Mentalität und Geschichte des jeweils anderen vertraut machen. Den Stellenwert, den dieses Projekt für die Stadt Pirna besitzt, manifestierte der Stadtrat mit seinem Beschluss, das Internat des Friedrich-Schiller-Gymnasiums inmitten des Pirnaer Stadtzentrums und in unmittelbare Nähe zu Rathaus, Marktplatz und Marienkirche anzusiedeln.
Durch Sanierung und Umbau von neun vom Verfall bedrohten, wertvollen Gebäuden konnte zudem ein Stück historischer Altstadt gerettet werden.

Es entstand ein Gebäudeensemble mit 113 Internatsplätzen und sechs Lehrerwohnungen. Neben den Wohn- und Lebensbereichen - mit zumeist fünf Zimmern für jeweils einen deutschen und einen tschechischen Schüler, einem Gruppenraum, sanitären Einrichtungen und einer kleinen Küche - sind eine Vielzahl von Räumlichkeiten vorgesehen, die ein gemeinsames Lernen und eine interessante Freizeitgestaltung ermöglichen.

 

Rita Weber, Projektkoordinatorin  für den binationalen Profilzweig; Lehrerin für Deutsch, Deutsch als Fremdsprache und Sport

Dr. Miroslav Bartosek, Tschechischer Studienkoordinator, Lehrer für Mathematik und Physik

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 16.10.2003
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