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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 24.07.2003:

"Sei du mein book buddy"

Ein Vorlesemodell aus Kanada macht Schule
Das Bild zum Artikel
Fabienne Röpke als book buddy
Bildrechte: Projekt "book buddy"

"Ich möchte gerne zu Nicole. Die liest immer so schön deutlich." Heute ist Freitag. Die Kinder des Kindergartens Löwenzahn aus Jerstedt versammeln sich in der Turnhalle und wählen unter den anwesenden Grundschülern ihren Vorleser bzw. ihre Vorleserin aus. Jeden Freitag kommen Schülerinnen und Schüler der dritten Klasse aus der Grundschule Jerstedt in den ansässigen Kindergarten und lesen "ihren" Kindern eine halbe Stunde lang spannende Geschichten vor.

"Book buddy": Import aus Kanada
Ins Leben gerufen wurde dieses Vorlese-Modell von Frauke Schrumpf, die das "book buddy", das "Bücher-Kumpel"-System aus Kanada importiert hat. Vier Jahre hat sie dort gelebt und mit Begeisterung verfolgt, wie Grundschüler Kindergartenkindern vorlesen und ihnen Geschichten erzählen. "Großer Vorteil in Kanada ist allerdings, dass Kindergartenkinder zusammen mit den Schulkindern bis einschließlich der Klasse acht in dieselbe Schule bzw. dasselbe Gebäude gehen. Dies macht Organisation und Austausch natürlich leichter." Trotzdem hat sie nach ihrer Rückkehr aus Kanada versucht, auch in Deutschland das System ins Leben zu rufen.

Verbesserung der Lesekompetenz
Verfolgt wird mit dem Projekt in erster Linie eine Verbesserung der Lesekompetenz. PISA hat gezeigt, dass es deutschen Kindern an Lesekompetenz mangelt. Dadurch können sie Literaturaufgaben oft nicht korrekt lösen und Mathematikaufgaben nicht richtig verstehen. Die Eltern im Kreiselternrat Goslar sind sich darüber einig, dass die Grundlagen, ob ein Kind Freude am Lesen hat, schon sehr früh gelegt werden. Deshalb möchten sie gerade den Kindern, deren Leselust von Haus aus nicht gefördert wird, mit dem "book buddy"-Projekt helfen: Grundschulkinder der dritten Klassen besuchen Kinder im Kindergarten und lesen ihnen altersgerechte Geschichten vor. Auf ein Kind kommen ein bis zwei Schüler. Jedes Kind hat also seinen persönlichen "book buddy".

Kreiselternrat: Taten statt Anklage
Die Vorteile liegen für Frau Schrumpf klar auf der Hand: "Die Schulkinder sind motiviert, die richtigen Bücher zu suchen, um ihre kleinen Freunde zu fesseln und damit zu beeindrucken. Von Eltern erfahren wir, dass sie zuhause mit Begeisterung die Bücherregale durchstöbern. Die Kindergartenkinder bekommen Kontakt zu Büchern und dieser wird nicht durch einen Erwachsenen hergestellt, sondern durch ein Kind". Das regelmäßige Vorlesen schult die Kinder im Lesen, Zuhören und im Verstehen von Texten. Die Freude am Lesen und das Interesse für Bücher nehmen zu. Außerdem entwickelt sich eine enge Kooperation zwischen Kindergarten und Grundschule, die ihre Kommunikation untereinander verbessert.
"Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen", meint Herr Kuert vom Kreiselternrat überzeugt und gibt damit zum Ausdruck, dass der Kreiselternrat sich eindeutig nicht in die Masse der Personen einreihen möchte, die nur versucht, einen Schuldigen an der Misere zu finden, sondern sich mit einem ganz konkreten Vorschlag an die Grundschulen und Kindergärten wendet.

Der Startschuss
Und der Vorschlag hat Erfolg! Im Herbst 2002 startete Frauke Schrumpf als Vorsitzende des Kreiselternrates im Landkreis Goslar einen Aufruf. Sie hoffte, je fünf Kindergärten und Schulen zu finden, die dazu bereit waren, das System zu testen. Stattdessen meldeten sich je 28 Grundschulen und Kindergärten und starteten noch im gleichen Schuljahr die Initiative, andere folgten Ostern oder ziehen mit Beginn des Schuljahres 2003/2004 nach.

Mit dabei: Grundschule und Kindergarten in Jerstedt
Gleichermaßen am Projekt interessiert sind Schule und Kindergarten aufeinander zugegangen und haben sich über Teilnahme und Umsetzung verständigt. Da es nur eine Grundschule und einen Kindergarten in Jerstedt gibt und beide nicht weit voneinander entfernt liegen, hatte man gute Voraussetzungen und sich schnell geeinigt. "PISA schwirrte ohnehin in unser allen Köpfen. Ich selber war erschrocken darüber, wie wenig die Kinder im Kindergarten zuhören können und wie wenig Interesse an Büchern besteht. Man merkt sofort, wem zu Hause vorgelesen wird und wem nicht" meint Frau Dittmer, die Leiterin des Kindergartens. Das "book buddy"-Projekt kam ihren Plänen, Schrift und Wort in ihrem Kindergarten mehr zu fördern, entgegen.

Kinder lernen zuzuhören
In der Grundschule wurde das System im Rahmen des Faches "Übendes Lernen" eingeführt. Die Schülerinnen und Schüler der dritten Klassen hatten zunächst die Aufgabe, in der Stadtbibliothek nach entsprechend altersgerechter Literatur zu suchen und zu Hause lesen zu üben, bevor sie gemeinsam in den Kindergarten gingen, um sich und ihre Bücher vorzustellen. Dort setzten sich alle gemeinsam in einen Kreis und die Kinder konnten aussuchen, ob sie von Hendrik "Willi Wiberg" oder von Jenny "Pipi Langstrumpf" vorgelesen bekommen haben wollten. Gemeinsam haben sie sich dann in kuschelige Ecken verkrochen. Nicht selten waren einige Schüler durchaus empört, "wenn die Kinder gar nicht zuhören wollten" erzählt Frau Rappmann, die Schulleiterin. Aber das hat sich schnell gelegt. Wenn sich alle wieder in der Halle trafen und die Lehrerinnen und Erzieherinnen Fragen zu den Geschichten stellten, hat sich herausgestellt, dass sie doch eine Menge mitbekommen haben, auch wenn es zunächst gar nicht so aussah.

Wichtiger Aspekt: Der Schulbesuch
Jeden Freitag, wenn die Schüler für eine Stunde in den Kindergarten kommen, werden die "book buddies" dann gewechselt. Die Kinder entscheiden meist nach Sympathie oder auch nach Buchtitel und Vorlesequalität, so Frau Dittmer. So kann es natürlich sein, dass einige "book buddies" besonders begehrt sind. Das Lehrpersonal achtet aber darauf, dass keiner ausgeschlossen wird.
Im zweiten Halbjahr besuchten die Kinder ihre "Bücher-Kumpel" dann in der Schule. Das hatte den Vorteil, dass sie bereits etwas "Schulluft" schnuppern konnten und Schulelemente kennen lernten, wie am Tisch zu sitzen oder eine Sache anzufangen und zu Ende zu bringen. Am Ende des Schuljahres bewegten sie sich in der Schule bereits ziemlich selbstsicher und auch die Drittklässer trauten sich immer mehr zu.

Förderung der sozialen Kompetenz
Im Laufe der Zeit sind zwischen den Kindergartenkindern und ihren "book buddies" richtige Freundschaften entstanden. Aus diesem Grunde werden auch überwiegend ältere Kindergartenkinder, die kurz vor der Einschulung stehen, und Drittklässler ausgewählt: Besuchen die Kindergartenkinder dann die erste Klasse, sind die Drittklässler in der Vierten. Die "Großen" gehen aufgrund ihrer Erfahrungen bedeutend vorsichtiger und netter mit den Kleinen um. "Sie hauen nicht mehr wie üblich auf sie ein", bemerkt Frau Rappmann die positive Entwicklung. Sie haben gelernt, Verantwortung für die Kleinen zu tragen. Aber auch die "Kleinen" haben ihre Berührungsängste verloren. Durch die regelmäßigen Besuche des Schulgebäudes und den Kontakt mit Lehrpersonal und älteren Schülern sind die ersten Hemmschwellen bereits abgebaut. Kinder haben Schule in angenehmer Atmosphäre kennen gelernt. "Und damit beinhaltet das Projekt auch eine starke soziale Komponente", sind sich alle einig.

"Book buddy" weckt also nicht nur Leselust, sondern auch Lust auf Schule, und damit hat dieses Projekt schon sehr viel erreicht!


Ansprechpartnerin: Frauke Schrumpf , Kreiselternrat Goslar

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 24.07.2003
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