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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 07.04.2003:

„Türkisch muss zeugnis- und versetzungsrelevantes Fach werden“

Die Einführung des Faches „Türkisch“ an deutschen Schulen soll die Bildungssituation der Kinder türkischer Herkunft verbessern
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Türkischer Elternverein

"Bir, iki, uc, dört" - "Eins, zwei, drei, vier", spricht Orhan der Lehrerin nach. Orhan hat Glück. Er besucht die erste Klasse einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg, in der er seine Muttersprache Türkisch ebenso wie Deutsch, die Sprache seines Heimatlandes, lernt. Damit ist er eines von wenigen türkischen Kindern in Deutschland, die zweisprachig unterrichtet werden. Seine Chancen auf einen guten Schulabschluss sind damit größer als die der meisten Kinder türkischer Herkunft.
Die Bildungssituation der Kinder aus Migrantenfamilien in Deutschland ist trotz eines positiven Trends ausgesprochen schlecht. Knapp 20 Prozent verließen im Jahr 2000 die Schule ohne Abschluss, gerade 42 Prozent erlangten den Hauptschulabschluss. Ihr Anteil an den Gymnasien beträgt gerade 4 Prozent. Damit haben insgesamt 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunft keine oder nur sehr geringe Berufsbildungschancen! Fehlende Deutschkenntnisse sowie mangelnde Sprachfähigkeiten werden als Hauptursachen diagnostiziert. Dies trifft insbesondere für die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten, die Türken, zu.

Türken: Fehlende Deutschkenntnisse und sozial schwache Stellung
Auch wenn viele der ca. 2,5 Millionen Türken bereits in der dritten Generation in Deutschland leben und ihre Kinder hier geboren sind, beherrschen immer noch viele von ihnen die deutsche Sprache nicht. Mangelnde Sprachfähigkeit und Unkenntnis des deutschen Schulsystems - viele Türken haben in Deutschland nie eine Schule besucht - sind dafür verantwortlich, dass türkische Eltern ihre Kinder oft nicht angemessen beraten und unterstützen können. Ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler türkischer Herkunft braucht deshalb Hausaufgabenhilfe und Nachhilfeunterricht. Hinzu kommt ihre sozial schwache Stellung. Arbeitslosigkeit ist unter ihnen etwa zweimal so hoch wie unter Deutschen. Ein jahrelanger Schulbesuch wird in sozial schwachen Familien zum Teil nicht gern gesehen und nicht gefördert. Und wie ausschlaggebend die soziale Herkunft für den Schulerfolg der Kinder in Deutschland ist, hat erst kürzlich die PISA-Studie wieder offen gelegt: Kinder aus Akademikerfamilien haben viermal größere Abiturchancen als Kinder aus Facharbeiterfamilien.

Institutionelle Diskriminierung
Den meisten türkischen Eltern ist es dennoch sehr wichtig, dass ihre Kinder einen guten Abschluss machen. Sie sollen es einmal besser haben als sie. Nach ihrer Erfahrung scheitern die Kinder aber nicht nur an ihren schlechten Deutschkenntnissen, sondern sie bekommen vom Schulsystem von vornherein keine Chance. Selbst bei guten Leistungen in der Grundschule wird beispielsweise vom Besuch eines Gymnasiums abgeraten. Das hat Fatima Isiklar aus Köln erlebt. Ihre Tochter hat trotz guter Noten keine Gymnasialempfehlung bekommen. "Meine Tochter hat fast ausschließlich Zweien und Einsen auf dem Zeugnis und soll trotzdem die Realschule besuchen!" klagt sie. Die meisten Eltern fühlen sich nicht ernst genommen und aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert.
Eine von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke von der Universität Frankfurt/Main durchgeführte Studie bestätigt diese Erfahrung der "institutionellen Diskriminierung". Sie finden viele Belege dafür, dass die Benachteiligung von Kindern aus Zuwandererfamilien nicht nur deren Eigenschaften, Begabungen oder migrationsbedingten Startnachteilen zuzurechnen ist, sondern von der "Institution Schule" selbst erzeugt wird. Die Forscher weisen auf statistische Auffälligkeiten an den Schnittstellen wie Einschulung, Übergang zu weiterführenden Schulen sowie Sonderschul-Aufnahmeverfahren hin. Danach werden die Selektionsentscheidungen an den verschiedenen Entscheidungsstellen nach komplexen organisatorischen Kalkülen gefällt. Zu volle oder zu leere Klassen, fehlende Kindergartenzeiten oder der soziale- und Migrationshintergrund entscheiden letztlich über die Schulempfehlungen und Versetzungen. Türkischen Eltern wie Fatima Isiklar, die ihre Kinder wegen guter Noten aufs Gymnasium schicken möchten, wird der Wunsch vergleichsweise oft als "unrealistisch" ausgeredet. Die sprachlichen Schwierigkeiten seien zu enorm, argumentieren die Lehrkräfte. Das Scheitern werde fast schon "gesetzmäßig" vorausgesagt. In diesen Fällen werde oft pauschal die Gesamtschule empfohlen. Und so kommt es, dass Kinder ausländischer Herkunft mit 17,6 Prozent bzw. 15,4 Prozent an Haupt- und Sonderschulen überrepräsentiert sind. Dabei bedeutet die Überweisung eines Kindes wegen mangelnder Sprachfähigkeit auf eine Sonderschule für Lernbehinderte meistens den Ausschluss aus der Gesellschaft: Sie ist diejenige Schulform, in der am wenigsten Sprachunterricht stattfindet!

Vertrauensverlust in die deutschen Institutionen
Die Folge davon ist das sinkende Vertrauen türkischer Eltern in die Schulen und die deutschen Institutionen. Die Unsicherheit gegenüber der deutschen Schule, die Angst vor Behörden, der ungesicherte Rechtsstatus und die jeweiligen alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen bilden Hemmschwellen, die verhindern, dass sich türkische Eltern aktiv in die Elternarbeit einbringen und in Schulgremien einsetzen bzw. ihre Kinder unterstützen. Die Kinder bleiben oft sich selbst überlassen. Sie fühlen sich ausgegrenzt, als "Mischlinge" und Außenseiter, die trotz ihrer Integrationsbemühungen immer noch als Fremde betrachtet werden.
Viele Eltern haben sich deswegen türkischen Elternvereinen angeschlossen, in denen sie lernen, sich aktiv für die Belange ihrer Kinder einzusetzen. Gemeinsam kämpfen sie für mehr Anerkennung und Chancengleichheit ihrer Kinder.

Forderung: Die Einführung des Faches "Türkisch" an den Schulen
Chancengleichheit in der Ausbildung ihrer Kinder sehen die Eltern nur dann gewährleistet, wenn ihre Muttersprache Türkisch flächendeckend als zeugnis- und versetzungsrelevantes Fach an den Schulen eingeführt wird. "In der Wissenschaft wird die Beherrschung der Muttersprache als eine wesentliche Voraussetzung für das erfolgreiche Erlernen weiterer Sprachen sowie für die Festigung der eigenen Persönlichkeit schon lange gesehen" weiß Dr. Ertekin Özcan, Bundesvorstand der Föderation türkischer Elternvereine. "Jeglicher Fremdsprachenerwerb erfolgt in der Auseinandersetzung mit der Herkunftssprache." Die Ignorierung oder gar Unterdrückung der Erstsprache erschwert den Erwerb der Zweitsprache. Deshalb wird eine volle Zweisprachigkeit der Migrantenkinder in der Grundschule angestrebt, um das Gelingen der Alphabetisierung und den Erwerb der deutschen Sprache auf angemessenem Niveau überhaupt erst möglich zu machen. Eine systematische zweisprachige Erziehung von der Kita bis zum Ende der Pflichtschulzeit, besonders aber in den ersten drei Jahren von der Vorklasse bis zur Klasse 2.

Koordinierte Zweisprachigkeit erfordert Umdenken in Bildung und Erziehung
Die Kinder sollen von deutschen Lehrkräften und von nichtdeutschen Muttersprachlern in beiden Sprachen unterrichtet werden. Alphabetisierung und Fremdsprachenerwerb werden dabei getrennt. Die Kinder lernen zunächst in ihrer Familiensprache lesen und schreiben und erhalten daneben Deutschunterricht nach einer ausgewiesenen Fremdsprachendidaktik. Nach dem Vorbild der Europaschulen soll in den Sachfächern bis zum Ende der Pflichtschulzeit Unterricht auch in den Herkunftssprachen stattfinden. Lehrer und Erzieher müssen im Rahmen der interkulturellen und mehrsprachigen Erziehung geschult werden. Abiturienten mit den benötigten Muttersprachen sollen für das Lehramtstudium geworben werden. Nach Ansicht vieler Eltern führt eine koordinierte Zweisprachigkeit zu mehr Akzeptanz und Integration der Migranten, insbesondere der Türken. "Allerdings sind die Lehrpläne immer noch monokulturell auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft ausgerichtet". Eine interkulturelle Erziehung wird gefordert: Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts und eine verstärkte Darstellung der türkischen Kultur in den Schulbüchern könnten ein Anfang sein.

"Deutschland ist unumkehrbar ein Einwanderungsland geworden", sagte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, bereits 1979 in seinem Memorandum zur Ausländerpolitik. Heute nach mehr als 40 Jahren Migration ist Deutschland unumkehrbar eine multikulturelle Gesellschaft geworden. Nach Ansicht vieler türkischer Eltern ist es endlich an der Zeit, dass die multikulturelle Zusammensetzung der Schülerschaft anerkannt und die Sprachen- und Kulturenvielfalt als Lernressource zugelassen wird. Nur so kann die ungleiche Behandlung deutscher Kinder und Kinder ausländischer Herkunft aufgehoben werden. Und endlich könnten alle türkischen Kinder zweisprachig unterrichtet werden und damit Aussicht auf einen guten Schulabschluss haben, so wie Orhan.

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 07.04.2003
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