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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 23.03.2017:

„Ein Haus, in dem Migranten und Einheimische gemeinsam wohnen.“

Auf der „Refugee Summer School“ wurde nach der Design Thinking-Methode ein Prototyp für ein interkulturelles Haus entworfen
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: Heike Ernst

Die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin hat als erste Hochschule in Europa im September 2016 eine „Refugee Summer School“ nach der Methode „Design Thinking and Human Values“ für Studierende und geflüchtete Menschen angeboten. Dabei entwarfen die Teilnehmenden den Prototypen für ein interkulturelles Haus in Berlin, in dem Migranten und Einheimische gemeinsam leben können. Die Online-Redaktion von „Bildung + Innovation“ sprach mit Projektleiterin Heike Ernst über die Methode „Design Thinking“, den Verlauf und die Ergebnisse der „Refugee Summer School.“


Online-Redaktion: Wie entstand die Idee zu der „Refugee Summer School“?

Ernst: Junge Geflüchtete aus dem Übergangswohnheim Alfred-Randt-Str. in Berlin hatten in dem Fotoprojekt „Neues aus der Fremde“, das sie mit der Fotografin Anne-Maria Preußel und der Sozialarbeiterin Irina Lautenschläger durchgeführt hatten, ihren Blick auf Berlin in Fotos festgehalten. Diese Arbeit hat mich sehr beeindruckt. Ich wollte diesen Menschen die Möglichkeit geben, die Hochschule kennenzulernen und sich mit Studierenden zu vernetzen und habe deshalb das Thema „Refugees“ im Wahlpflichtfachbereich „Design Thinking and Human Values“ platziert. Meine Studierenden und ich wollten in engem Austausch mit den geflüchteten Menschen herausfinden, welche Bedürfnisse sie haben, welche Produkte und Dienstleistungen für sie wichtig sind und auf welchem Wege ein kultureller Austausch am besten gelingen könnte. Nach vielen Gesprächen entschieden wir uns für ein „Cross Cultural Festival“, zu dem wir geflüchtete Menschen via Facebook auf den Campus der Hochschule einluden. Das Festival war ein großer Erfolg. Die Menschen sind intensiv miteinander ins Gespräch gekommen und wollten unbedingt ein Follow up. Daraus entstand dann die Idee zur „Refugee Summer School“.

Online-Redaktion: Was genau ist „Design-Thinking and Human Values“?

Ernst: Design Thinking ist eine Innovationsmethode, die zum Lösen von Problemen und zur Entwicklung neuer Ideen für Produkte, Dienstleistungen und Unternehmensstrategien führen soll. Wichtig ist, dass die Lösungen aus Anwendersicht überzeugend sind. Die Lehrmethode hat viele Mütter und Väter und wird ständig weiter entwickelt. Populär geworden ist sie in Deutschland vor allem durch Hasso Plattner, einem der Gründer von SAP. Er hatte Design Thinking in den USA kennengelernt und mit der Gründung der d.school, Hasso Plattner Institute of Design at Stanford University und des HPI School of Design Thinking in Potsdam das Thema weiter vorangetrieben. Inzwischen wird diese Methode an einigen Hochschulen gelehrt und in Unternehmen erfolgreich angewandt.

Seit 2010 gibt es das Fach „Design Thinking and Human Values“ an der HTW Berlin. Jedes Semester stellen sich Studierende der Herausforderung in multinationalen und interdisziplinären Teams ein innovatives Produkt, eine Dienstleistung oder eine Strategie zu gestalten und zu realisieren. Dabei werden sie dazu angehalten, „in den Schuhen des Kunden zu laufen“, zu verstehen, welche Bedürfnisse ein Mensch hat und welches Produkt zu diesen Bedürfnissen passt. Wichtig ist, dass die Studierenden eine Herausforderung bearbeiten, für die sie brennen. In dem iterativen Prozess kommen sechs Schritte zur Anwendung: den Kunden und seine Lebenssituationen zu verstehen, zu beobachten und Empathie für ihn zu entwickeln. Unter Berücksichtigung von technischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Aspekten einen Standpunkt zu definieren, eine Design Aufgabe zu benennen und möglichst viele Ideen für die Lösung dieser Aufgabe zu generieren sowie schließlich einen Prototypen zu bauen, der am Ende noch getestet wird. Durch Abbildungen des Kunden in Form von Collagen oder in Rollenspielen ist dieser immer „mit im Raum“ und wird in den Design Prozess miteinbezogen. Das ist eine sehr komplexe Methode des Lernens und Lehrens, die unter die Haut geht, Kreativität und Empathie fordert und fördert, Fehler zulässt, Kommunikation und Networking generiert und schnell zu Ergebnissen führt. Durch die interdisziplinäre und internationale Zusammensetzung der Kurse wird ein Denken „out of the box“ gewährleistet.

Online-Redaktion: Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit dieser Methode gemacht?

Ernst: Ich arbeite seit 2010, nach einem Besuch der d.school in Stanford, an der HTW Berlin und auch an der KinderUni der Freien Universität Berlin mit dieser Methode. Wir haben in verschiedenen Seminaren ganz unterschiedliche Produkte, Dienstleistungen und Strategien entwickelt. Zum Beispiel die MerryLectric, ein durch Bewegung von Kindern Strom erzeugendes Spielzeug für die Laptops von Schulkindern in Peru, ein „eCart“ als Einkaufswagen mit einem Display, das Auskunft über Herkunft, Inhaltsstoffe und Verwendungsmöglichkeiten von Supermarktprodukten gibt oder die Entwicklung und Einführung des „Campus Cup“ als wiederverwendbarem „To-Go“-Trinkbecher für die Mensen in Berlin. Spannend bei der Arbeit mit Unternehmen ist es, wenn diese ein Change Management einleiten und es darum geht, in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen: Wie kann mein Unternehmen in 20 Jahren aussehen? Wer sind dann meine Kunden und welche Produkte wünschen sie sich?

Online-Redaktion:
Was war das Thema der „Refugee Summer School“ im September?

Ernst: Unsere Aufgabe während der „Summer School“ bestand darin, anhand der Innovationsmethode „Design Thinking and Human Values“ innerhalb einer Woche das Modell für ein interkulturelles Haus – ein konkretes Bauvorhaben der SozDia Stiftung in Berlin – zu entwerfen, in dem Studierende, „Refugees and Migrants“ sowie Menschen mit geringem Einkommen gemeinsam wohnen können. Entstanden ist ein Prototyp für ein Haus, das Raum für interkulturelle Begegnungen, Co Working, Kunst und Kreativität sowie Wohnen in unterschiedlichen Formen bietet.

Online-Redaktion: Wer war an dem Workshop beteiligt?

Ernst: An dem Projekt haben zehn geflohene Menschen, die in Berlin leben, und zehn internationale Studierende der HTW Berlin, der Uni Potsdam und der Hochschule Eberswalde teilgenommen. An Bord waren Menschen gebürtig aus Syrien, dem Iran, Südkorea, Bangladesch, Pakistan, Österreich, Kroatien und Deutschland. Die „Summer School“ war Bestandteil des Programms „HTW-Integra - studienvorbereitende Maßnahmen für Geflüchtete", das vom DAAD aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Sie stand unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr.-Ing. habil. Birgit Müller, Vizepräsidentin für Lehre an der HTW Berlin, und wurde maßgeblich unterstützt von Birgitta Kinscher und Maria Anne Schmidt. Die „Summer School“ gehörte zum Angebot des AWE-Fachbereichs Informatik, Kommunikation und Wirtschaft und wurde von der Prodekanin des Fachbereichs, Frau Prof. Molthagen Schnöring, gefördert.

Online-Redaktion: Wie verlief sie?

Ernst: Die „Summer School“ ging über sieben Tage und fand in den Räumen des Fachbereichs für Gestaltung statt. Der erste Tag stand im Zeichen des Kennenlernens und des Team Trainings. Am zweiten Tag ging es dann los mit dem ersten der sechs Schritte des Design Thinking-Prozesses, dem Verstehen, an dessen Ende, also am siebten Tag, das Modell für das interkulturelle Haus zum Test bereit stehen sollte. Auf dem Programm standen Exkursionen zum Refugio Sharehouse, einem Wohnprojekt der Inneren Mission für geflüchtete Menschen, zu den Spreehöfen und anderen Cohousing und Urban Gardening Projekten in Berlin unter Führung von Michael LaFond von id22. Ebenso führten wir Street Interviews mit Menschen an den Hot Spots von Berlin zum Thema „Wohnen der Zukunft“ und „Spirit of Berlin“ durch. Nach der Etappe des Verstehens, was nachhaltiges und soziales Bauen sein kann, dem Beobachten und Erspüren der Atmosphäre dieser Stadt, führten wir an dem geplanten Bauplatz in Lichtenberg Expertengespräche mit der SozDia Stiftung und den Menschen, die auf dem Kitagelände arbeiten und von dem Bauvorhaben betroffen sind. Die Kinder wurden ebenfalls befragt, um herauszufinden, welche Wünsche sie haben. Schließlich wurden alle Beobachtungen aufgeschrieben und auf einer großen Wand gesammelt und geclustert. Dann versuchten wir in Interviews zu erfahren, welche kulturellen Formen des Wohnens und Miteinanderlebens bezeichnend sind für die Länder, aus denen die Teilnehmer/innen der „Summer School“ stammen. In Rollenspielen wurde geklärt, auf welche einzelnen Bedürfnisse und Wünsche unbedingt Rücksicht zu nehmen ist, um ein interkulturelles miteinander Wohnen, Leben und Arbeiten in dem Haus zu ermöglichen. Erste Skizzen wurden angefertigt und am nächsten Tag bei der degewo AG, dem größten Berliner Wohnungsunternehmen in deren Vorstandsetage präsentiert. Dabei erhielt das Team wertvolle Ratschläge. An den letzten beiden Tagen fertigten wir das Modell für das interkulturelle Haus an und stellten es der SozDia Stiftung und später dem Architekturbüro, das mit dem Bau beauftragt werden soll, vor. Dort trafen die Vorschläge auf großes Interesse. Nun hoffen wir alle, dass einige Ideen aufgenommen werden.

Online-Redaktion: Wie lässt sich das Haus am besten beschreiben?

Ernst:
Zwei Teilnehmer der „Summer School“ haben es vortrefflich formuliert. Nach Aziz Khowaja aus Pakistan soll das Haus ein „D.U.H - Diversity Umbrella Home” sein, in dem „People from different parts of the world speak different languages from different cultures and have different traditions live together under one umbrella of diversity to make future peaceful, caring and loving”. Für Tarek Alkhateeb aus Syrien ist es ein Haus „Under Rainbow: Under the roof of peace and tolerance our intercultural house has been designed and developed to be a home of life, art, culture, love and future. Our vision of our home reflects our desire to improve our life not only physically but also intellectually.”

Online-Redaktion: Wie geht es weiter? Wird es eine weitere „Summer School“ geben?

Ernst: Während dieser Woche sind wir alle zu einem fest zusammengeschweißten Team geworden. Einer der Geflüchteten sagte, dass er sich seit neuneinhalb Monaten zum ersten Mal wieder lebendig fühle. Der Besuch des Seminars hat ihm so viel Auftrieb gegeben, dass er wieder fähig war, sein Leben aktiv in die eigenen Hände zu nehmen. In dieser Zeit ist ein so starker Wunsch bei uns allen entstanden, weiter am Thema zu bleiben, dass eine Arbeitsgruppe von Studierenden und geflüchteten Menschen eine nächste „Summer School“ plant. Diesmal geht es um „Intercultural Fashion & Furniture“ unter Einbeziehung von Start-ups für nachhaltige Mode und Wohnkultur. Außerdem gründe ich zurzeit das Unternehmen „ROOTPACKER. Academy for Intercultural Innovation, Design Thinking and Human Values“, das für Schulen, Universitäten, Institutionen und geflüchtete Menschen Open Design Cities und Seminare in Intercultural Innovation und Design Thinking and Human Values anbietet. Es stehen also noch eine Reihe weiterer interessanter Projekte in Planung, die demnächst auf der Seite ROOTPACKER vorgestellt werden.


Dipl.-Theol. Heike Ernst ist Gründerin von ROOTPACKER. Academy for Intercultural Innovation, Design Thinking and Human Values. Als Dozentin und Coach bietet sie Seminare, Summer Schools, Projektwochen und Open Design Cities für Schulen, Universitäten, Kinder Unis, Unternehmen, Institutionen, geflohene Menschen und Einzelpersonen mit den Innovationsmethoden Design Thinking und Intercultural Innovation an.

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 23.03.2017
© Innovationsportal

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