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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 04.04.2002:

"Unsere Erzieherinnen können in Europa nicht vermittelt werden"

Deutschland braucht ein Bildungskonzept für den frühkindlichen Bereich
Das Bild zum Artikel
Prof. Wassilios E. Fthenakis

Forum Bildung: Vorausgesetzt, es wäre möglich, eine PISA-Studie für den frühkindlichen Bereich durchzuführen. Wo würde Deutschland stehen?

Fthenakis: Die OECD hat im vergangenen Jahr die Ergebnisse einer vergleichenden Studie über Systeme der Erziehung und Bildung im vorschulischen Bereich vorgelegt, an der sich 12 Länder beteiligt haben, davon 10 europäische Länder. Deutschland hat sich an dieser Studie nicht beteiligt.
Die Studie ist ein Überbringer schlechter Botschaften für uns. Betrachtet man die Qualität der Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte, so wird man feststellen, dass Deutschland und Österreich das formal niedrigste Niveau an Ausbildung bieten, während alle anderen europäischen Länder die Ausbildung der Fachkräfte auf Fachhochschul-, die meisten sogar auf universitärem Niveau organisieren. Das bedeutet: Unsere Erzieherinnen können heute in Europa nicht vermittelt werden.

Forum Bildung: Fällt im Vergleich zu anderen Ländern nur die Ausbildung negativ ins Auge?

Fthenakis: Nein. Deutschland bleibt eines der wenigen Länder in der Welt, das den Bereich der vorschulischen Erziehung ohne ein Bildungskonzept belässt.
Was Innovationen in diesem Bereich betrifft, so wird man europaweit eine Vielfalt von neuen Anstrengungen vorfinden. Zum Beispiel spezielle Programme, um auch Männer für diesen Beruf zu gewinnen, neue Formen der Steuerung des Systems, beteiligungsorientierte multiperspektivische Ansätze zur Einschätzung und Weiterentwicklung von pädagogischer Qualität, einen gezielten Einsatz von Sonderfonds, eine systematische Verbreitung von Forschungsergebnissen, unterstützende Maßnahmen für Selbstevaluation und praxisbegleitende Forschung und nicht zuletzt die Etablierung eines demokratisch organisierten Systems der Rückmeldung über Qualität, in das die Eltern eingebunden sind. Mit anderen Worten: Eine PISA-Studie für den vorschulischen Bereich würde uns im internationalen Vergleich vermutlich einen der hinteren Plätze zuweisen.

Forum Bildung: Die EU-Kommission legte 1996 in einem Aktionsprogramm fest, was Kindertageseinrichtungen zu vermitteln haben, zum Beispiel "Verständnis für mathematische, biologische, naturwissenschaftliche, technische und ökologische Konzepte". Das setzt ein Bildungskonzept voraus, das andere Länder wie Schweden oder England bereits entwickelt haben. Warum tut sich Deutschland so schwer?

Fthenakis: Die Gründe hierfür sind vielfältiger Natur. Die kommunale Zuständigkeit, das heißt die Verlegung der Verantwortung auf den unteren Verwaltungsbereich im System, ist keine gute Voraussetzung, um notwendige Reformen auf Landesebene zu initiieren.
Die vorschulischen Einrichtungen haben ein pädagogisches Konzept, den so genannten Situationsansatz, über Jahrzehnte angewandt, ohne diese Konzeption bezüglich ihres Beitrags an der Stärkung kindlicher Entwicklung und kindlicher Kompetenzen zu hinterfragen. Hinzu kam, dass in unseren Einrichtungen die kognitive Entwicklung des Kindes nicht angemessen gefördert wurde und die von Ihnen angesprochenen Förderungsbereiche tatsächlich primär ein Schattendasein geführt haben.

Forum Bildung: Wenn man den Lippenbekenntnissen der Politiker Glauben schenkt, soll sich das ja bald ändern. Da es anscheinend viel zu tun gibt: Wo setzt man an?

Fthenakis: Aus meiner Sicht gibt es drei Bereiche in der Bildung und Erziehung der Kinder in Deutschland, die nicht mehr auf Reformen warten können: Das ist erstens die Ausbildung des Personals, zweitens die Entwicklung und Implementation eines Bildungskonzeptes und drittens eine andere Steuerung des Systems. Was heute pädagogisch in den Einrichtungen geboten wird, ist nicht ausreichend, um feste Fundamente für das Bildungssystem zu legen.

Forum Bildung: Was wären die Eckpfeiler für ein Bildungskonzept?

Fthenakis: Wir definieren zunächst Bildung nicht mehr als einen Ansatz, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt ("Das Kind bildet sich selbst!"), sondern als sozialen Prozess, an dem sich Fachkräfte und Eltern, aber auch die Kinder selbst aktiv beteiligen. Das bedeutet, Bildung wird als Ko-Konstruktion konzeptualisiert.
Zudem müssen zeitgemäße Bildungskonzepte sensibler als bisher auf kulturelle Diversität, soziale Komplexität, auf kontextuelle Veränderungen und Belastungen, wie zum Beispiel Mobilität, soziale Ausgrenzung und Armut reagieren. Im Mittelpunkt aller Bemühungen steht allerdings das Kind und das Anliegen, ihm lernmethodische Kompetenz zu vermitteln und vor allem, es in seiner Entwicklung zu fördern. Die Stärkung kindlicher Kompetenzen von Anfang an, das heißt bereits unmittelbar nach der Geburt lässt die Bedeutung der Bildung im vorschulischen Bereich in einem neuen Licht erscheinen. Dies kann man am besten an der frühen Stärkung von Sprachkompetenz veranschaulichen: Im Rahmen der Untersuchung von `Literacy' liegen etliche Arbeiten vor, die belegen, dass die Entwicklung von Sprachkompetenz bereits in den ersten Monaten nach der Geburt des Kindes in der Familie beginnt.

Forum Bildung: Wie kann ein Bildungskonzept der Gefahr der Standardisierung aus dem Weg gehen? Schließlich gibt es zwischen Hamburg und München regionale, kulturelle und demographische Unterschiede...

Fthenakis: Was den Bildungsplan betrifft, sollten wir ähnlich wie Schweden verfahren: Einen relativ breiten, das heißt nicht wie in der Schule eng gefassten, Plan zu entwerfen und diesen verbindlich für alle Tageseinrichtungen zu erklären. Ein solcher Rahmen könnte die Grundlage sein, um Qualitätsstandards für die pädagogische Arbeit zu definieren, den pädagogischen Fachkräften Orientierung und Unterstützung in ihrer Arbeit zu geben und, wohl nicht zuletzt, eine Verständigung zwischen Eltern und Fachkräften bezüglich der Bildungsziele zu ermöglichen und zu fördern. Was wir vermeiden sollten, ist jedoch, einen Plan zu verabschieden, der Kreativität und Vielfalt zugunsten einer Standardisierung opfert.

Forum Bildung: Ein Bildungskonzept braucht auch eine Qualitätskontrolle. Diese lässt sich entweder standardisiert als Einschätzung von außen oder unter Einbeziehung aller Beteiligten durchführen. Was verspricht mehr Erfolg?

Fthenakis: Ich verhehle nicht, dass ich erhebliche Skepsis habe, ob es uns mit Hilfe des ersten Ansatzes allein gelingen wird, Qualität zu sichern und weiter zu entwickeln.

Forum Bildung: Ein Steuerungsinstrument sollen ja die KitaCards sein, die gerade in Hamburg diskutiert werden. Bildungsgutscheine, die Eltern in der Einrichtung ihrer Wahl einlösen können. Ist dieses nachfrageorientierte Steuerungsinstrument erfolgsversprechend?

Fthenakis: Hierzu möchte ich anmerken, dass mir kein einziges Land der Welt bekannt ist, das mit Hilfe eines solchen Steuerungssystems einen so komplexen Bereich, wie die Bildung und Erziehung von Kindern unter sechs Jahren, erfolgreich hätte steuern können.
In Amerika wurde dieses Instrument Ende der achtziger Jahre diskutiert. In einer Studie in Milwaukee wurde es sogar empirisch überprüft und die von Witte publizierte Monographie kommt zu der Erkenntnis, das Gutscheine keine geeigneten Steuerungsinstrumente für Bildungsprozesse sind.
In England hat man dieses System im Jahre 1997 eingeführt und nach sieben Monaten wieder zurückgenommen. Ich möchte es mit diesen wenigen Hinweisen bewenden lassen, um lediglich auf die Gefahr hinzuweisen, mit ökonomischen Steuerungsmechanismen, die anderweitig erforderlich sind, das Bildungssystem im vorschulischen Bereich angemessen steuern zu wollen, denn hierfür sind sie ungeeignet.

Forum Bildung: Wir haben nun schon öfters die Ausbildung der Erzieher angesprochen. Was müsste sich in der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern ändern, um international den Anschluss zu halten?

Fthenakis: Genaugenommen die Gesamtkonzeption. Sowohl das Niveau der Ausbildung muss angehoben, als auch deren Qualität verbessert werden. Die EU-Kommission hat in den erwähnten Empfehlungen deutlich gemacht, dass generell das Abitur als Eingangsbedingung anzustreben ist. Das Studium muss so organisiert sein, dass es einen Rahmen bietet, in dem die Erzieherinnen lernen, Kinder zu beobachten, die Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind kindgerecht zu gestalten sowie eine befriedigende Kommunikation und Kooperation mit den Eltern herzustellen. Vor allem hat die Ausbildung künftige Fachkräfte auf die Steuerung von Lernprozessen vorzubereiten und ihnen zu vermitteln, wie sie diese fachlich kompetent begleiten und evaluieren können.

Forum Bildung: Wo würden Sie als Politiker konkret als Erstes ansetzen?

Fthenakis: Das ist eine schwierige Frage, weil man eigentlich keinen Aspekt der notwendigen Bildungsreformen länger hinauszögern sollte. Dennoch würde ich drei politische Prioritäten setzen:
Erstens die Steuerung des Systems: Wir haben in Deutschland ein auf der einen Seite stark reguliertes und auf der anderen Seite stark dereguliertes System. Wir regulieren Finanzen und die Verwaltung des Vorschulsystems, überlassen aber die Entscheidung, welche Bildung unsere Kinder genießen werden, der einzelnen Fachkraft in den Gruppen. In Wirklichkeit benötigen wir beides, eine starke Regulierung und auch eine starke Deregulierung im System. Dabei bleiben als genuine Verantwortungsbereiche für den Staat das Bildungskonzept, eine auf hohem Niveau organisierte Ausbildung sowie eine damit verbundene Fort- und Weiterbildung der Fachkräfte, und die Entwicklung, Steuerung und Evaluation von pädagogischer Qualität. Alle anderen Bereiche können dereguliert werden. Die Situation in Deutschland ist derzeit jedoch gerade umgekehrt. Wir brauchen eine neue Balance im System der Tagseinrichtungen für Kinder.

Zweitens liegt die Bildung unsere Kinder in genuiner Verantwortung der Eltern, aber der Staat muss sich verpflichten, hierfür die besten Voraussetzungen bereitzustellen, und zwar für alle Kinder. Die Entwicklung eines Bildungsplanes wäre deshalb für mich eine vorrangige politische Aufgabe. Die bayerische Staatsministerin, Frau Stewens, ist meiner Kenntnis nach die erste Landespolitikerin, die einen solchen Auftrag für ein Land erteilt hat.

Und schließlich drittens bedarf es bundesweiter Anstrengungen über die KMK, um zu einer neuen Konzeptualisierung der Erzieherausbildung zu kommen. Die Kinder dieses Landes verdienen es, ein qualitativ hochwertiges, um nicht zu sagen das beste, Bildungsangebot zu bekommen. Es steht in der Verantwortung der Politik, dass es den Kindern nicht versagt bleibt.

Auch als Politiker würde ich über einen Zuschnitt des zuständigen Ministeriums nachdenken. Ich meine, dass wir gut beraten sind, Bildungspolitik, Familien- und Kinder- bzw. Jugendpolitik in einem Haus zu integrieren.

 

Autor(in): Udo Löffler
Kontakt zur Redaktion
Datum: 04.04.2002
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