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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 28.11.2013:

„Wir haben noch Einiges vor uns"

Die Umsetzung der Inklusion stellt die Bundesländer vor viele Herausforderungen
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Studie "Inklusion in Deutschland - eine bildungsstatistische Analyse"
Quelle: Bertelsmann Stiftung

 

Deutschland hat sich 2009 in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dazu verpflichtet, Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen in allgemeinbildenden Schulen gemeinsam in heterogenen Lerngruppen zu unterrichten. Seitdem ist der Inklusionsanteil bundesweit gestiegen. Dennoch ist der Anteil der Förderschüler, die in Sonderschulen unterrichtet werden, im selben Zeitraum annähernd konstant geblieben.



Seitdem Deutschland am 26. März 2009 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat, ist der Begriff Inklusion in aller Munde. Deutschland hat sich in der Konvention dazu verpflichtet, Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen in allgemeinbildenden Schulen gemeinsam in heterogenen Lerngruppen zu unterrichten. Im Gegensatz zu dem Ansatz der Integration und den Integrationsklassen, die es an vielen Schulen in Deutschland schon lange gibt und in denen sich die Kinder mit Behinderungen dem Lehrkonzept der allgemein bildenden Schule anpassen müssen, geht Inklusion davon aus, dass der Unterricht von vorneherein auf die Unterschiedlichkeit der Schüler und individuelles Fördern und Fordern ausgerichtet wird.

Der Inklusionanteil ist bundesweit gestiegen

Laut der im März 2013 vorgestellten Studie „Inklusion in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse“, die Bildungsökonom Professor em. Dr. Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat, ist der Inklusionsanteil bundesweit seit der Verpflichtung in der UN-Konvention von 18,4 auf 25,0 Prozent gestiegen. Das gemeinsame Lernen scheint voranzukommen. Trotzdem ist der Anteil der Förderschüler, die in Sonderschulen unterrichtet werden, im selben Zeitraum annähernd konstant geblieben. Die Exklusionsquote ist in den letzten vier Jahren lediglich von 4,9 auf 4,8 Prozent zurückgegangen. „Für Deutschland kann daher insgesamt festgestellt werden, dass das vermehrte inklusive Unterrichten nicht zu einem Rückgang des Unterrichtens in Förderschulen geführt hat“, so Klemm. Das liegt daran, dass immer mehr Kinder und Jugendliche einen Förderbedarf attestiert bekommen. Insgesamt nehmen die Anteile der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf, die gemeinsam mit Gleichaltrigen ohne Förderbedarf betreut bzw. unterrichtet werden, von Bildungsstufe zu Bildungsstufe ab: In der Kindertagesbetreuung liegt der Inklusionsanteil bei 67,1 Prozent, in den Grundschulen bei 39,2 Prozent und in den weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I bei nur noch 21,9 Prozent.

Große Unterschiede bei den Bundesländern

Die Umsetzung der „inclusive education“ stellt die Schulen und die Kultusministerien vor viele neue Herausforderungen. Bislang gehen von rund 490.000 deutschen Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Tendenz steigend) 365.000 nicht auf eine reguläre Schule, sondern auf eine von mehr als 3000 Förderschulen. Im Zuge dieser Umstrukturierung kommen viele Fragen auf, etwa: „Wie sollen, wenn diese Schüler auf Regelschulen gehen, die dortigen Lehrer damit zurecht kommen?“, „Welche Rolle sollen in Zukunft die Sonderpädagogen übernehmen?“, „Wie wirkt sich das gemeinsame Lernen auf den Unterricht und das Lernniveau aus?“ oder: „Wer soll das bezahlen?“ In den Bundesländern sucht man Antworten auf diese Fragen und vollzieht die Umstrukturierung in einem unterschiedlichen Tempo.

So sind Schleswig-Holstein und Bremen absolute Spitzenreiter, was die Umsetzung von Inklusion im Bildungsbereich angeht. Im Schuljahr 2011/2012 besuchten in Schleswig-Holstein 54,1 Prozent aller Förderschüler eine reguläre Schule, in Bremen sogar 55,5 Prozent. Dicht gefolgt von Berlin mit 47,3 Prozent, Brandenburg mit 40,0 Prozent und dem Saarland mit 39,1 Prozent. In Niedersachsen hingegen werden lediglich 11,1 Prozent der Förderschüler inklusiv unterrichtet, in Hessen 17,3 Prozent und in Nordrhein-Westfalen 19,2 Prozent. Bedeutende Unterschiede bestehen ebenfalls darin, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Kind als förderbedürftig eingestuft wird: In Mecklenburg-Vorpommern (10,9 Prozent) haben anteilig mehr als doppelt so viele Schüler und Schülerinnen besonderen Förderbedarf als in Rheinland-Pfalz oder in Niedersachsen (je 4,9 Prozent). Uneinheitlich präsentieren sich die Schulsysteme auch bei der Bedeutung der Sonderschulen: In Schleswig-Holstein werden lediglich 2,7 Prozent der Schüler separat unterrichtet – in Mecklenburg-Vorpommern besuchen mit 7,6 Prozent anteilig fast dreimal so viele Kinder eine Förderschule.

Jedes Bundesland geht also deutlich anders mit Förderbedarfen von Schülern und der entsprechenden Gestaltung des Schulsystems um. Es fehlen ein gemeinsames Verständnis der Länder, inhaltliche Konzepte und bundesweite Standards. Es herrscht zwar Einigkeit darüber, dass das gemeinsame Lernen Vorrang hat und in einigen Bundesländern, wie Bremen (die Förderschulen als eigene Schulform sind im Schulgesetz Bremen nicht mehr vorgesehen), Berlin oder Hamburg und mit Schuljahresbeginn 2013/14 auch in Niedersachsen, haben die Eltern ein Wahlrecht, in welche Schulform ihr Kind eingeschult werden soll. Trotzdem bestehen in vielen Ländern Einschränkungen: Eine Schule kann die Aufnahme einer Schülerin oder eines Schülers mit festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf ablehnen, wenn die personellen, sachlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine angemessene Förderung nicht vorhanden sind.

Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Inklusion

Teils aus finanziellen, teils aus inhaltlichen Gründen wird der Ausbau der Inklusion vielerorts auf die lange Bank geschoben. In Nordrhein-Westfalen wurde der Rechtsanspruch auf Inklusion nach Vorbehalten von Eltern, Lehrern und Kommunen um ein Jahr verschoben. Er soll zum Schuljahr 2014/2015 starten. In Berlin ist der für das Schuljahr 2014/15 geplante flächendeckende Start der Inklusion aus finanziellen Gründen auf 2016 vertagt worden. Und auch im Inklusions-Vorzeigeland Schleswig-Holstein schwelen die Konflikte. So mahnt die GEW des Landes an, dass ohne eine bessere personelle Ausstattung die Inklusion den Bach herunterzugehen drohe. „Hier muss sofort etwas passieren, um Schaden von Kindern und Lehrkräften abzuwenden“, forderte der GEW-Landesvorsitzende Matthias Heidn am 22. August 2013 in Kiel. Um an den Schulen für bessere Bedingungen zu sorgen, solle das Land auf alle Stellenstreichungen im Schulbereich verzichten. „Es reicht nicht, ein Schild „Inklusion“ an die Schultür zu hängen. Auch die Bedingungen und die Qualität müssen stimmen. Sonst sind Kinder und Lehrerinnen und Lehrer die Leidtragenden.“ Mindestens 1000 zusätzliche Lehrerstellen seien in Schleswig-Holstein erforderlich, damit inklusiver Unterricht sinnvoll gestaltet werden könne. Hinzukommen müssten mehr Fortbildungsangebote für die Lehrkräfte sowie die stärkere Einbeziehung externer Fachkräfte wie Heilpädagogen und Sozialpädagogen in den schulischen Alltag, so Matthias Heidn.

Und auch in Niedersachsen werden schon erste Mängel festgestellt. Der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Kai Seefried, meinte auf einer öffentlichen Anhörung am 21. November 2013: „Deutlich geworden ist vor allem, dass insbesondere die Grundschulen entgegen der Darstellung seitens der Landesregierung nicht ausreichend mit den für die erfolgreiche Umsetzung der Inklusion notwendigen Mitteln versorgt werden. Die betroffenen Lehrer und Schulleiter haben uns gegenüber glaubhaft versichert, dass sie weder die ihnen zustehende sonderpädagogische Grundversorgung von zwei Stunden pro Klasse noch die zusätzlichen Förderstunden bekommen. Das ist nicht hinnehmbar – hier muss die Landesregierung umgehend reagieren”, forderte Seefried. Vorgesehen sind in Niedersachsen, dass die Inklusionsklassen, die in der ersten und fünften Klasse aufsteigend eingeführt wurden, zwei sonderpädagogische Förderstunden in der Woche pro Klasse plus zusätzliche Förderstunden erhalten.

Erhalt der Förderschulen?
Vielen Inklusionsbefürwortern ist es ein Dorn im Auge, dass die meisten Bundesländer an dem Nebeneinander von Inklusions- und Förderschulen trotz des „Vorranges der gemeinsamen Beschulung“ festhalten. Zu viele Ressourcen würden dadurch gebunden und könnten den Regelschulen nicht zur Verfügung gestellt werden. Doch auch dort, wo sie abgeschafft werden sollen, wie zum Beispiel in Niedersachsen die Förderschule für Lernen und die Sprachheilschule, stößt das oft auf große Gegenwehr. So hat sich Kai Seefried ausdrücklich für den Erhalt der Förderschulen ausgesprochen. „Beim Thema Inklusion muss das Kindeswohl an erster Stelle stehen – niemand darf überfordert werden”, meint er. „Die Förderschulen und Sonderpädagogen verfügen über eine herausragende Expertise im Umgang mit Kindern mit besonderem Unterstützungsbedarf. Aus diesem Grund sind die Pluralität der Bildungswege und das damit verbundene Elternwahlrecht auch in Zukunft unverzichtbar.”

Es gibt zwar viele Eltern, die ihre Kinder mit Behinderung gerne auf einer Regelschule sähen, doch nicht alle Eltern wünschen sich das. Sie befürchten, dass ihre Kinder dort sang- und klanglos untergehen. Zwei Förderstunden pro Woche durch Sonderpädagogen seien viel zu wenig. Auch fürchten viele Lehrer, dass eine hohe Anzahl Kinder bei dieser unvollständig umgesetzten Inklusion mit ihren monetären und organisatorischen Schwächen auf der Strecke bleiben. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, beschrieb es in der FAZ am 12.4.2013 so: „Das deutsche Förderschulwesen ist einmalig. Deutschland hat im allgemeinbildenden und im beruflichen Sektor weltweit eines der funktionsfähigsten Systeme der Sonder- und Förderpädagogik. Warum es die hochdifferenzierten, höchst individuell fördernden und von hochprofessionellem Lehrpersonal geführten Förderschulen wegen der UN-Konvention zukünftig nicht mehr oder kaum noch geben soll, erschließt sich keiner nüchternen Betrachtung. Zu oft wird übersehen, dass die UN-Konvention keinerlei Passus enthält, mit dem die Beschulung in Förderschulen als Diskriminierung betrachtet würde. Im Gegenteil: Artikel 5 (4) der UN-Konvention spricht davon, dass „besondere Maßnahmen … zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen“ nicht als Diskriminierung gelten.“ Seiner Ansicht nach sei das Ziel jeder behindertenpädagogischen Maßnahme unumstritten: Es gehe um die berufliche und soziale Eingliederung dieser jungen Menschen. In vielen Einzelfällen aber könne Inklusion der falsche Weg dorthin sein.

Es fehlen Geld und gute Konzepte

Die Inklusion an Regelschulen ist in Gesetzgebung und Praxis schwierig. Immer noch fehlen grundlegende Konzepte, bauliche Maßnahmen, zusätzliches Personal und viel Geld. In der Studie „Zusätzliche Ausgaben für ein inklusives Schulsystem in Deutschland“ errechnete Prof. em. Dr. Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung für die Inklusion einen jährlichen zusätzlichen Finanzbedarf von 660 Millionen Euro allein für Personal. Bundesweit würden in den kommenden zehn Jahren 9.300 zusätzliche Lehrkräfte gebraucht, sofern jeder Förderschüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, soziale und emotionale Entwicklung und Sprache sowie die Hälfte aller anderen Förderschüler an Regelschulen unterrichtet werden sollen, so Klemm.

Doch es fehlen nicht nur Gelder für mehr Lehrer. Der Ausbau eines inklusiven Schulsystems stellt besonders die Lehrkräfte vor große Herausforderungen. Der Lehreraus- und -fortbildung kommt daher eine zentrale Rolle zu. Viele Lehrer fühlen sich auf die neuen Aufgaben nicht hinreichend vorbereitet. Dezidierte normierte bzw. veröffentlichte Regelungen hinsichtlich der erforderlichen Lehrerqualifikation für inklusiv beschulende Lehrkräfte an allgemeinen Schulen in freier Trägerschaft bestehen bislang in keinem der Bundesländer. Der Monitor Lehrerbildung zeigt, dass die Themen „Inklusion" und „Heterogenität" jeweils nur in etwa einem Fünftel der lehrerbildenden Hochschulen verpflichtende Studienschwerpunkte sind und als solche explizit im Zeugnis als Qualifikation ausgewiesen werden. Für den Bereich der Lehrerfortbildung haben Dr. Bettina Amrhein, Koordinatorin Inklusion am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln, und Benjamin Badstieber im Auftrag der Bertelsmann Stiftung mehr als 700 Fortbildungsveranstaltungen zum Thema „Inklusion" analysiert. Die Trendanalyse zeigt, dass es zwar eine Vielzahl solcher Fortbildungsangebote gibt, dass aber die analysierten Maßnahmen noch nicht hinreichend wirksam und nachhaltig sind. So handelt es sich bei 80 Prozent der Maßnahmen, zu denen entsprechende Angaben vorlagen, nur um Veranstaltungen von maximal einem Tag.

Inklusion ist eine nationale Herausforderung
Auf der ersten „Nationalen Konferenz Inklusion gestalten", die am 17. und 18. Juni 2013 in Berlin stattfand, formulierte es Stephan Dorgerloh, Kultusminister von Sachsen-Anhalt und derzeit Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), deshalb so: „Wir haben noch Einiges vor uns." Er betonte, dass man bisher nur von „Schritten", „Wegen" und „Prozessen" und nicht von fertigen Konzepten reden könne. Doch bestimmend fügte er hinzu: „Beim Thema Inklusion sind wir zum Erfolg verpflichtet."

Inklusion ist eine nationale Herausforderung für das deutsche Schulsystem insgesamt. Und für die Länder alleine eine nur schwer zu bewältigende Herausforderung. Immer öfter werden jetzt die Stimmen laut, die eine finanzielle Beteiligung des Bundes und das Aufheben des aus ihrer Sicht „unsinnigen Kooperationsverbots“, das den Bund daran hindert, Geld in Personal und Schulumbauten zu investieren, fordern.

 

Links zum Thema beim Deutschen Bildungsserver:

Inklusion

Inklusion in der Gesellschaft

Inklusion/Integrative Erziehung

Inklusion/Integrative Erziehung in der Kita

 

 

Autor(in): Petra Schraml
Kontakt zur Redaktion
Datum: 28.11.2013
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