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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 31.07.2008:

Mehr Freiheiten in Unterricht und Management

Das Schulentwicklungsprogramm „Selbstständige Schule“ endet zum 31. Juli 2008
Das Bild zum Artikel
Bildrechte: "Selbständige Schule NRW"

Das 2002 gestartete Modellprogramm „Selbstständige Schule“ des Landes Nordrhein-Westfalen endet nach sechs Jahren zum 31. Juli 2008 – und hat doch erst angefangen. Denn der Gedanke, dass Schulen eigenverantwortlich und selbstständig wirksamer handeln können, ist auch nach dem Regierungswechsel Nordrhein-Westfalen im neuen Schulgesetz des Landes vom Juni 2006 verankert worden. Auch die übrigen Schulen erhalten dadurch größere personelle, finanzielle und organisatorische Gestaltungsspielräume. Das vielleicht größte Schulentwicklungsprogramm Deutschlands seit den Strukturreformen der 70er Jahre, an dem zunächst 278 Schulen in 19 Regionen beteiligt waren und durch Korrespondenzschulen insgesamt 800 Schulen erreichte, hat die Schullandschaft schon jetzt verändert. Grund genug, ein Resümee zu ziehen.

Beginn eines Umdenkungsprozesses
Freiheit motiviert: Was auf dem freien Markt nach 1945 schnell zu einer Selbstverständlichkeit wurde, blieb in deutschen Schulen lange Zeit ein Fremdwort. Trotz 68er-Revolte, die mit ihrer antiautoritären Ausrichtung großen Einfluss auch auf die Pädagogik und Bildungspolitik ausübte, verharrte die deutsche Schule im Korsett übergeordneter Regelungswut. Noch bis in die neunziger Jahre hinein mussten sich die einzelnen Schulen gleich welcher Schulform so gut wie alles behördlich genehmigen, ja vorschreiben lassen: vom Bleistift im Sekretariat bis hin zur Einstellung neuer Lehrkräfte. Die eigenständige Auswahl geeigneter Pädagogen durch die Schulen selbst war damit praktisch ausgeschlossen. Das änderte sich erst, als die positiven Veränderungen in Schulen anderer europäischer und nichteuropäischer Länder in handfesten Ergebnissen mündeten. Mit dem – insofern heilsamen – Schock nach den schlechten Resultaten deutscher Schüler in der ersten PISA-Studie begann ein Umdenkungsprozess. Der Blick wurde internationalisiert und richtete sich zum Beispiel auf Länder wie Kanada, in denen Schulen schon länger relativ frei und eigenverantwortlich arbeiten können. Das Modellprogramm „Selbstständige Schule“ im bevölkerungsreichsten Bundesland griff dies auf. Das gemeinsame Projekt des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bertelsmann Stiftung hatte sich die Verbesserung der Qualität schulischer Arbeit und insbesondere des Unterrichts unter Berücksichtung regionaler Besonderheiten zum Ziel gesetzt. Erreicht werden sollte dies einerseits durch eine „qualitätsorientierte Selbststeuerung an den Schulen“ und andererseits durch „die Entwicklung regionaler Bildungslandschaften“. Aus der Pädagogensprache übersetzt, heißt dies schlichtweg: weg von der lehrerzentrierten Lehre hin zum Lernen im Schülerteam; weg von dem Gedanken, Schulen seien einsame Inseln, und hin zu regionalen Vernetzungen unter Einbeziehung aller Akteure, also von Schulträgern, Schulaufsicht und Schulen, Eltern, Lehrern und Schülern.

Im Team arbeiten: Paradigmenwechsel im Unterricht
Dass Kinder besser lernen, wenn sie sich die Unterrichtsstoffe unter pädagogischer Anleitung selbstständig gegenseitig beibringen, ist keine Erfindung des Modellprogramms „Selbstständige Schule“. Die eigentlich selbstverständliche Idee, dass im Zentrum von Schule eben Schüler stehen, ist zum regelrechten Bannerspruch jeder Referendariatsausbildung avanciert. Aber das Modellprogramm „Selbstständige Schule“, welches das Vorläuferprojekt „Schule & Co“ fortführte und ausbaute, hat diesen Aspekt erstmalig flächendeckend und systematisch ins Zentrum der Unterrichtsgestaltung von immerhin 800 Schulen gerückt.

„Teamorientiert bedeutet, dass die Lehrerinnen und Lehrer Abschied nehmen vom Einzelkämpferdasein. Die Förderung des Lernens aller Schülerinnen und Schüler erfordert eine gemeinsame und in einigen Teilen auch verbindlich abgestimmte Vorgehensweise“, heißt es auf der Homepage des Modellprogramms. Darunter ist auch eine bessere Abstimmung zwischen den einzelnen Fächern zu verstehen. Zeiten, in denen Mathematik im Unterricht eben nur rechnerische Probleme zum Thema machte und in denen der Deutschunterricht sich nur auf deutsche Werke beschränkte, sind im Schulalltag sicherlich nicht überall passé, aber pädagogisch obsolet. Themen und Fragen greifen interdisziplinär ineinander. Den Schulen wurde in diesem Zusammenhang die Möglichkeit eröffnet, von den allgemeinen Vorgaben der Schulaufsicht und des Lehrplans abzuweichen, etwa bei der Bildung von Lerngruppen, der zeitlichen und örtlichen Organisation des Unterrichts, der Stundentafel, den Methoden und Medien des Unterrichts, der Ausgestaltung der Leistungsbewertung und der Bescheinigung von Schülerleistungen.

Zur Selbstständigkeit von Schule gehört, dass die Schulleiter unter Mitwirkung des Lehrerrates neue Lehrkräfte eigenständig auswählen können. Und: autonomer ist eine Schule nur dann, wenn sie die von Landesseite bewilligten Sachmittelgelder für ihre eigenen Zwecke ohne ständigen Rechtfertigungsdruck einsetzen kann. Warum nicht eine Halbzeitkraft für Schulsozialarbeit einstellen, wenn diese benötigt wird? Oder die viel besuchte Theater-AG mit Mitteln ausstatten, die es den Schülerinnen und Schülern erlaubt, in einem Gemeindesaal statt in der Sporthalle zwischen Turngeräten zu proben? Für das Modellprojekt stellte das Land jährlich 1,5 Millionen Euro zur Verfügung, während die Bertelsmann Stiftung mit 500 000 Euro im Jahr die Arbeit der Projektleitung und die Unterhaltung der beiden Projektbüros unterstützte.

Bewerten und bewertet werden: Evaluation an Universität und Schule
Das Modellprogramm „Selbstständige Schule“ bekennt sich zum Grundsatz der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Das heißt: Eine wissenschaftliche empirische Begleitforschung wurde für das Schulentwicklungsprojekt von Beginn an mitgeplant. Das Schulministerium beauftragte die Universitäten Dortmund und Duisburg/Essen mit der Durchführung, wobei das Institut für Schulentwicklungsforschung sowie die Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung federführend sind. In Fragebögen wurden die Einstellungen von Schulleitern, Schülern und Lehrern dokumentiert, durch Leitungstests in der Primarstufe von 12 Schulen und in der Sekundarstufe I von 36 Haupt-, Real-, Gesamtschulen und Gymnasien konkrete Lernerfolge evaluiert.

Die wissenschaftliche Auswertung, die das Gesamtprojekt in den Blick nimmt, begleitete eine Evaluation an den Projektschulen selbst. Die Schulen konnten dadurch ihr Erkenntnisinteresse selbst formulieren und schulintern Befragungen durchführen. Darüber hinaus wurden auch die Urteile anderer Schulen, Betriebe und regionaler Kooperationspartner mit einbezogen. Ziel sei es, eine „schulinterne Evaluationskultur“ zu etablieren. Damit könnte sich, wenn die Auswertung tatsächlich ehrlich und transparent erfolgt, ein weiterer Paradigmenwechsel an deutschen Schulen abzeichnen – hatten sich manche Pädagogen bisher doch eher ungern über die Schulter schauen lassen. Unbegründet scheint dies jedenfalls, was das Modellprogramm „Selbstständige Schule“ betrifft. Zwar liegt der Abschlussbericht der Wissenschaftler noch nicht vor, aber die positiven Zwischenbilanzen ließen schnell optimistisch stimmen. Bereits 2004, also nach den ersten beiden Projektjahren, hatte Projektleiter Wilfried Lohre unterstrichen, dass in den beteiligten Schulen eine verbesserte Unterrichtskultur und ein effizienteres Management erreicht worden seien. Die „Reformdynamik“ des Programms habe „nicht nur die einzelnen Lehrkräfte, sondern die ganze Schule erfasst“. Der wissenschaftliche Zwischenbericht von 2006 zeigte dann erste konkrete Lernerfolge auf. So konnten im Vergleich der an PISA und IGLU orientierten Leistungstests von 2003 und 2005 fast alle der am Modellprogramm beteiligten Grundschulen im Leseverständnis und in Mathematik merkliche Fortschritte erzielen.

Das Land Nordhein-Westfalen hat mit dem Modellprogramm „Selbstständige Schule“ zweifellos die richtigen Wege beschritten, belegen doch internationale Untersuchungen, dass größtmögliche Freiheiten für Schulen teils enorme Verbesserungen im Unterrichts- und Schulklima bewirken können. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass nach dem Regierungswechsel in NRW dieses Programm fortgesetzt worden ist. Für Schulministerin Barbara Sommer (CDU) bildeten 2006 die „wissenschaftlich fundierten Ergebnisse eine Bestätigung für den Kurs der Landesregierung, schon ab dem nächsten Schuljahr – und damit deutlich früher als zunächst geplant – den Weg zu mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung für alle Schulen zu öffnen“. Andere Bundesländer haben inzwischen ganz ähnliche Konzepte zur größeren Eigenverantwortlichkeit von Schulen erprobt. Dennoch wird in manchen reformbedürftigen Bereichen am System selbst nicht gerüttelt. Strukturprobleme, die in internationalen Leistungsvergleichsstudien als wesentliche Motivations- und Leistungshemmer benannt wurden, etwa die Mechanismen der sozialen Selektion im deutschen Schulsystem, kennzeichnen weiterhin auch die Situation  in Nordrhein-Westfalen. Bleibt also zu hoffen, dass die angesprochene „Reformdynamik“ weitere Energien freisetzt.   

Autor(in): Arndt Kremer
Kontakt zur Redaktion
Datum: 31.07.2008
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