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Bildung + Innovation Das Online-Magazin zum Thema Innovation und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen

Erschienen am 18.09.2006:

"Wir brauchen alle Menschen..."

Der Kampf gegen den Analphabetismus
Das Bild zum Artikel
Buchstabensalat
Quelle: Photocase

Bildung PLUS: Jedes Jahr wird am 8. September der Welttag der Alphabetisierung begangen. Welche Themen standen in diesem Jahr besonders im Mittelpunkt?

Hubertus: Wir sind sehr froh darüber, dass der Bund weiterhin in der Alphabetisierungsarbeit einen Förderschwerpunkt sieht. Immerhin stehen dafür in den nächsten fünf Jahren 30 Millionen Euro zur Verfügung. Allerdings sollen diese für bundesweite Projekte genutzt werden. Sie sind also nicht für Kurse vor Ort gedacht. Für diese Kurse sind letztlich die Einrichtungen in den Kommunen zuständig, etwa die Volkshochschulen. Diese erhalten in manchen Bundesländern Landeszuschüsse, allerdings nicht überall. In NRW droht eine Kürzung dieser Zuschüsse. Hier ist das Kursangebot gefährdet.
Derzeit werden bundesweite Projekte vor allem vom Deutschen Volkshochschul-Verband und dem Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung durchgeführt. Dazu zählt das schon vor einigen Jahren entwickelte Lernportal "www.ich-will-schreiben-lernen.de" , das man auch als Leseunkundiger nutzen kann, um seine Lese- und Schreibkenntnisse zu verbessern. Vom Deutschen Volkshochschul-Verband wird dieses Portal im Projekt "Zweite Chance Online" weiter ausgebaut.

Bildung PLUS: Welche Ergebnisse konnten bis jetzt erreicht werden?

Hubertus: Uns ist es gelungen, das Thema Analphabetismus bekannt zu machen. Das beruht vor allem auf den Aktivitäten im Rahmen der Kampagne "Schreib dich nicht ab, lern lesen und schreiben" und wir haben verschiedene TV-Spots geschaltet. Dabei unterstützen uns unterschiedliche Personen und Firmen, ohne dass wir einen Cent bezahlen müssen. Das gilt für den Schauspieler, den Kameramann, die Produktionsgesellschaft, die Werbeagentur bis hin zu den Sendern. Alle tragen dazu bei, dass diese Kampagne nun schon seit vielen Jahren immer wieder neue Akzente setzen kann. Diese Kampagne weist auch auf das ALFA-TELEFON hin, unseren telefonischen Beratungsservice (0251/53 33 44). Die Betroffenen oder ihre Vertrauenspersonen können sich dorthin wenden und Beratung und Informationen über ortsnahe Weiterbildungseinrichtungen erhalten. Mit dieser Kampagne ist es uns auch gelungen, Vorurteile abzubauen.
Allerdings haben wir noch nicht erreicht, dass jeder Lerninteressierte in jedem Bundesland in erreichbarer Nähe ein preiswertes und qualitativ gutes Angebot an Lese- und Schreibkursen findet.
Es gibt Bundesländer, in denen 20 Mal mehr Alphabetisierungskurse angeboten werden als in anderen. Das hängt damit zusammen, dass die Förderung der Alphabetisierung in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt ist. Dort, wo es eine unzureichende Förderung gibt, sind die Kurse so teuer, dass man sich diese nicht unbedingt leisten kann.
Angesichts der großen Anzahl funktionaler Analphabeten sind die 20.000 Erwachsenen, die derzeit in ganz Deutschland Kurse besuchen, einfach zu wenig.

Bildung PLUS: Wie erfolgreich sind die Lese- und Schreibkurse?

Hubertus: Das hängt davon ab, wie viel Unterricht stattfindet, wie alt jemand ist und mit welchen Kenntnissen er oder sie startet. Der normale Lese- und Schreibkurs für Berufstätige findet in der Woche zweimal für zwei Stunden statt. Wer sich dort einbringt, wird sicherlich innerhalb des ersten halben Jahres deutliche Fortschritte verspüren. Aber er ist noch lange nicht fertig. Wer die Buchstaben kennt, aber nicht lesen kann, der wird vielleicht nach einem halben Jahr lesen können. Wer lesen kann, aber mit dem Schreiben massive Probleme hat, der wird manche Wörter sicher schreiben können und eine Vorstellung haben, worauf man achten muss, wenn man Wörter schreibt. Es ist also immer ein relativer Fortschritt. Jeder Erwachsene, der diese Kurse besucht, wird nach einem halben Jahr feststellen, dass er schon eine ganze Menge gelernt hat. Aber der Horizont verschiebt sich, man kann weiter nach vorn blicken, welche Dinge man auch noch gern lernen möchte oder lernen könnte.

Bildung PLUS: Die Bundesbildungsministerin Annette Schavan hat 30 Millionen Euro Fördermittel angekündigt, um die Zahl der funktionalen Analphabeten in den nächsten fünf Jahren zu halbieren. Ist das eine realistische Zielsetzung?

Hubertus: Es ist wichtig, dass man sich Ziele setzt und versucht, diesen Zielen möglichst nahe zu kommen. Aber wenn wir von vier Millionen Betroffenen ausgehen, dann heißt das, zwei Millionen in dieser Zeit zu alphabetisieren. Wenn wir im Moment nur 20.000 Lernende im Jahr haben, dann müsste das Angebot vor Ort gewaltig ausgebaut werden. Dafür sind letztlich die Bundesländer zuständig, bzw. auch die Kommunen als Träger für die Volkshochschulen. Deshalb sollte man das eher als Aufforderung betrachten, dass sich alle Verantwortlichen, vom Bund über die Länder und die Kommunen, aber auch die Bundesagentur für Arbeit, die inzwischen ebenfalls Hilfsangebote finanziert, oder die Wirtschaft, die nicht ausbildungsfähige Jugendliche beklagt, an einen Tisch setzen, um zu klären, welchen Anteil die einzelnen Beteiligten leisten müssen, um dieses anspruchsvolle Ziel zu erreichen.

Bildung PLUS: Dieses Ziel geht ja konform mit den Zielen der UN-Weltdekade zur Alphabetisierung, die Zahl der Analphabeten bei Erwachsenen im Zeitraum von 2003 bis 2012 um die Hälfte zu reduzieren. Wie ist der gegenwärtige Stand?

Hubertus: Weltweit geht die absolute Zahl der Analphabeten zurück, wobei in den so genannten Entwicklungsländern vor allem der primäre Analphabetismus ein Problem ist. Es ist zurzeit nicht gewährleistet, dass alle Kinder lesen und schreiben lernen, dass alle Kinder zur Schule gehen; besonders Mädchen sind ganz stark benachteiligt. In diesen Ländern geht es vor allem um die Einrichtung von Schulen und der Schaffung von Möglichkeiten, diese kostenlos zu besuchen, um dem Analphabetismus schrittweise Herr zu werden.
In den Industriestaaten haben wir nicht nur das Problem, dass wir diese Bevölkerungsgruppe der funktionalen Analphabeten qualifizieren müssen, sondern wir haben in unserer Gesellschaft nicht genügend Arbeitsplätze für gering qualifizierte Menschen. Deshalb muss man diese Problematik grundsätzlicher betrachten. Ich meine, unabhängig von konkreten Arbeitsmöglichkeiten sollte es ein Recht auf Lesen und Schreiben für jeden Erwachsenen geben und nicht nur unter dem Gesichtspunkt, dass jemand Lesen und Schreiben erlernen muss, um dem Arbeitsmarkt besser zur Verfügung zu stehen. Die Zukunft wird bei dem demografischen Wandel, den wir in den nächsten Jahren erleben werden, zeigen, dass wir alle Menschen brauchen, um unseren Lebensstandard zu halten. Mittelfristig muss es auch aus wirtschaftlichen Gründen als Aufgabe gesehen werden, diese Menschen im Bereich der Grundbildung zu qualifizieren.

Bildung PLUS: Was verbirgt sich hinter dem Projekt F.A.N.?

Hubertus: Dieses Projekt des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung heißt ausgeschrieben "Fußball. Alphabetisierung. Netzwerk." und wird ebenfalls vom BMBF gefördert  Es steht im Zusammenhang mit einer Fernsehserie bei BR-alpha, dem Bayerischen Bildungsfernsehen. Diese Serie, die in verschiedenen dritten Programmen ausgestrahlt wird, zeigt, wie Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben, - ohne dass sie das voneinander wissen - sich in einem Fußballstadion begegnen. Es handelt sich um die Würstchenverkäuferin, einen Fan und um einen Profifußballer, der aus Brasilien kommt. Diese Personen geraten in eine brenzlige Situation: Sie müssten eigentlich etwas lesen und schreiben und merken, dass sie es nicht können. Das führt zu einer Wende in ihrem Leben. Sie stehen vor der Entscheidung, lesen und schreiben zu lernen. Für diese Fernsehserie hat unser Projekt F.A.N. Begleitmaterial entwickelt. Das sind leicht lesbare Texte, die genau wie der Film in Lese- und Schreibkursen eingesetzt werden können. Darüber hinaus wird es auch Texte geben, die Sachinformationen vermitteln. Diese entwickeln wir gerade.
Was für die Öffentlichkeit besonders sichtbar ist, sind die Aktivitäten direkt in den Fußballstadien. Es gibt Kooperationen mit vielen Bundesligavereinen, aber auch der Regionalliga. Mitarbeiter des Projektes sind in den Stadien, informieren über das Problem mangelnder Grundbildung. Prominente Fußballer wie Oliver Bierhoff unterstützen das Vorhaben. Einen, der sich besonders aus dem Fußballbereich für die Alphabetisierung engagiert, Frank Rost, Torhüter bei Schalke 04, haben wir am 7. September als Botschafter für Alphabetisierung ausgezeichnet.

Bildung PLUS: Das Projekt ALFA-MOBIL ist gerade angelaufen. Was soll damit erreicht werden?

Hubertus: Das "ALFA-MOBIL: Wir fahren für die Weltalphabetisierungsdekade" gehört ebenfalls zu den vom BMBF geförderten Projekten des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung. Das ALFA-MOBIL ist ein Fahrzeug, mit dem mehrere Projektmitarbeiter in den Einrichtungen vor Ort in ganz Deutschland öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen durchführen, besonders in den Regionen, in denen es relativ wenige Lese- und Schreibkurse gibt. Dort werden die TV-Spots und das Portal "Ich will schreiben lernen" präsentiert und Informationen zu den Kursen gegeben.
Gegenwärtig setzen wir mit dem ALFA-MOBIL einen neuen Schwerpunkt im Bereich der Musik. Wir haben dafür eine Nachwuchskünstlerin gewonnen. Anna Yina ist Protagonistin in dem neuen Spot, der unlängst Premiere hatte und demnächst bei den Fernsehsendern zu sehen sein wird.

Bildung PLUS: Ende Oktober findet erneut eine Fachtagung statt. Welches Thema wird in diesem Jahr im Mittelpunkt stehen?

Hubertus: Bei den Fachtagungen des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung - ebenfalls vom BMBF gefördert - nehmen wir zusätzlich zur Problematik der Alphabetisierung einen anderen Bereich hinzu. In den vergangenen Jahren ging es um Alphabetisierung und Medien oder Analphabetismus und Wirtschaft. Dieses Jahr heißt die Kombination Alphabetisierung und Wissenschaft. Es wird u.a. darum gehen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse für den Schriftsprachenerwerb sowie zielgruppenbezogen genutzt werden können, so dass jemand, der keine komplizierten Texte versteht, die Welt verstehen kann. Wir möchten gern von Wissenschaftlern erfahren, wie man Menschen mit Lese- und Schreibproblemen alltagsrelevantes Wissen vermittelt und zugleich Sachtexte für diese Zielgruppe entwickelt. Oder: Welche Erkenntnisse kann die Wissenschaft gewinnen über die Größenordnung des funktionalen Analphabetismus? Wie sollten universitäre Ausbildungsgänge für Alphabetisierungs-Pädagogen konzipiert werden?

Bildung PLUS: Analphabetismus ist meist mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und mangelnden Berufschancen verbunden. Wie sollte die Gesellschaft damit umgehen?

Hubertus: Meistens ist es so, dass Menschen mit Lese- und Schreibproblemen dies geheim halten und nicht offen damit umgehen. Das führt dazu, dass sie die Hilfsangebote nicht wahrnehmen. Ganz wichtig ist, dass wir als nicht Betroffene ihnen nicht gleich mangelnde Intelligenz unterstellen. Es kann ganz vielfältige Gründe haben, dass sie mit der Schrift auf Kriegsfuß stehen. Wir sollten niemanden an seinen schriftlichen Kenntnissen oder Defiziten be- oder verurteilen. Wir sollten wissen, dass es viele Menschen in Deutschland mit diesen Problemen gibt. Es sind aber Hilfsmöglichkeiten vorhanden und wir sollten die Betreffenden ermutigen, solche Hilfen anzunehmen, vielleicht auch selber nachzufragen, wo in der Nähe Hilfsangebote bestehen. Der erste Schritt ist natürlich der schwerste. Wenn man erst einmal in einem solchen Kurs gelandet ist, dann fällt die Angst größtenteils schon ab. Nicht nur Lesen und Schreiben gelingen besser, sondern das Selbstbewusstsein wächst und das ist natürlich ganz wichtig, weil Menschen auf diese Weise gestärkt werden können.


Peter Hubertus ist Gründungsmitglied und Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. Er steht für Medienanfragen zur Verfügung und ist Ansprechpartner am ALFA-TELEFON. Seine reichhaltigen Erfahrungen als Kursleiter in der Alphabetisierung gibt er in Aus- und Fortbildungsveranstaltungen weiter. Peter Hubertus wurde 2003 für sein lebenslanges Engagement in der Alphabetisierung mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Autor(in): Ursula Münch
Kontakt zur Redaktion
Datum: 18.09.2006
© Innovationsportal

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